Brandrede gegen Zensur der Kunst
Der Prozess gegen die Performance-Gruppe Pussy Riot machte weltweit bekannt, dass die Kunstfreiheit in Russland unter Druck ist. Immer wieder gehen ultraorthodoxe Gruppen gegen angeblich sittenfremde Ausstellungen oder Theateraufführungen vor.
Es platzte förmlich aus ihm heraus: Konstantin Rajkin, Leiter des Theaters Satirikon in Moskau, nahm auf dem Kongress der russischen Theaterschaffenden gestern kein Blatt vor den Mund.
"Ich glaube diesen Leuten nicht, die sagen, ihre religiösen Gefühle seien verletzt. Ich glaube, dass sie bezahlt sind. Das sind Grüppchen abscheulicher Leute, die mit illegalen abscheulichen Mitteln für Moral kämpfen. Wenn man Fotografien mit Urin übergießt, soll das etwa ein Kampf für Moral sein?"
Rajkin bezog sich auf den Überfall auf eine Fotoausstellung des Amerikaners Jock Sturges vor wenigen Wochen in Moskau. Auf dessen Bildern sind Nudisten zu sehen, die Vandalen meinten, darin Pädophilie zu erkennen. In Omsk in Sibirien wurde letzte Woche eine Aufführung der weltbekannten Rockoper "Jesus Christ Superstar" abgesagt. Eine ultraorthodoxe Gruppe namens "Familie, Liebe, Vaterland" hatte protestiert, vermutete Gotteslästerung in dem Stück. Und gestern wurde bekannt, dass die Behörden in Perm im Uralgebiet gegen eine Theater-Inszenierung nach Motiven von Schnitzlers "Reigen" ermitteln. Auch dort hatten sich besorgte Bürger beschwert: Es seien "lesbische Szenen" vor dem Hintergrund eines Marienbildes zu sehen. Ihn rege all dies auf, so Theaterchef Rajkin bei seinem emotionalen Auftritt:
"Das ist ein illegales, extremistisches, dreistes, aggressives Vorgehen. Diese Grüppchen verbergen sich hinter hehren Worten über Moral, Patriotismus und Heimat. Die Machthaber verhalten sich dazu auf merkwürdige Weise neutral, distanzieren sich. Das sind unglaubliche Angriffe auf die Freiheit der Kunst, auf das Verbot von Zensur."
Kulturszene seit Krim-Annexion gespalten
Zensur ist in Russland laut Verfassung verboten. Besonders knöpfte sich Rajkin die russisch-orthodoxe Kirche vor.
"Unsere unglückliche Kirche hat bereits vergessen, wie sie einst verfolgt wurde, wie ihre Priester vernichtet wurden, wie Kreuze gefällt und Kirchen in Gemüselager verwandelt wurden. Jetzt fängt sie mit genau solchen Methoden an. Lew Tolstoj hatte Recht, als er sagte, man dürfe die Macht und die Kirche nicht vereinen. Denn dann werde sie nicht mehr Gott dienen, sondern der Regierung. Genau das beobachten wir jetzt."
Bestimmte Kräfte wollten Russland offenbar zurückwerfen in die Stalinzeit, so Rajkin.
"Unsere Chefs reden mit uns bereits in so einer Stalinschen Lexik, dass man seinen Ohren nicht traut."
Rajkin appellierte an die Solidarität der Theaterschaffenden. Russlands Kulturszene ist seit der Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim gespalten – in Anhänger Putins und seine Kritiker. Rajkin erhielt auf dem Theaterkongress freundlichen Applaus. In den sozialen Medien, wo ein Mitschnitt veröffentlich wurde, hieß es, Rajkin habe ausgesprochen, was andere nicht zu sagen gewagt hätten. Es sei Zeit, auch die Rechte von Atheisten zu schützen. Aber auch die andere Seite meldete sich dort zu Wort: Rajkin solle sich schämen; einige Künstler missbrauchten die Freiheit in der Kunst als Deckmantel für ihre sexuellen Perversionen.
Unterdessen berichtet der Filmregisseur Vitaly Mansky von Beschränkungen beim Verleih seines Dokumentarfilms "Im Strahl der Sonne" über Nordkorea. Der Film soll in Russland diese Woche in die Kinos kommen, nach Auskunft Manskys sind in Moskau acht von 28 Lichtspielbühnen abgesprungen, auf staatliches Geheiß. Der Regisseur ist überzeugt, dass Russland damit auf Forderungen Nordkoreas reagiere, was er sich von einem Staat wie Deutschland oder Polen kaum vorstellen könne.