"Politik zu machen ist lebensgefährlich"
Viele Russen, die sich für politische Veränderungen eingesetzt haben, sind frustriert. Sie wollen nun – wenn sie schon an der Spitze ihres Landes nichts verändern können – im Kleinen Gutes tun und engagieren sich sozial. Vor allem in der Hauptstadt Moskau.
Gerta trägt ein Halstuch. Es ist blau. "Sobaka-Terapevt" steht darauf, "Therapiehund". Die Mischlingshündin liegt im Garten eines Moskauer Kinderheims. Zwei Jungs streicheln unbeholfen über ihr Fell.
Gertas Besitzerin, Jekaterina Patrina, leitet die Kinder an. Fast alle leben mit Behinderungen und benötigen intensive Betreuung. Nikita traut sich, Gerta einen Hundekeks zu geben. Der Kleine strahlt.
Jekaterina Patrina ist Mitglied bei der Moskauer Organisation "Petfund". Die gibt Straßenhunden Obdach und bildet sie zu Therapiehunden aus. Ein Stück weiter sitzt Iwan Rjadow mit seinem Mischlingsrüden Prochor Iwanowitsch im Gras, gleichfalls umringt von Kindern. In seinem Umfeld in Moskau engagierten sich viele Menschen ehrenamtlich, erzählt er:
"Seit den 2000er-Jahren verdienen die Leute mehr. In den 90-ern ging es in Russland ums Überleben, da hat jeder nur an sich gedacht. Jetzt hat man die Möglichkeit, sich auch um andere zu kümmern. Und die sozialen Netzwerke helfen, solche Projekte in der Bevölkerung bekannt zu machen."
Dass die Freiwilligenarbeit in Moskau boomt, liegt auch an Mitja Aleschkowskij und seiner Stiftung "Nuschna Pomosch", auf Deutsch "Hilfe gebraucht". Aleschkowskij, 31 Jahre alt, Jeans, ausgewaschenes T-Shirt, Fünf-Tage-Bart, war mal Journalist in einer staatlichen Nachrichtenagentur. Vor vier Jahren war er in der Protestbewegung aktiv, demonstrierte für Veränderungen. Als das scheiterte und Wladimir Putin zum dritten Mal zum Präsidenten gewählt wurde, schmiss Aleschkowskij seinen Job und beschloss, wohltätige Organisationen zu stärken. Nun sitzt er mit rund zwei Dutzend Mitarbeitern in einer heruntergekommenen Moskauer Altbauetage. "Nuschna Pomosch" fungiert als Dachorganisation, hilft sozialen Projekten wie dem Petfund, Spenden und Mitglieder zu werben. Aleschkowskij:
"Ich weiß nicht, warum die Leute sich sozial engagieren. Aber ich weiß: Es ist die letzte Schraube, die noch nicht angezogen ist, die letzte Möglichkeit, etwas zu verändern. Geschäfte zu machen, ist in Russland jetzt, sagen wir es mal vorsichtig, mit Scherereien verbunden. Und Politik zu machen, ist lebensgefährlich."
Die Stiftung "Nuschna Pomosch" betreut zurzeit 70 Projekte in ganz Russland, von Frauenhäusern über Umweltgruppen bis hin zu Tierheimen. Alles auf Spendenbasis. Gerade war Aleschkowskij in Omsk in Sibirien. Dort hilft er, das erste Kinderhospiz östlich des Ural zu errichten. Gerade im medizinischen Bereich füllen Ehrenamtliche und private Spender eine Lücke, die der russische Staat offen lässt:
"Was die Gesundheitsversorgung angeht, sind wir auf einem Niveau mit Afrika. Ich war in Somalia. Ich habe die Krankenhäuser dort gesehen. Und ich habe Krankenhäuser in Russland gesehen. Sie ähneln sich in vielem."
Mit dem Agentengesetz gegen AIDS-Prävention
Die Zusammenarbeit mit den Behörden laufe problemlos, sagt Aleschkowskij. Trotzdem macht er sich Sorgen. Denn der Staat beginne, auch auf soziale Organisationen Druck auszuüben. Zum Beispiel über das sogenannte Agentengesetz. Das kam bisher vor allem gegen politisch unbequeme Menschenrechtler zum Einsatz. Doch in diesem Sommer erklärte das Justizministerium gleich zwei Organisationen, die sich mit AIDS-Prävention befassen, zu ausländischen Agenten. Aleschkowskij:
"Die Staatsmaschinerie haut den nichtkommerziellen Organisationen mit ihrer Gesetzgebung die Beine weg. Es ist, als würde der Staat dich an die Wand stellen und hinter dir den Abzug spannen. Manchmal versagt die Waffe. Manchmal sind Platzpatronen drin. Aber du weißt es nicht. Oder der Mann, der dich an die Wand geführt hat, zieht dir einfach eins mit dem Kolben über. Jede Organisation kann im Nu vernichtet werden."
Trotz dieser Kritik am Kreml möchte Aleschkowskij nicht politisch vereinnahmt werden. Im Gegenteil, er glaubt, dass soziales Engagement die Gesellschaft in Russland einen kann, über politische Gräben hinweg.
"Wir haben jede Menge soziale Probleme in der Gesellschaft, die nicht geklärt sind. Es heißt zwar, die Gesellschaft sei geeint, 80 Prozent und mehr unterstützen den Anschluss der Krim – aber das ist nur eine Art Hochglanzumschlag um nichts. Die Menschen verachten einander: Arme und Reiche, Putin-Anhänger und Putin-Gegner. Um ruhig zu leben und das Land zu verbessern, muss man die Leute vereinen, und zwar um eine gute Sache."