Morgendämmerung der Emanzipation
Tolstois große Werke wie "Krieg und Frieden" stehen in jeder größeren Bibliothek - doch auch sein Frühwerk hat Beachtung verdient. Zum Beispiel "Familienglück", ein schmaler Roman von 1859, mit dem er bereits seine Lieblingsthemen Liebe, Ehe und Familie zur Entfaltung bringt.
Auch wer von Tolstoi nichts gelesen hat, diesen Satz aus seiner Feder kennt jeder: "Alle glücklichen Familien ähneln einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre Weise unglücklich". Und nun also ein schmaler Roman des Titels "Familienglück". "Ein schönes Familienglück!", möchte man da rufen mit der männlichen Hauptfigur, dem Gutsbesitzer Sergej Michajlyč. 37 Jahre alt ist er, gerade hat er die weitaus jüngere 18jährige Maša zur Frau genommen. Und die führt sich ganz anders auf als von ihrem treusorgenden, aber eben auch arg langweiligen Gatten vorgesehen: Tanzt lieber auf Bällen und flirtet mit anderen Männern, als sich um ihn und die Kinder zu kümmern.
Wir befinden uns tief im 19. Jahrhundert, die Wertvorstellungen sind dementsprechend. Maša lebt in einer Welt, deren überkommene Konventionen noch immer so mächtig sind, dass auch die Rebellin schlussendlich reumütig Besserung gelobt: "Warum hast du mir die Freiheit gelassen, mit der ich nicht umgehen konnte, warum hast du aufgehört, mich anzuleiten? Wenn du gewollt hättest, wenn du mich anders gelenkt hättest, wäre nichts, gar nichts geschehen", sagt sie am Ende zu ihm.
Klingt alles sehr nach längst vergangenen Tagen und auch danach, dass es nicht unbedingt notwendig gewesen wäre, dieses kleine Werk des Klassikers Tolstoi zu entstauben. Ein großer Irrtum! Zwar lässt sich "Familienglück" etwas behäbig an mit der langatmigen Schilderung des Landlebens (Müßiggang im Diwanzimmer, Klavierunterricht im Salon und ein bisschen Mitleid mit den armen Bediensteten) und der Anbahnung dieser Ehe, aber dafür entschädigt einen der fulminante zweite Teil dieses Romans.
Hier zeigt der großartige Psychologe Tolstoi die Seelennot seiner weiblichen Heldin auf eine (mit ihr sympathisierende) Weise, die "Familienglück" als Fingerübung für "Anna Karenina" erkennbar werden läßt. Schon die herbeigesehnte und dann husch, husch über die Bühne gebrachte Hochzeit von Maša und Sergej Michajlyč ist eine einzige herbe Enttäuschung. Vollkommene Ernüchterung aber setzt nach der Heirat ein, als das Paar – der "beschaulichen ländlichen Abgeschiedenheit" irgendwann vollends leid - gemeinsam nach Sankt Petersburg reist (später geht es noch, wie es sich für russische Romane gehört, nach Baden-Baden) und Maša in den Genuss mondäner Gesellschaft kommt. Schnell findet sie Geschmack daran, zu poussieren. Sie gewinnt an Unabhängigkeit und tritt selbstbestimmt demjenigen entgegen, der in ihrer Weigerung, sich seinen Vorstellungen zu beugen, nur Trotzköpfigkeit sehen mag: "Ja, ich weiß, ich bin das liebe Kind, das man beruhigen muss … Ich will aber keine Ruhe, davon hast du schon genug, mehr als genug", entgegnet sie ihm, als beider Beziehung schon abgekühlt, ja schockgefrostet ist: "Im Beisein einer dritten Person konnten wir uns besser unterhalten als unter vier Augen."
Was sich hier noch als Wunsch nach "Bewegung" artikuliert, ist die Morgendämmerung der Emanzipation. Ein aufschlussreiches Psychogramm voller feiner Beobachtungen: Dass Tolstoi in "Familienglück" Selbsterlebtes verarbeitete, belegt die Übersetzerin Dorothea Trottenberg in einem instruktiven Nachwort.
Besprochen von Knut Cordsen
Leo Tolstoi: Familienglück
Aus dem Russischen übersetzt von Dorothea Trottenberg
Dörlemann Verlag, Zürich 2011
190 Seiten, 14,80 Euro
Wir befinden uns tief im 19. Jahrhundert, die Wertvorstellungen sind dementsprechend. Maša lebt in einer Welt, deren überkommene Konventionen noch immer so mächtig sind, dass auch die Rebellin schlussendlich reumütig Besserung gelobt: "Warum hast du mir die Freiheit gelassen, mit der ich nicht umgehen konnte, warum hast du aufgehört, mich anzuleiten? Wenn du gewollt hättest, wenn du mich anders gelenkt hättest, wäre nichts, gar nichts geschehen", sagt sie am Ende zu ihm.
Klingt alles sehr nach längst vergangenen Tagen und auch danach, dass es nicht unbedingt notwendig gewesen wäre, dieses kleine Werk des Klassikers Tolstoi zu entstauben. Ein großer Irrtum! Zwar lässt sich "Familienglück" etwas behäbig an mit der langatmigen Schilderung des Landlebens (Müßiggang im Diwanzimmer, Klavierunterricht im Salon und ein bisschen Mitleid mit den armen Bediensteten) und der Anbahnung dieser Ehe, aber dafür entschädigt einen der fulminante zweite Teil dieses Romans.
Hier zeigt der großartige Psychologe Tolstoi die Seelennot seiner weiblichen Heldin auf eine (mit ihr sympathisierende) Weise, die "Familienglück" als Fingerübung für "Anna Karenina" erkennbar werden läßt. Schon die herbeigesehnte und dann husch, husch über die Bühne gebrachte Hochzeit von Maša und Sergej Michajlyč ist eine einzige herbe Enttäuschung. Vollkommene Ernüchterung aber setzt nach der Heirat ein, als das Paar – der "beschaulichen ländlichen Abgeschiedenheit" irgendwann vollends leid - gemeinsam nach Sankt Petersburg reist (später geht es noch, wie es sich für russische Romane gehört, nach Baden-Baden) und Maša in den Genuss mondäner Gesellschaft kommt. Schnell findet sie Geschmack daran, zu poussieren. Sie gewinnt an Unabhängigkeit und tritt selbstbestimmt demjenigen entgegen, der in ihrer Weigerung, sich seinen Vorstellungen zu beugen, nur Trotzköpfigkeit sehen mag: "Ja, ich weiß, ich bin das liebe Kind, das man beruhigen muss … Ich will aber keine Ruhe, davon hast du schon genug, mehr als genug", entgegnet sie ihm, als beider Beziehung schon abgekühlt, ja schockgefrostet ist: "Im Beisein einer dritten Person konnten wir uns besser unterhalten als unter vier Augen."
Was sich hier noch als Wunsch nach "Bewegung" artikuliert, ist die Morgendämmerung der Emanzipation. Ein aufschlussreiches Psychogramm voller feiner Beobachtungen: Dass Tolstoi in "Familienglück" Selbsterlebtes verarbeitete, belegt die Übersetzerin Dorothea Trottenberg in einem instruktiven Nachwort.
Besprochen von Knut Cordsen
Leo Tolstoi: Familienglück
Aus dem Russischen übersetzt von Dorothea Trottenberg
Dörlemann Verlag, Zürich 2011
190 Seiten, 14,80 Euro