Mordfall als Katalysator
In dem Roman "Du fehlst" geht es um einen brutalen Mord. Ein Drogensüchtiger metzelte die Witwe Gwen Eaton nieder, die als "unheilbare Optimistin" galt. Sie hatte sich nicht nur in der Kirchengemeinde engagiert, sondern auch um die Resozialisierung von Straftätern bemüht. Einem der Männer, die sie gelegentlich für Gartenarbeiten engagierte, fiel sie selbst zum Opfer.
Der Tod ist ein regelmäßiger Gast im Werk von Joyce Carol Oates. Geradezu obsessiv schildert diese Schriftstellerin den Einbruch von Gewalt in amerikanische Idyllen. Anders als ihr Vorbild Sylvia Plath hat sie jedoch kein romantisch verklärendes Verhältnis zum Tod. Die Elemente des Schauerromans sind in ihren Werken mit Kälte inszeniert; wohl manchmal effektheischend und aufs Sensationelle erpicht, aber in der Regel nicht sentimental.
Auch in "Du fehlst" steht ein brutaler Mord im Zentrum. Gwen Eaton, eine Witwe von Ende Fünfzig, die wir im Eingangskapitel - programmatisch auf Normalität und Durchschnittsleben getrimmt – als emsigen Mittelpunkt einer Muttertagsparty kennenlernen, wird in ihrer Garage mit Dutzenden von Messerstichen von einem Drogensüchtigen gemetzelt. Als "unheilbare Optimistin" und Menschenfreundin hatte Gwen sich nicht nur in der Kirchengemeinde engagiert, sondern auch um die Resozialisierung von Straftätern bemüht. Einem der Männer, die sie gelegentlich für Gartenarbeiten engagierte, ist sie zum Opfer gefallen.
"Du fehlst", erzählt aus der Perspektive der Tochter Nikki, ist ein Anti-Krimi. Während sich der Kriminalroman üblicherweise auf die polizeiliche Ermittlung und den Täter konzentriert, interessiert sich Oates für die Emotionen, die durch ein Verbrechen freigesetzt werden. Also widmet sie sich den Angehörigen des Opfers, deren Welt völlig aus den Fugen gerät. Aus polizeilicher Sicht dagegen ist der Fall schon nach 20 Stunden abgeschlossen – das lakonische Kapitel, in dem der Tathergang und die dilettantische Flucht des Mörders rekonstruiert werden, gehört schon aufgrund der knappen, trockenen Darstellung zu den besten Partien des Romans.
Der Mordfall ist kein erzählerischer Selbstzweck, sondern wirkt als Katalysator. Das Innenleben einer kleinbürgerlichen Familie wird im Lauf von Nikkis Trauerjahr in allen Einzelheiten aufgeblättert. Mit der älteren Schwester Clare macht sie sich daran, die Hinterlassenschaft der Mutter zu bewältigen sowie deren Haus zu räumen und zu verkaufen. In alten Dokumenten und Erinnerungsstücken wird gestöbert. Was dabei zum Vorschein kommt, etwa die Jugendliebe der Mutter zu einem Mann, der dann doch der katholischen Theologie und dem Zölibat den Vorzug gab, ähnelt jedoch zu sehr den konventionellen melodramatischen Ingredienzen eines Fernsehfilms. Das gilt erst recht für die Beziehungsprobleme der beiden Schwestern, die breit erörtert werden.
Clare, die im Kontrast zur Journalistin Nikki zunächst als gesettelte Muster-Mutter mit zwei Kindern und erfolgreichem Ehemann erscheint, setzt gegenüber diesem schließlich eine "Trennung auf Probe" durch. Nikki dagegen, deren Verhältnis zum verheirateten Radio-Macher Wally Zsalla auf den ersten Seiten noch den Unwillen der Mutter erregt, darf zum guten Ende des Romans Flitterwochen erleben: Detective Strabane, dem die rasche Aufklärung des Mordfalls zu verdanken war, hat sich in ihr Herz geschlichen; längst hat der Leser geahnt, dass Nikkis anfängliche Reserviertheit gegenüber dem fürsorglichen Ermittler nicht von Dauer sein würde.
Mit gewohnter Detailfreude schildert Oates amerikanische Mittelklassenverhältnisse, von der Pflege der Vorgärten über die Kochrezepte bis zu den Ehemiseren und Geschlechterkriegen – aber das meiste kommt einem so bekannt und geläufig vor, dass man bisweilen den Eindruck hat, der Roman sei von einem auf amerikanische Gesellschaftsromane programmierten Schreibcomputer verfasst worden. Anders als noch der letzte auf Deutsch erschienene Oates-Roman "Niagara", der außerordentlich starke Passagen besaß und mit einer irritierenden, kantigen Heldin aufwarten konnte, erweist sich "Du fehlst" als allzu glatte Lektüre – ein dahingeplauderter Seitenfüller.
Die Frauen-Porträts sind das Gelungenste an diesem Buch. Allen voran Nikki, die im Stil des späten Mädchens und im fortgesetzten Widerstand gegen die spießige Mutter-Welt noch mit Anfang Dreißig ihre Punk-Frisur pflegt, dann aber über der Beschäftigung mit der Ermordeten deren bewundernswerte Seiten entdeckt und in manchem – etwa im sozialen Engagement – gleichsam zu ihrer Nachfolgerin wird.
Dass sie schon in Mädchenjahren der Schreibsucht verfiel, hat Joyce Carol Oates, die vor wenigen Wochen ihren siebzigsten Geburtstag feiern konnte, gelegentlich auf eine initiatorische Lektüre von "Alice im Wunderland" zurückgeführt. Ihre besten Romane fügen sich zu einem Wunderland der bösen Überraschungen, das vor allem durch die einfühlsame Darstellung gebrochener Gefühlswelten überzeugt. Zu ihren wichtigen Einflüssen zählt Oates William Faulkner, Henry James und Bob Dylan. Aber es sind nicht nur solche honorigen Hoch- oder Popkulturheroen, von denen ihre Produktion Kraft bezieht. Die menschlichen Alltagsdramen, die in der Boulevardpresse zu Schlagzeilen werden, dürften ebenfalls eine entscheidende Rolle spielen.
Anders als John Updike und Philip Roth, mit denen sie den sozialen Scharfsinn und den langjährigen Nobelpreiskandidatenstatus gemeinsam hat, scheute sich die unermüdliche Chronistin der amerikanischen Verhältnisse nicht, dem Unterhaltungsroman Tribut zu entrichten. Auf geschliffene Prosakunst hat sie es nicht abgesehen. Ihre Sätze sind dazu da, ausgiebige Portionen Leben aufzutischen und die Handlung voranzutreiben; da ist die nächstbeste Formulierung meist gut genug. Aber man muss schon über enorme unterirdische Epikvorkommen verfügen, um sich diese bravouröse Leichtfertigkeit erlauben zu können. In den nächsten Jahren werden Romane von Joyce Carol Oates die deutschen Leser erreichen, die wieder besser sind als "Du fehlst". Etwa "The Gravediggers Daughter" aus dem Jahr 2007, ein Achthundertseiter, der in den Vereinigten Staaten vorzügliche Kritiken erhalten hat.
Rezensiert von Wolfgang Schneider
Joyce Carol Oates: Du fehlst
Roman. Aus dem Amerikanischen von Silvia Morawetz. S. Fischer,
490 Seiten, 22,90 Euro
Auch in "Du fehlst" steht ein brutaler Mord im Zentrum. Gwen Eaton, eine Witwe von Ende Fünfzig, die wir im Eingangskapitel - programmatisch auf Normalität und Durchschnittsleben getrimmt – als emsigen Mittelpunkt einer Muttertagsparty kennenlernen, wird in ihrer Garage mit Dutzenden von Messerstichen von einem Drogensüchtigen gemetzelt. Als "unheilbare Optimistin" und Menschenfreundin hatte Gwen sich nicht nur in der Kirchengemeinde engagiert, sondern auch um die Resozialisierung von Straftätern bemüht. Einem der Männer, die sie gelegentlich für Gartenarbeiten engagierte, ist sie zum Opfer gefallen.
"Du fehlst", erzählt aus der Perspektive der Tochter Nikki, ist ein Anti-Krimi. Während sich der Kriminalroman üblicherweise auf die polizeiliche Ermittlung und den Täter konzentriert, interessiert sich Oates für die Emotionen, die durch ein Verbrechen freigesetzt werden. Also widmet sie sich den Angehörigen des Opfers, deren Welt völlig aus den Fugen gerät. Aus polizeilicher Sicht dagegen ist der Fall schon nach 20 Stunden abgeschlossen – das lakonische Kapitel, in dem der Tathergang und die dilettantische Flucht des Mörders rekonstruiert werden, gehört schon aufgrund der knappen, trockenen Darstellung zu den besten Partien des Romans.
Der Mordfall ist kein erzählerischer Selbstzweck, sondern wirkt als Katalysator. Das Innenleben einer kleinbürgerlichen Familie wird im Lauf von Nikkis Trauerjahr in allen Einzelheiten aufgeblättert. Mit der älteren Schwester Clare macht sie sich daran, die Hinterlassenschaft der Mutter zu bewältigen sowie deren Haus zu räumen und zu verkaufen. In alten Dokumenten und Erinnerungsstücken wird gestöbert. Was dabei zum Vorschein kommt, etwa die Jugendliebe der Mutter zu einem Mann, der dann doch der katholischen Theologie und dem Zölibat den Vorzug gab, ähnelt jedoch zu sehr den konventionellen melodramatischen Ingredienzen eines Fernsehfilms. Das gilt erst recht für die Beziehungsprobleme der beiden Schwestern, die breit erörtert werden.
Clare, die im Kontrast zur Journalistin Nikki zunächst als gesettelte Muster-Mutter mit zwei Kindern und erfolgreichem Ehemann erscheint, setzt gegenüber diesem schließlich eine "Trennung auf Probe" durch. Nikki dagegen, deren Verhältnis zum verheirateten Radio-Macher Wally Zsalla auf den ersten Seiten noch den Unwillen der Mutter erregt, darf zum guten Ende des Romans Flitterwochen erleben: Detective Strabane, dem die rasche Aufklärung des Mordfalls zu verdanken war, hat sich in ihr Herz geschlichen; längst hat der Leser geahnt, dass Nikkis anfängliche Reserviertheit gegenüber dem fürsorglichen Ermittler nicht von Dauer sein würde.
Mit gewohnter Detailfreude schildert Oates amerikanische Mittelklassenverhältnisse, von der Pflege der Vorgärten über die Kochrezepte bis zu den Ehemiseren und Geschlechterkriegen – aber das meiste kommt einem so bekannt und geläufig vor, dass man bisweilen den Eindruck hat, der Roman sei von einem auf amerikanische Gesellschaftsromane programmierten Schreibcomputer verfasst worden. Anders als noch der letzte auf Deutsch erschienene Oates-Roman "Niagara", der außerordentlich starke Passagen besaß und mit einer irritierenden, kantigen Heldin aufwarten konnte, erweist sich "Du fehlst" als allzu glatte Lektüre – ein dahingeplauderter Seitenfüller.
Die Frauen-Porträts sind das Gelungenste an diesem Buch. Allen voran Nikki, die im Stil des späten Mädchens und im fortgesetzten Widerstand gegen die spießige Mutter-Welt noch mit Anfang Dreißig ihre Punk-Frisur pflegt, dann aber über der Beschäftigung mit der Ermordeten deren bewundernswerte Seiten entdeckt und in manchem – etwa im sozialen Engagement – gleichsam zu ihrer Nachfolgerin wird.
Dass sie schon in Mädchenjahren der Schreibsucht verfiel, hat Joyce Carol Oates, die vor wenigen Wochen ihren siebzigsten Geburtstag feiern konnte, gelegentlich auf eine initiatorische Lektüre von "Alice im Wunderland" zurückgeführt. Ihre besten Romane fügen sich zu einem Wunderland der bösen Überraschungen, das vor allem durch die einfühlsame Darstellung gebrochener Gefühlswelten überzeugt. Zu ihren wichtigen Einflüssen zählt Oates William Faulkner, Henry James und Bob Dylan. Aber es sind nicht nur solche honorigen Hoch- oder Popkulturheroen, von denen ihre Produktion Kraft bezieht. Die menschlichen Alltagsdramen, die in der Boulevardpresse zu Schlagzeilen werden, dürften ebenfalls eine entscheidende Rolle spielen.
Anders als John Updike und Philip Roth, mit denen sie den sozialen Scharfsinn und den langjährigen Nobelpreiskandidatenstatus gemeinsam hat, scheute sich die unermüdliche Chronistin der amerikanischen Verhältnisse nicht, dem Unterhaltungsroman Tribut zu entrichten. Auf geschliffene Prosakunst hat sie es nicht abgesehen. Ihre Sätze sind dazu da, ausgiebige Portionen Leben aufzutischen und die Handlung voranzutreiben; da ist die nächstbeste Formulierung meist gut genug. Aber man muss schon über enorme unterirdische Epikvorkommen verfügen, um sich diese bravouröse Leichtfertigkeit erlauben zu können. In den nächsten Jahren werden Romane von Joyce Carol Oates die deutschen Leser erreichen, die wieder besser sind als "Du fehlst". Etwa "The Gravediggers Daughter" aus dem Jahr 2007, ein Achthundertseiter, der in den Vereinigten Staaten vorzügliche Kritiken erhalten hat.
Rezensiert von Wolfgang Schneider
Joyce Carol Oates: Du fehlst
Roman. Aus dem Amerikanischen von Silvia Morawetz. S. Fischer,
490 Seiten, 22,90 Euro