Kommentar zu Israel

Ist die deutsche Politik noch ganz bei Trost?

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Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Benjamin Netanjahu, Ministerpräsident von Israel, geben im Bundeskanzleramt eine Pressekonferenz
Im März 2023 war Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu zu Besuch in Berlin: Inzwischen wurde vor dem Internationalen Strafgerichtshof ein Haftbefehl gegen ihn beantragt. © picture alliance / dpa / Kay Nietfeld
Ein Kommentar von Moshe Zuckermann · 28.05.2024
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Der deutsche Umgang mit Israel sei ideologisch verblendet, kommentiert der Soziologe Moshe Zuckermann. Israel begehe seit Jahren Verbrechen und Menschenrechtsvergehen – doch die deutsche Politik nehme das Land trotzdem gegen jede Kritik in Schutz.
Das Verhältnis Deutschlands zu Israel war von Anbeginn abstrakten Charakters. Das nimmt sich insofern merkwürdig aus, als dieses Verhältnis zugleich von einer Materialisierung der Sühne geprägt war. Das Verbrochene verwandelte man in einen beidseitig angenommenen Tauschwert. Millionenfach gemordetes Menschenleben ließ sich am leichtesten ausbezahlen.
Schwieriger war da der mentale Umgang mit der historischen Katastrophenlast. Entstanden war dadurch eine Gedenkkultur, die – bei allem, was sie an Positivem hervorgebracht hat – die Juden (und den mit ihnen gleichgesetzten Zionismus und eben auch Israel) als begrifflich-unlebendige Kategorien behandeln musste.
Da man im wirklichen Leben nichts “wiedergutmachen” konnte, umging man diese Hürde, indem man die Juden, den Zionismus und Israel gleichsam tabuisierte und deren Unberührbarkeit zum ideologischen Fetisch erhob.

"Okkupations-Barbarei" und Apartheid

Nun stellte sich aber in den Jahrzehnten dieser bilateralen Beziehung heraus, dass das, was unantastbar bleiben sollte – namentlich das zionistische Israel – sich selbst Verbrecherisches hat zuschulden kommen lassen. Und je mehr sich dieses Verbrecherische erweiterte und verfestigte, desto abstrakter (das heißt: realitätsabgewandter und ideologisch verblendeter) mussten die Urheber des Verbrechens von Deutschen behandelt werden – und zwar so sehr, dass man sich zuweilen fragt, ob die Platzhalter der deutschen Politik in diesem Zusammenhang noch ganz bei Trost seien.
Gefragt sei: Was muss nach der über 50-jährigen Okkupations-Barbarei, nach der Etablierung eines israelischen Apartheidregimes im Westjordanland, nach der Legitimierung eines grassierenden Alltagsrassismus, der systematischen Unterprivilegierung des arabischen Bevölkerungsteils Israels und der schier unübersehbaren Anhäufung von Vergehen Israels gegen das Menschen- und Völkerrecht noch alles passieren, damit man selbst in Deutschland aufwacht und sich fragt, was man da eigentlich unterstütze? Mit wem man sich solidarisiere? Wen man gegen jedwede Kritik in Schutz nehme und wessen Sicherheit man zur deutschen Staatsräson erhoben habe?

Rassistisch und chauvinistisch

Diese Frage stellt sich mit umso größerer Dringlichkeit, als im Jahr 2023 in Israel eine Regierungskoalition entstand, deren Hauptführer kahanistisch-faschistischen, ungeschminkt rassistischen, fundamental-klerikalen und theokratisch-chauvinistischen “Werten” das Wort reden – angeführt von einem Premier, der der Korruption, des Betrugs und der Veruntreuung angeklagt ist, mithin alles bereit ist hinzunehmen, um mit dieser ihn am Kragen packenden Koalitions-Bande seinem Prozess zu entgehen.
Nach dem versuchten, sich als Justizreform gebenden Staatsstreich der Netanjahu-Koalition kam der 7. Oktober, die größte Katastrophe, die der Staat Israel seit seinem Bestehen erfahren hat, und deren Folgen noch unabsehbar sind. Wenngleich jetzt schon gesagt werden kann, dass die Mitverantwortung der Regierung, des Militärs und der Geheimdienste groß ist.
Israel hat auf das Fiasko mit einer militärischen Vehemenz reagiert, die Zigtausende palästinensische Zivilisten ermordete, unter ihnen viele Tausende Frauen und Kinder, die Verwüstung großer Teile des Gazastreifens und eine unsägliche humanitäre Katastrophe zur Folge hatte.

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Die terroristische Hamas, Verursacherin der Angriffe am 7. Oktober, wurde von Netanjahu über Jahre unterstützt – aus politischem Kalkül, um die Palästinenser politisch zu spalten und um die Errichtung eines palästinensischen Staates zu verhindern.

Voreilige Antisemitismus-Vorwürfe

Versucht man all dies aber im heutigen Deutschland zur Sprache zu bringen und öffentlich zu erörtern, wird man sofort bezichtigt, antisemitisch beziehungsweise von “jüdischem Selbsthass” angefressen zu sein. Der Antisemitismus-Beauftragte der Bundesregierung entblödete sich nicht, den Antisemitismus selbst einem kritischen jüdischen israelischen Bürger anzuhängen. Man kann sich zunehmend des Gefühls nicht erwehren, dass etwas mit der anfangs vielversprechenden Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit schiefgegangen ist.

Moshe Zuckermann wuchs als Sohn polnisch-jüdischer Holocaust-Überlebender in Tel Aviv auf. Seine Eltern emigrierten 1960 nach Frankfurt am Main. Nach seiner Rückkehr nach Israel im Jahr 1970 studierte er an der Universität Tel Aviv, wo er am Institute for the History and Philosophy of Science and Ideas lehrte und das Institut für deutsche Geschichte leitete.

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