"Mord verjährt nicht"
Der Historiker Norbert Frei hat die Bedeutung der Prozesse gegen die letzten lebenden NS-Täter unterstrichen. Die Deutschen seien dies den Überlebenden, den Opfern und deren Nachkommen schuldig.
Ute Welty: John Demjanjuk, tausendfach soll sich der Mann im Vernichtungslager Sobibor wegen Beihilfe zum Mord schuldig gemacht haben. Jahrelang wurde um seine Auslieferung gerungen und am Ende verstirbt er im März mit 91, bevor das Urteil des Landgerichts München rechtskräftig wird. Die Zeit spielt also nicht für die Ermittler, die weltweit nach den letzten noch lebenden Tätern aus der Zeit des Nationalsozialismus suchen.
Beitrag in Ortszeit, Deutschlandradio Kultur (MP3-Audio)
Maximilian Kuball berichtet von zwei aktuellen Fällen.
Inwieweit solche Ermittlungen noch sinnvoll sind, das bespreche ich jetzt mit Norbert Frei, Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Guten Morgen!
Norbert Frei: Guten Morgen, Frau Welty!
Welty: Die Zeit spielt ja gegen die Justiz und gegen die Gerechtigkeit. Wäre das nicht der Moment, um Gnade vor Recht ergehen zu lassen?
Frei: Nein, das kann eben das Rechtssystem nicht. Wenn ein begründeter Anfangsverdacht vorliegt, dann muss ermittelt werden. Mord verjährt nicht.
Welty: Aber wenn man sich die Genese im Fall Demjanjuk noch einmal vor Augen führt, dann hinterlässt das ja alle Seiten einigermaßen unbefriedigt. Ein langer Prozess, unendlich viel Aufwand, der auch Steuergeld kostet, und dann stirbt der Angeklagte mit 91 Jahren, ohne dass das Urteil rechtskräftig wird. Warum lohnt der Aufwand Ihrer Meinung nach trotzdem?
Frei: Also wenn Sie einmal in diesem Prozess gewesen wären – ich war zugegen – und gesehen hätten, wie wichtig dieser Prozess vor allem inzwischen für die Nachkommen, nicht mehr für die Überlebenden, sondern für die Nachkommen der Überlebenden gewesen ist, die in diesem Prozess als Zuschauer zum Teil, auch als Zeugen ausgesagt haben, dann, glaube ich, träten solche Gesichtspunkte wie Kosten, die damit verbunden sind, ganz in den Hintergrund. Das ist eine Sache, die, ich glaube, die Deutschen den Überlebenden und den Opfern und ihren Nachkommen schuldig sind. Das sind sie aber auch sich selbst schuldig, gerade vor dem Hintergrund einer nicht immer, um es gelinde zu sagen, glanzvollen Ahndungsgeschichte, was die NS-Verbrechen angeht.
Welty: Genaue Zahlen aus 2009 sagen ja, mehr als 100.000 Verfahren, aber nur etwa 6500 Verurteilungen – das sieht, wie Sie es schon gerade angedeutet haben, nicht gerade nach einer Erfolgsquote aus.
Frei: Also, diese Zahl sagt, glaube ich, in der Tat relativ wenig. Da entsteht dann so eine merkwürdige Situation: "Das ist alles sehr ineffektiv". Aber das Gegenteil ist richtig. Gerade die anhaltende, die jahrzehntelange Beschäftigung mit diesem Thema hat ja ihrerseits auch politische und gesellschaftliche Wirkung erzeugt. Und es kommt nicht immer nur auf das Ergebnis eines Prozesses an, sondern es kommt eben auch darauf an, dass Prozesse geführt werden.
Wenn Sie daran denken, der Auschwitz-Prozess, der damals dann stattgefunden hat in Frankfurt am Main, '63 bis '65, der war wirklich auch für die Bewusstmachung und die Bewusstwerdung dessen, was da eigentlich der Fall gewesen ist im nationalsozialistischen Krieg und sozusagen in dem Kernverbrechen Holocaust. Wenn Sie sehen, welche Bedeutung also ein solcher Prozess hatte oder dann auch später der Majdanek-Prozess, dann kann man nicht nur auf das konkrete Ergebnis in Form von Urteil sehen, sondern muss das in seiner gesamtpolitischen Bedeutung betrachten.
Welty: Sie würden also nicht sagen, dass man sich in Deutschland besonders schwer tut, verglichen mit Polen oder Russland?
Frei: Was heißt, man tut sich besonders schwer? Ich finde, dass das, was gerade auch die Rechtsprechung jetzt korrigierend in den letzten, sagen wir, zehn Jahren ermöglicht hat, einen wirklichen Fortschritt. Wenn Sie etwa daran denken, dass sich die Vorgänger der heutigen Richter auf den Standpunkt gestellt haben, dass die Tat als eine eigene gewollt gewesen sein muss und dies eben nachgewiesen werden muss, und alle diejenigen, denen man es nicht nachweisen kann, einen konkreten Tatwillen, dass die im Zweifelsfalle freigekommen sind – dagegen ist das, was im Falle Demjanjuk dann zur Verurteilung geführt hat, wenn auch das Urteil nicht mehr rechtskräftig werden konnte, dann ist das eine erhebliche Korrektur auch in der Geschichte der Rechtsprechung. Also insofern sehe ich darin nun gerade keinen Makel, sondern im Gegenteil der Versuch, mit früheren Mängeln zurande zu kommen.
Welty: Auf welche Schwierigkeiten stoßen die Ermittler in der Vorbereitung solcher Prozesse?
Frei: Ja, je länger die zurückliegen, umso mehr natürlich erst mal auch auf die Schwierigkeit, die Leute überhaupt noch ausfindig zu machen. Es sind ja auch vielfach jetzt eher ganz schwach dokumentierte Verbrechenskomplexe, um die es geht. Und da ist die schriftliche Hinterlassenschaft eben sehr, sehr schwierig überhaupt noch ausfindig zu machen. Dann, es geht eben in der Regel heutzutage um vergleichsweise kleine Einzeltäter. Also Täter, die Teil einer Gruppe gewesen sind. Auch hier dann jemanden ausfindig zu machen, ist schwierig. Und dann natürlich für die Gerichte selbst das extrem hohe Alter, in dem die wenigen überlebenden Täter jetzt sind. Selbst die jüngsten Täter sind ja heute gegen Ende 80 oder in ihren 90-ern.
Welty: Ist mit diesen Prozessen nicht auch ein Risiko verbunden? Nämlich das Risiko, die Verbrechen der NS-Zeit abzutun als die Verbrechen Einzelner, und das Risiko, die Systematik aus dem Auge zu verlieren und auch den gesellschaftlichen Anteil daran?
Frei: Nein, ich sehe es gerade umgekehrt. Die Tatsache, dass wir jetzt eben auch auf einzelne Soldaten der Waffen-SS, auf einzelne Hilfsfreiwillige aus den kollaborierenden Ländern schauen, zeigt eben, wie viele Hunderttausende an diesem Gesamtverbrechen, das wir heute Holocaust nennen, beteiligt gewesen sind, und dass es eben gerade nicht, wie man vielleicht noch nach dem Nürnberger Hauptprozess 1945/46 glauben konnte als Deutscher, der sich selbst entlasten wollte, dass es gerade nicht die Hitler, Himmler und Heydrich allein gewesen sind, die für diese Taten verantwortlich sind.
Welty: Was erwarten Sie, was die noch ausstehenden Fälle angeht? Und wie wird sich die Situation verändern, wenn die Täter tatsächlich alle gestorben sind?
Frei: Nun, dann wird es keine Verfahrensanstrengungen, keine Ermittlungsanstrengungen mehr geben, und ich erwarte auch in einem juristischen Sinne nicht mehr viel von den noch ausstehenden oder anstehenden Ermittlungen. Aber sie müssen, solange sie möglich sind, weitergeführt werden, das ist der Rechtsstaat sich schuldig angesichts der modifizierten oder weitergeführten Lehre, die eben die Mitwirkung anders ahndet, als das lange Zeit der Fall gewesen ist.
Welty: Die Verfolgung von NS-Tätern lohnt auch 67 Jahre nach Kriegsende, sagt der Historiker Norbert Frei. Und ich sage dankeschön für dieses Interview hier in der Ortszeit.
Frei: Gerne.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Inwieweit solche Ermittlungen noch sinnvoll sind, das bespreche ich jetzt mit Norbert Frei, Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Guten Morgen!
Norbert Frei: Guten Morgen, Frau Welty!
Welty: Die Zeit spielt ja gegen die Justiz und gegen die Gerechtigkeit. Wäre das nicht der Moment, um Gnade vor Recht ergehen zu lassen?
Frei: Nein, das kann eben das Rechtssystem nicht. Wenn ein begründeter Anfangsverdacht vorliegt, dann muss ermittelt werden. Mord verjährt nicht.
Welty: Aber wenn man sich die Genese im Fall Demjanjuk noch einmal vor Augen führt, dann hinterlässt das ja alle Seiten einigermaßen unbefriedigt. Ein langer Prozess, unendlich viel Aufwand, der auch Steuergeld kostet, und dann stirbt der Angeklagte mit 91 Jahren, ohne dass das Urteil rechtskräftig wird. Warum lohnt der Aufwand Ihrer Meinung nach trotzdem?
Frei: Also wenn Sie einmal in diesem Prozess gewesen wären – ich war zugegen – und gesehen hätten, wie wichtig dieser Prozess vor allem inzwischen für die Nachkommen, nicht mehr für die Überlebenden, sondern für die Nachkommen der Überlebenden gewesen ist, die in diesem Prozess als Zuschauer zum Teil, auch als Zeugen ausgesagt haben, dann, glaube ich, träten solche Gesichtspunkte wie Kosten, die damit verbunden sind, ganz in den Hintergrund. Das ist eine Sache, die, ich glaube, die Deutschen den Überlebenden und den Opfern und ihren Nachkommen schuldig sind. Das sind sie aber auch sich selbst schuldig, gerade vor dem Hintergrund einer nicht immer, um es gelinde zu sagen, glanzvollen Ahndungsgeschichte, was die NS-Verbrechen angeht.
Welty: Genaue Zahlen aus 2009 sagen ja, mehr als 100.000 Verfahren, aber nur etwa 6500 Verurteilungen – das sieht, wie Sie es schon gerade angedeutet haben, nicht gerade nach einer Erfolgsquote aus.
Frei: Also, diese Zahl sagt, glaube ich, in der Tat relativ wenig. Da entsteht dann so eine merkwürdige Situation: "Das ist alles sehr ineffektiv". Aber das Gegenteil ist richtig. Gerade die anhaltende, die jahrzehntelange Beschäftigung mit diesem Thema hat ja ihrerseits auch politische und gesellschaftliche Wirkung erzeugt. Und es kommt nicht immer nur auf das Ergebnis eines Prozesses an, sondern es kommt eben auch darauf an, dass Prozesse geführt werden.
Wenn Sie daran denken, der Auschwitz-Prozess, der damals dann stattgefunden hat in Frankfurt am Main, '63 bis '65, der war wirklich auch für die Bewusstmachung und die Bewusstwerdung dessen, was da eigentlich der Fall gewesen ist im nationalsozialistischen Krieg und sozusagen in dem Kernverbrechen Holocaust. Wenn Sie sehen, welche Bedeutung also ein solcher Prozess hatte oder dann auch später der Majdanek-Prozess, dann kann man nicht nur auf das konkrete Ergebnis in Form von Urteil sehen, sondern muss das in seiner gesamtpolitischen Bedeutung betrachten.
Welty: Sie würden also nicht sagen, dass man sich in Deutschland besonders schwer tut, verglichen mit Polen oder Russland?
Frei: Was heißt, man tut sich besonders schwer? Ich finde, dass das, was gerade auch die Rechtsprechung jetzt korrigierend in den letzten, sagen wir, zehn Jahren ermöglicht hat, einen wirklichen Fortschritt. Wenn Sie etwa daran denken, dass sich die Vorgänger der heutigen Richter auf den Standpunkt gestellt haben, dass die Tat als eine eigene gewollt gewesen sein muss und dies eben nachgewiesen werden muss, und alle diejenigen, denen man es nicht nachweisen kann, einen konkreten Tatwillen, dass die im Zweifelsfalle freigekommen sind – dagegen ist das, was im Falle Demjanjuk dann zur Verurteilung geführt hat, wenn auch das Urteil nicht mehr rechtskräftig werden konnte, dann ist das eine erhebliche Korrektur auch in der Geschichte der Rechtsprechung. Also insofern sehe ich darin nun gerade keinen Makel, sondern im Gegenteil der Versuch, mit früheren Mängeln zurande zu kommen.
Welty: Auf welche Schwierigkeiten stoßen die Ermittler in der Vorbereitung solcher Prozesse?
Frei: Ja, je länger die zurückliegen, umso mehr natürlich erst mal auch auf die Schwierigkeit, die Leute überhaupt noch ausfindig zu machen. Es sind ja auch vielfach jetzt eher ganz schwach dokumentierte Verbrechenskomplexe, um die es geht. Und da ist die schriftliche Hinterlassenschaft eben sehr, sehr schwierig überhaupt noch ausfindig zu machen. Dann, es geht eben in der Regel heutzutage um vergleichsweise kleine Einzeltäter. Also Täter, die Teil einer Gruppe gewesen sind. Auch hier dann jemanden ausfindig zu machen, ist schwierig. Und dann natürlich für die Gerichte selbst das extrem hohe Alter, in dem die wenigen überlebenden Täter jetzt sind. Selbst die jüngsten Täter sind ja heute gegen Ende 80 oder in ihren 90-ern.
Welty: Ist mit diesen Prozessen nicht auch ein Risiko verbunden? Nämlich das Risiko, die Verbrechen der NS-Zeit abzutun als die Verbrechen Einzelner, und das Risiko, die Systematik aus dem Auge zu verlieren und auch den gesellschaftlichen Anteil daran?
Frei: Nein, ich sehe es gerade umgekehrt. Die Tatsache, dass wir jetzt eben auch auf einzelne Soldaten der Waffen-SS, auf einzelne Hilfsfreiwillige aus den kollaborierenden Ländern schauen, zeigt eben, wie viele Hunderttausende an diesem Gesamtverbrechen, das wir heute Holocaust nennen, beteiligt gewesen sind, und dass es eben gerade nicht, wie man vielleicht noch nach dem Nürnberger Hauptprozess 1945/46 glauben konnte als Deutscher, der sich selbst entlasten wollte, dass es gerade nicht die Hitler, Himmler und Heydrich allein gewesen sind, die für diese Taten verantwortlich sind.
Welty: Was erwarten Sie, was die noch ausstehenden Fälle angeht? Und wie wird sich die Situation verändern, wenn die Täter tatsächlich alle gestorben sind?
Frei: Nun, dann wird es keine Verfahrensanstrengungen, keine Ermittlungsanstrengungen mehr geben, und ich erwarte auch in einem juristischen Sinne nicht mehr viel von den noch ausstehenden oder anstehenden Ermittlungen. Aber sie müssen, solange sie möglich sind, weitergeführt werden, das ist der Rechtsstaat sich schuldig angesichts der modifizierten oder weitergeführten Lehre, die eben die Mitwirkung anders ahndet, als das lange Zeit der Fall gewesen ist.
Welty: Die Verfolgung von NS-Tätern lohnt auch 67 Jahre nach Kriegsende, sagt der Historiker Norbert Frei. Und ich sage dankeschön für dieses Interview hier in der Ortszeit.
Frei: Gerne.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.