"Motive können sein, dass jemand sehr gekränkt, gedemütigt worden ist"

Isabella Heuser im Gespräch mit Birgit Kolkmann · 12.03.2009
Die Psychotherapeutin Isabella Heuser hält verschiedene Ursachen für den Amoklauf von Winnenden für möglich. Es könne jemand sein, "der eher zurückgezogen ist, der sich nie so richtig in eine Gruppe integriert hat, wenig Freunde hat", sagte Heuser.
Birgit Kolkmann: Was geht vor in einem Menschen, der plötzlich zur Waffe greift und wild um sich schießt? Bei jeder neuen Bluttat wird diese Frage gestellt, diese und die andere, ob das hätte erkannt und verhindert werden können. Professor Isabella Heuser ist die Direktorin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Berliner Uni-Krankenhaus Charité. Schönen guten Morgen, Frau Heuser.

Isabella Heuser: Guten Morgen, Frau Kolkmann!

Kolkmann: Was geht in so einem Amokläufer vor?

Heuser: Das wissen wir leider nicht. Wir können ja nie jemanden befragen, weil die allermeisten, ja fast alle Amokläufer sich eben umbringen, im Verlauf oder nach der Tat. Wir haben Vermutungen, es gibt so etwas wie psychologische Autopsien, wo wir danach das gesamte Umfeld befragen, um so herauszubekommen, was möglicherweise Motive gewesen sind, wobei wir die Ursachen eigentlich nicht erkennen, nicht wirklich festmachen können.

Motive können sein, dass jemand eben sehr gekränkt, gedemütigt worden ist, von Vornherein so etwas wie ein Loner ist, also jemand, der eher zurückgezogen ist, der sich nie so richtig in eine Gruppe integriert hat, wenig Freunde hat, sehr viel Zeit mit sich selbst verbringt, wobei die Frage ist, ob das in diesem Fall der Fall war. Wie wir ja gehört haben, war er immerhin wohl ein sehr guter Tischtennis-Spieler und auch im Verein.

Tischtennis ist ja in gewissem Sinne auch ein Mannschaftssport; also da muss er irgendwie integriert worden sein. Aber dann haben wir ja auch gehört, dass da möglicherweise irgendwas passiert ist vor ein, zwei Jahren, wo er sich dann noch mehr zurückgezogen hat, wo er an Gewicht zugenommen hat. Irgendwas mag da passiert sein, dass dieser junge Mann dann so ausgerastet ist. Das ist ja wirklich eine Irrsinnstat.

Kolkmann: Ist denn das wirklich ein Ausrasten? Ausrasten bedeutet doch, dass etwas im Affekt geschieht, aber solche Amokläufer planen ihre Tat. Meine Frage ist auch, wenn ich das noch kurz anmerken darf: die soziale Isolation oder Rückzug wegen Kränkungen in Schule oder im Beruf, das sind ja Dinge, die jeder Mensch erlebt. Was muss denn nun dazukommen, dass ein Mensch in einen solchen Ausnahmezustand gerät, dass er sogar seine natürliche Hemmung, einen anderen zu töten, überwindet?

Heuser: Sie haben vollkommen Recht: Ein Amoklauf ist nur für die Außenwelt sozusagen etwas Unvorhersehbares, Ungeplantes. Selbstverständlich ist das in der Regel immer sogar sehr sorgfältig geplant, oft ja auch versteckt angekündigt. Insofern haben Sie Recht: Es ist nicht ein Ausrasten in dem klassischen Sinne. Ich meine damit auch eher etwas, das dann doch an dem Tag oder am Tag zuvor passiert. Es ist zwar die Tat geplant, aber dass es an diesem Tag passiert, das ist dann sozusagen das Ausrasten. An diesem Tag entschließt sich der Täter dazu, es zu tun, und nicht später oder eben an einem anderen Tag. Irgendwas kommt da meistens noch dazu.

Das Andere ist, Sie haben vollkommen Recht: wir müssen alle mit Kränkungen, mit zum Teil erheblichen Kränkungen leben, und Gott sei Dank ist es ja so, dass die allermeisten, 99 Prozent und noch mehr von uns das auch verarbeiten und verkraften, dass wir mit Demütigungen, Kränkungen, Zurücksetzungen, Zurückweisungen leben können und das, wenn Sie so wollen, in unsere Entwicklung, in unsere Persönlichkeitsreifung integrieren. Bei manchen funktioniert das nicht. Woran das liegt, das ist vollkommen unklar. Sicherlich gibt es da auch eine Disposition, eine Bereitschaft, eine bestimmte Persönlichkeitsstörung entwickelt zu haben, und dann kann es zu solchen ganz, ganz furchtbaren Ausnahmetaten kommen.

Kolkmann: Angenommen es fällt in der Schule, in der Familie, im Freundeskreis jemandem auf, dass sich jemand so gravierend verändert, sich zurückzieht, dass da etwas passiert ist, angenommen jemand hat das Glück, dass er zu Ihnen geschickt wird zum Beispiel, wie können Sie so einem Menschen helfen? Ist das überhaupt möglich? Können Sie von Persönlichkeitsstörungen größeren Ausmaßes reden?

Heuser: Man kann bei Persönlichkeitsstörungen, aber auch bei Depressionen – oft ist das ja gemischt, es liegt beides vor – kann man auf jeden Fall helfen, natürlich! Aber das große Problem ist, dass diese Menschen zumindest, wenn es Jugendliche oder junge Erwachsene sind, ganz, ganz selten tatsächlich dann auch professionelle Hilfe aufsuchen. Die haben in aller Regel nicht das Krankheitsgefühl beziehungsweise haben nicht den Leidensdruck in dem Sinne, dass sie sagen, da stimmt was nicht, ich muss irgendwas tun, ich muss mir Hilfe suchen, sondern es ist ja eher umgekehrt, dass sie sagen, ich bin in Ordnung, aber die ganze Welt da draußen, die ist böse und die will mir was, die schließt mich aus und an der muss ich mich rächen.

Kolkmann: Fühlen solche Menschen überhaupt noch was?

Heuser: Ja, mit Sicherheit. Wir wissen von vielen retrospektiv natürlich – retrospektiv, wir können das eben nicht mehr direkt am Menschen dann festmachen, dass die doch erheblich verzweifelt und auch depressiv sind.

Kolkmann: Sie sprachen an, dass die möglicherweise sagen, ich bin in Ordnung und die Gesellschaft da draußen ist krank. Stimmt das nicht auch zu einem guten Teil, dass die Gesellschaft mit ihrer doch zunehmenden Aggressivität, auch Bereitschaft zu Handgreiflichkeiten – denken wir an den Straßenverkehr, nur weil es Streitigkeiten auf der Straße gibt - - Das nimmt ja doch zumindest in den Großstädten Formen an, die so an die Grenze des Zivilisierten gehen. Oder übertreibe ich?

Heuser: Das finde ich tatsächlich übertrieben, Frau Kolkmann, denn es ist nicht so. Gewaltbereitschaft, Gewalt nimmt zu. Das ist richtig. Das ist sozusagen ein soziales Übel oder eine soziale Krankheit unserer Zeit, aber doch nicht in dem Maße, dass wir jetzt umgehen und irgendwie uns gegenseitig abballern oder so.

Kolkmann: Fängt das denn nicht schon mit verbaler Gewalt an, dass man sich beschimpft, und wenn es nur Kinder in der Schule sind, die sagen, Du Opfer?

Heuser: Ja, das ist furchtbar und so etwas muss absolut unterbunden werden. Aber so weit ich verstanden habe, war gerade in dieser Schule so etwas nicht. Das ist eine schwäbische Kleinstadt, das war keine Brennpunktschule, das war nicht irgendwo Berlin-Neukölln oder so was. Insofern, glaube ich, trifft das hier nicht zu. Wir machen es uns da zu einfach, dass wir sagen, okay, also die Jugendlichen sind gewaltbereiter, die spielen Videospiele, Gewalt-Videospiele, die gucken Horror-Movies, und deshalb passiert so etwas. Ich glaube, das ist zu kurz gedacht. Wir haben überhaupt noch keine Ahnung über die Kausalität.

Kolkmann: Vielen Dank für diese Einschätzung. Professor Isabella Heuser, die Direktorin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Berliner Uni-Krankenhaus Charité. Danke dafür!

Heuser: Bitteschön!