Müdigkeit in der Literatur

Mit halb geschloss'nen Lidern

Die Sendung widmet sich einer höchst ambivalenten Befindlichkeit
Die Sendung widmet sich einer höchst ambivalenten Befindlichkeit © picture alliance / dpa / Wolfram Stein
Von Uta Rüenauver |
Die Literatur kennt viele müde Helden, ab er auch die Müdigkeit als einen Zustand, der eine besondere Wahrnehmung erlaubt. Die Sendung widmet sich einer höchst ambivalenten Befindlichkeit und ihrem literarischen Niederschlag.
Wilhelm Genazino: "Also bei mir ist Müdigkeit ein Zeichen für eben eintretende Abwesenheit."
Also ich gebe mir bekannt, dass ich jetzt gerne abwesend wäre, wenn das möglich wäre.
"Da ist auch Unlust drin, es ist Überdruss drin, Langeweile und vor allen Dingen auch Erschöpfung, nicht. Also man fühlt sich oder ich fühle mich also in der Müdigkeit nahe an irgendeiner Art von Erschöpfung. Es ist halt eine Art Bedürfnis nach Rückzug und Zurücknahme der Anforderungen. Und das ist dann mein Zeichen, also wenn ich könnte, würde ich jetzt aufstehen und sagen 'Das war's dann, tschüss', ne."
Wilhelm Genazino ist der große Müdigkeitsexperte unter den deutschen Gegenwartsautoren. Die Helden seiner Romane können und wollen dem erschöpfenden Lauf der Welt nicht folgen. Es sind kindlich gebliebene Männer, die beruflich wie familiär keinerlei Ziele verfolgen und sich träge tagträumend den Zumutungen des Lebens verweigern. Reinhard, der Erzähler des Romans Bei Regen im Saal, hat zwar über die Apodiktizität bei Kant promoviert, bevorzugt selbst aber das uneindeutig-schwebende Sowohl-als-Auch, hält sich mit Aushilfsjobs als Barkeeper, Rezeptionist und schließlich Lokalredakteur eines Provinzanzeigenblatts über Wasser und weiß nicht, ob er noch Anfang oder schon Ende vierzig ist.
"Ich litt an der zärtlichen Krankheit des Innehaltens, über die ich praktisch mit niemandem sprechen konnte, mit Sonja schon gar nicht. Sonja würde sofort sagen: Mit dem Innehalten beginnt die allgemeine Verpfuschung des Lebens, von der du ohnehin schon länger bedroht bist. Ich erschauderte, wenn ich solche Sätze hörte, und sagte dann gar nichts mehr. Das Schlimme war, dass Sonja vermutlich recht hatte. Mein Innehalten bestand im Wesentlichen darin, dass ich irgendwo stehenblieb und etwas Nichtiges so lange betrachtete, bis es sich in meiner Betrachtung nahezu aufgelöst hatte."
Sonja, die Geliebte des Erzählers, arbeitet im Finanzamt, will aber noch studieren und hat überhaupt große Pläne für die Zukunft. Auch wenn ihr immer wieder ob der ebenso klug-sensiblen wie komischen Welt- und Selbstwahrnehmung ihres Gefährten das Herz aufgeht, hat sie doch wenig Verständnis für seine Ziellosigkeit und Passivität und malt ihm das Schreckgespenst des Scheiterns und der Verwahrlosung an die Wand. Während sie aber das Wochenende dazu nutzt, sich durch ausgiebigen nachmittäglichen Schlaf von der alltäglichen Erschöpfung zu erholen, spaziert der Erzähler müde-langsamen Schrittes durch die Stadt und gibt sich der Betrachtung des Alltags und seiner Merkwürdigkeiten hin.
Genazino: "Also die Erfindungen der Leute, was sie alles hervorbringen, um sozusagen wach über den Tag zu kommen, beeindruckt mich auch, nicht. Und an dieser Merkwürdigkeit hab ich Freude."
Müdigkeit ist eine ständige Begleiterin des Menschen. Ob er will oder nicht, Leben macht müde, tagtäglich, immer schon, immer wieder, mehr oder weniger und besonders in der beschleunigten, niemals ruhenden Gegenwart. Vieles wird deshalb angeboten, um der Müdigkeit zu entkommen: Möglichkeiten, um das Leben und die Gesundheit zu optimieren, pharmazeutische Erzeugnisse und Unterhaltung.
Genazino: "Also zum Beispiel Fasching, diese komischen Männer mit ihren komischen Kappen und wenn sie Bonbons von den Wagen herunterwerfen und auch das Prinzenpaar, also alles so merkwürdige Erfindungen, nicht, um die Müdigkeit am Leben sozusagen zu vertreiben. Da erfinden die die Faschingszeit und ziehen das durch, ne, und dabei sind sie von Ermüdung fast tot, nicht. Aber sie machen Hellau."
Müdigkeit kränkt das handlungsmächtige Individuum. Sie erschwert das Tun, verlangsamt das Denken, schwächt den Willen. Sie macht unproduktiv, passiv, gleichgültig, verwischt die klaren Grenzen zwischen Innen und Außen, Subjekt- und Objektwelt. Müdigkeit ist ein Schwellenzustand, ein Dazwischen – zwischen Wachsein und Schlaf, Licht und Finsternis, Leben und Tod. Müdigkeit ist das tertium datur, das gegebene Dritte zwischen zwei Gegensätzen, welches die Logik nicht kennt.
Die Literatur dagegen sehr wohl.
Marion Poschmann:"Mir gebrach es an Schlaf. Ich hatte die Polsterheimat lange verlassen / Ich wollte ins Graue zurück, in lauernde Ausschnitte aus einem Traum."
Marion Poschmann lotet in ihrem Schreiben die Grenzbereiche zwischen hell und dunkel, innen und außen aus. In der Hundenovelle wird ein schwarzer, verwilderter Hund für die Erzählerin zum Seelenführer in für das Alltagsbewusstsein unzugängliche Gefilde. Und im Roman Die Sonnenposition erkennt der Erzähler nach dem Tod seines Freundes die Begrenztheit seiner bisherigen Wahrnehmung.
"Ich behellige die Dinge mit meiner gleichmäßigen Aufmerksamkeit. Und doch entgeht mir mindestens die Hälfte, die Nachtseite, die Stellen, auf die der Schatten fällt. Das Interessante dabei ist die Hälfte, die im Dunkeln bleibt. Die Sonne bescheint nur die Oberfläche. Und was sie sieht, ist nicht unbedingt das Entscheidende. Nicht das, worauf es ankommt."
Poschmann: "Das ist, glaube ich, das, was mich beim Dichten insgesamt besonders interessiert, solche Zustände, wo man nicht ganz genau weiß, ist das jetzt Wachen oder Schlafen, ist das jetzt Leben oder Tod."
Müdigkeit ist des Teufels. Das glaubten schon die frühchristlichen Mönche, die sich in die Einsamkeit der Wüste zurückgezogen hatten, um fern jeder weltlichen Ablenkung die Erfahrung Gottes zu machen. Nichts fürchteten sie so sehr wie die "Acedia", einen Zustand von Erschöpfung, Trägheit und Überdruss. Den "Mittagsdämon" machten die Wüstenmönche für dieses Befinden verantwortlich, denn es befiel sie bevorzugtzur Mittagszeit, wenn die Hälfte des Tages vorüber war, die Sonne am höchsten stand und es keinen Schatten gab.
Genazino: "Irgendwie in einem meiner Bücher wird auch mal darüber geschrieben, dass die Hälfte des Tages, egal ob es Vormittag oder der Nachmittag ist, würde an sich ausreichen. Aber nach Lage der Dinge, nach Lage der Schöpfung müssen wir jeder von uns, den ganzen Tag anwesend sein, nicht. Man kann jetzt nicht sagen, jetzt haben wir die Hälfte hinter uns, jetzt sind wir aber müde, wo ist denn hier der Schlafraum oder so, ne."
Als "Mutter aller Sünden" galt die Acedia im Mittelalter, der Mittagsdämon als gefährlichster aller Dämonen. Denn er verführt zu Unglauben, heißt es. Taedium vitae sät er im Herzen des Gläubigen, "Ekel am Leben". Alles erscheint dem von der Acedia Befallenen unsagbar anstrengend, sinnlos und vergeblich, sterbenslangweilig – als wolle der Tag niemals vergehen. Ablenkung sucht er, wo er sie finden kann, Erfüllung jedoch gibt es nirgends. Zweifel bemächtigen sich seiner, am Leben, sogar und erst recht an seinem Glauben.
Dabei verteufelten die Wüstenmönche Müdigkeit keineswegs generell. Das asketische Leben in der Wüste, die Gleichförmigkeit von Umgebung und Tagesablauf, sollte die Gläubigen in einen schwebenden Zustand zwischen Wachsein und Schlaf versetzen, in dem die Sinne gedämpft, Verstandestätigkeit und Aufmerksamkeit für die Außenwelt herabgesetzt waren. Eine solche passive, raum- und zeitenthobene Verfassung strebten die Mönche an, weil sie eine mystische Einheitserfahrung mit Gott ermöglichen sollte.
Poschmann: "Ölkörper harrten in Transitzonen, Brutbecher wiederholten sich, Resignation / ich war tagelang wach mit der Vorstellung eines schwarzen Gartens. Dämmerungsbrocken beobachteten, was ich tat."
Carpe diem! Kants "Nutze den Tag!" ist der Weckruf der Aufklärung. Er vertreibt Götter und Dämonen. Licht soll in die Finsternis gebracht werden, kein Dämmer-, hellstes Tageslicht. Der Mensch übernimmt durch seine Vernunft die Herrschaft über eine Welt, die nicht mehr gottgemacht und unveränderlich, sondern gestaltbar erscheint. Zweifel an der Welt treten an die Stelle des Staunens über sie, Wissen löst den Glauben ab, Handeln das passive Empfangen. Nicht mehr der Mittagsdämon ist für die Müdigkeit verantwortlich, sondern das Subjekt, dass nur handlungswillig sein muss, um wach und ausgeschlafen sein Tagwerk zu vollbringen.
Zitator: "[Oblomow] überkam ein Gefühl stiller Freude, dass er von neun bis drei und von acht bis neun zu Hause auf seinem Diwan liegen konnte, und er war stolz darauf, dass er nicht mit Vorträgen herumlaufen und auch keine Schriftstücke aufsetzen musste, dass Raum blieb für seine Gefühle und seine Phantasie."
Ilja Iljitsch Oblomow ist der berühmteste Müde der Weltliteratur. Kein Weckruf vermag den titelgebenden Anti-Helden des 1859 erschienenen Romans von Iwan Gontscharow in Aktivität zu versetzen. Seine Tage verbringt er auf dem Diwan, eingehüllt in einen anschmiegsamen, verschlissenen Schlafrock. Die Vorhänge sind stets heruntergelassen. Wenn Oblomow nicht schläft, überfällt ihn immer wieder mächtiges Gähnen. Auf ein Ringen mit dem Mittagsdämon lässt er sich gar nicht erst ein, seinem starken Schlafbedürfnis gibt er bereitwillig nach. Ohnehin hält er die Augen gern geschlossen, weswegen die Lider zur Bildung von Gerstenkörnern neigen. Die Müdigkeit hat sich tief in seine Physiognomie eingeschrieben: Die Gesichtszüge sind weich und unbestimmt, die Haut ist fahl, der Körper des erst Anfang Dreißigjährigen aufgeschwemmt und konturenlos, die Hände vom Nichtstun weiß und dicklich.
Zitator: "Seine Bewegungen waren, selbst wenn er aufgeregt war, ebenfalls von zurückhaltender Weichheit und entbehrten nicht einer gewissen Grazie der Trägheit. Zog von der Seele her eine Sorgenwolke über sein Gesicht, so trübte sich sein Blick, die Stirn legte sich in Falten, und es begann ein Wechselspiel von Zweifeln, Kummer und Angst; selten jedoch gerann diese Unruhe zu einer bestimmten Idee und noch seltener nahm sie die Form eines Vorsatzes an. Die ganze Aufregung endete mit einem Seufzer und erstarb in Apathie oder Schläfrigkeit."
Oblomow, Spross einer Familie von Großgrundbesitzern, ist jedoch nicht einfach ein verwöhnter Faulpelz. Er besitzt ein großes, reines Herz und eine tiefe Seele. Für die notleidende Menschheit kann er aufrichtige Tränen vergießen und klug begründete Verachtung für Ungerechtigkeit, Lüge und Bosheit empfinden. Mit der Prosa der Verhältnisse mag und kann er sich nicht abgeben, das Arbeitsleben langweilt ihn ebenso wie die Gesellschaft mit ihren oberflächlichen, leeren Vergnügungen. Eine Welt voller Poesie wünscht er sich, Heimweh hat er nach seiner Kindheit.
Genazino: "Ich hab' dieser Tage an einem Text geschrieben für nen neues Buch, wo ich mich erinnere an Ermüdungen, die ich als Schüler hatte, bis zur völligen Abwesenheit. Also der Lehrer hat da irgendwas erklärt und ich hab zwar nicht geschlafen oder so, aber ich war in einer sehr, wie soll ich sagen, transitorischen Stimmung und ich hab dann aus dem Fenster rausgeguckt, draußen, wo die Vögel vorbeigezischt und dann hat's geregnet und dann ist das Wasser gegen die Scheiben gedonnert und so lang runtergelaufen. Das waren richtige Müdigkeitsbeschäftigungen. Ohne Müdigkeit hat man eigentlich keine Aufmerksamkeit, so was überhaupt interessant zu finden."
Von einem ruhigen, friedlichen Dasein auf dem Familiengut Oblomowka, wie er es als Kind verlebt hat, träumt Ilja Iljitsch Oblomow. Doch die Zeiten haben sich geändert und verlangen von ihm, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Dazu aber ist er nicht in der Lage. Er ist gemäß der Hegelschen Herr-Knecht-Dialektik der unselbständige Adelige, der von seinen Leibeigenen und den sogenannten Freunden abhängig ist. Durch seine Handlungsunfähigkeit verliert er auch seine große Liebe Olga, die ihn schon an die Wirklichkeit seiner schönsten poetischen Träume glauben ließ. Und so beschließt er am Ende sein Dasein in ruhiger, grauer Mittelmäßigkeit, befreit von Handlungszwängen – aber auch von Sehnsucht. Womit sein Lebensideal, bilanziert Gontscharow, nicht gänzlich unerfüllt blieb.
Zitator: "(...) wenn auch ohne die Poesie und jenes Strahlen, in dem ihm seine Phantasie einst den herrschaftlichen, sorglosen Lauf seines Lebens in seinem Heimatdorf inmitten der Bauern und des Hausgesindes ausgemalt hat."
Oblomows einziger wahrer Freund, der nicht-adelige Deutschrusse Stolz ist dagegen das Ideal der aufgeklärten neuen Zeit, ein niemals müder, immer neugieriger, klar denkender und nicht zuletzt erfolgreicher Mann der Tat. Kein Gott, keine Autorität schreiben ihm sein Handeln vor, er ist allein seiner Vernunft verpflichtet. Er will die Welt verstehen und verändern, reist von Land zu Land, macht Geschäfte, fördert Wissenschaft und Fortschritt. Obwohl keineswegs unsensibel hat er für Poesie und Träumereien nicht allzu viel übrig, für ihn zählt allein die Wirklichkeit. Stolz und der gleichgesinnten Olga, die schließlich eine Familie gründen, gehört die Zukunft.
Dennoch zeigt sich eine kleine schwarze Wolke am strahlend blauen Himmel der zukunftsfrohen Gegenwart. Olgas Glück wird von einem merkwürdigen Kummer getrübt.
Zitator: "Olga horchte aufmerksam in sich hinein, um den Dingen auf den Grund zu gehen, aber sie kam nicht dahinter und fand nicht heraus, wonach ihre Seele von Zeit zu Zeit verlangte, was sie suchte, nur dass sie etwas verlangte und suchte und sogar – es war schrecklich, dies zuzugeben – zu trauern schien, als genüge ihr das glückliche Leben nicht, als sei sie es müde und verlange nach neuen, unerhörten Erscheinungen und blicke weit hinaus in die Ferne ..."
Olgas Kummer entspringt dem Dilemma des autonomen Subjekts, das immer weiter will. Von der "Strafe für das Feuer des Prometheus" spricht Stolz. Der Fortschritt kennt kein Ende, ewig ungenügend ist die Gegenwart. In Olgas traurig-müdem Blick in die Ferne drückt sich ihr rastloses, unstillbares Verlangen nach der Zukunft aus – doch vielleicht auch die Sehnsucht nach etwas ganz anderem, das außerhalb der durch die Vernunft gestalteten und gestaltbaren Welt liegt.
Poschmann: "In der 'Hundenovelle' zum Beispiel, da ist die Erzählerin ja auch in einem Zustand der Müdigkeit, sie ist von so einer umfassenden Trägheit ergriffen, sie tut nichts mehr. Also es ist in gewisser Weise auch eine Haltung der Verweigerung gegenüber diesem engagierten Tagesgeschäft, gegenüber diesen Abläufen der Normalität."
Zitator: "Es muss also falsch sein, daß die Ausbildung der einzelnen Kräfte das Opfer ihrer Totalität notwendig macht."
Friedrich Schiller hatte schon Ende des 18. Jahrhunderts, als die Länder Europas sich gerade zu industrialisieren begannen, in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen beklagt, dass der Fortschritt in Wissenschaft und Gesellschaft und die damit zusammenhängende Spezialisierung und Arbeitsteilung zu einer Entfremdung des Menschen sich selbst und der Welt gegenüber führe.
Poschmann: "Und ein bisschen auch so eine trotzige Weltabgewandtheit, die versucht den Fokus auf ganz andere Dinge zu legen, eben innere Zustände, ein bisschen mystische Erfahrung vielleicht. Ja, diese Erzählerin hat vielleicht auch etwas von einer Künstlerfigur, also es ist tatsächlich ein poetischer Zustand, in dem sie sich befindet. Und in diesem Melancholie-Kontext weiß man nie so ganz genau, ist diese träge Verfassung so eine Art Werk des Teufels oder ist es eben die Vorstufe zu einem Zustand der Entrückung."
Müdigkeit wird in der modernen Arbeitswelt des 19. Jahrhunderts zur Bedrohung. Unter dem Namen Neurasthenie avanciert sie zur Massenerkrankung und zum vorrangigen Forschungsgebiet: Erschöpfung, Niedergeschlagenheit, innere Leere, nervöse Unruhe, Willens- und Antriebsschwäche sind die Symptome, die heutzutage als Depression oder Burn-Out diagnostiziert würden.
Der Mensch droht, von seiner eigenen Schöpfung überwältigt, erschöpft und wieder entmachtet zu werden. In der Müdigkeit äußert sich das Leiden an der Welt als Leiden am Ich. Kein Wunder, dass am Horizont der damals einflussreichen Willens- und Machtphilosophien wie der Nietzsches Auflösungs- und Todesvisionen stehen.
Zitator:"'Wahrlich, zum Sterben wurden wir schon zu müde; nun wachen wir noch und leben fort - in Grabkammern!' - Also hörte Zarathustra einen Wahrsager reden; und seine Weissagung ging ihm zu Herzen und verwandelte ihn. Traurig ging er umher und müde; und er wurde denen gleich, von welchen der Wahrsager geredet hatte."
Berühmte Neurastheniker wie Franz Kafka oder Thomas Mann reflektieren in ihren Schriften hellsichtig den erschöpfenden Kampf des modernen Ichs gegen eine rationalisierte, fremd gewordene Welt, leben selbst aber nach einem strengen Arbeitsethos und unterwerfen sich in Sanatorien einem harten Körperregime. In ihrem literarischen Kosmos treten Macht- und Willensmenschen, die sich selbst Gesetz sind: bei Kafka die vom Vater inspirierten unbesiegbaren Autoritäten; bei Thomas Mann Patriarchen wie der Unternehmensgründer Johann Buddenbrook.
Diese Männer aber gehören einer vergangenen Welt an, die noch übersichtlich und beherrschbar war. Thomas Buddenbrook, der von Zweifeln geschwächte Enkel des Firmengründers, versucht zwar voller Vernunft, Pflichtbewusstsein und Selbstdisziplin die komplizierter und abstrakter gewordenen Geschäfte der ererbten Getreidegroßhandlung weiterzuführen, ermattet aber immer mehr.
Zitator: "Manchmal setzte er sich, auf der Höhe der kleinen Terrasse, in den von Weinlaub gänzlich eingehüllten Pavillon und blickte, ohne etwas zu sehen, über den Garten hin auf die rote Rückwand seines Hauses. Die Luft war warm und süß, und es war, als ob die friedlichen Geräusche ringsumher ihm besänftigend zusprächen und ihn einzulullen trachteten. Müde vom Ins-Leere-Starren, von Einsamkeit und Schweigen, schloss er dann und wann die Augen, um sich alsbald wieder aufzuraffen und hastig den Frieden von sich zu scheuchen. Ich muss denken, sagte er beinahe laut ... Ich muss alles ordnen, ehe es zu spät ist ..."
Und am Ende erlebt Thomas Buddenbrook – vom Alter noch weit entfernt – im Tod die Schopenhauersche Befreiung vom Willen zum Leben und die Erlösung vom quälenden Ich.
Poschmann: "Ich lag in der Kiefernschonung und dachte in Blättern, folioser Wahn, ich dachte in Wuchsformen alter Meister, dachte in Waldlabyrinthen, die blind an der Rinde endeten."
Die von der Vernunft hervorgebrachte Welt lässt keine Totalitätserfahrung mehr zu. Bereits Schiller sah in der Moderne, die die Religion als Sinnstiftungsmacht abgesetzt hatte, die vornehmliche Aufgabe der Kunst darin, die Kluft zwischen Ich und Welt zu schließen und dem Menschen eine Erfahrung unentfremdeten Daseins zu ermöglichen. Die Romantiker aber wollten die ästhetische Erfahrung nicht auf die Kunst beschränken und forderten die Poetisierung der Wirklichkeit. Dem Ich schrieben sie gottgleiche Schöpfungsmacht zu, mit der es die Welt, seiner Sehnsucht folgend, poetisiert, was wörtlich "erschafft" heißt. Das eigentliche Sein sahen sie auf der Nachtseite der Vernunft. Im Schlaf und Traum erst wurde Erkenntnis möglich. So deklamiert Novalis in den Hymnen an die Nacht:
Zitator:"Muss immer der Morgen wiederkommen? Endet nie des Irdischen Gewalt? Unselige Geschäftigkeit verzehrt den himmlischen Anflug der Nacht. (...) Zugemessen ward dem Lichte seine Zeit; aber zeitlos und raumlos ist der Nacht Herrschaft. - Ewig ist die Dauer des Schlafs. Heiliger Schlaf – beglücke zu selten nicht der Nacht Geweihte in diesem irdischen Tagewerk."
Doch merkten die Romantiker schließlich selbst, dass ihr radikaler Subjektivismus und das Verschließen der Augen vor der Außenwelt das Ich allmählich entleert. Nicht Nacht, Schlaf und Traum ermöglichen eine ästhetische Erfahrung, erkennt die Nachromantik. Vielmehr bergen die Schwellenzustände Dämmerung, Müdigkeit und Tagtraum mit halboffenen, die Objektwelt noch wahrnehmenden Augen das Potenzial, Innen und Außen in Verbindung miteinander treten zu lassen.
Poschmann: "Im Grunde geht es um einen Zustand der Gleichzeitigkeit, also natürlich nimmt man mit offenen Augen wahr, aber man nimmt auch mit geschlossenen Augen wahr, und das passiert im Grunde simultan."
Genazino: "Ja, wenn's klappt, dann darf das ruhig mystisch werden. Also auch merkwürdige Überschneidungen verschiedener Bewusstseinslagen und Abwesenheiten. Es dürfen Erinnerungen an größere Abwesenheiten überhand nehmen."
Zitator:"Nichts dehnt so lang wie die lahmen Tage, wenn unter schweren Flocken schneeverhangener Jahre die Langeweile, Ausgeburt der dumpfen Teilnahmslosigkeit, das Ausmaß der Unsterblichkeit gewinnt",
dichtet Charles Baudelaire in Die Blumen des Bösen. Sein lyrisches Ich ist "keuchend und erschöpft vor Müdigkeit". Es beschwört die "Harmonie des Abends", Komplizen sind ihm die "Abenddämmerung" und der "bedeckte Himmel". Baudelaire ist der Dichter des spleen und ennui. Mit Überdruss und Langeweile, die aus seiner restlosen Ablehnung der bürgerlichen Welt resultieren, flaniert er durch Paris, das sich Mitte des 19. Jahrhunderts gerade in eine moderne Großstadt verwandelt. Baudelaire flüchtet in kein Innerlichkeitsrefugium, sondern begibt sich hinaus auf die großen Boulevards. Teilnahmslos lässt er sich treiben, gleichgültig, ohne Ziel, Erwartung und Wertung. Überall schaut er hin mit müdem Blick. Und schafft sodann aus dem geöffneten, entgrenzten Bewusstseinsraum, aus Wahrnehmungen, Erinnerungen, Träumen und Fantasien, eine poetische Gegenwelt, in der Innen und Außen zusammenstimmen. Correspondances, "Entsprechungen", heißt programmatisch ein Gedicht aus den Blumen des Bösen.
Zitator: "Die Natur ist ein Tempel, wo aus lebendigen Pfeilern zuweilen / wirre Worte dringen; der Mensch geht dort durch Wälder von / Symbolen, die mit vertrauten Blicken ihn beobachten.
Wie langer Hall und Widerhall, die fern vernommen in eine / finstere und tiefe Einheit schmelzen, weit wie die Nacht und wie / die Helle, antworten die Düfte, Farben und Töne einander."
"Weltinnenraum" nennt Rainer Maria Rilke – auch er ein großer Neurastheniker – die in der Dichtung zu einer Ganzheit verschmolzene Innen- und Außenwelt. Doch solche "Weltinnenraum"-Poesie entsteht nicht absichtsvoll, sie ist unvorhersehbar und unwillkürlich wie das Madeleine-Erlebnis des bettlägrigen Marcel Proust, das ihn die verlorene Zeit wiederfinden lässt.
Zitator: "Ich weiß kein Rezept, auch mir selber nicht. Ich weiß bloß: Solche Müdigkeiten sind nicht zu planen; können nicht im Voraus Ziel sein. Aber ich weiß auch, dass sie nie grundlos eintreffen, sondern immer nach einer Beschwernis, im Übergang, in einer Überwindung."
Peter Handke erweitert in seinem Versuch über die Müdigkeit die Müdigkeitspoetik zur Wahrnehmungslehre. In dem Essay von 1989 erinnert er sich, wie er einmal nachmittags nach einem langen Flug übernächtigt in New York auf einer Caféterrasse am Central Park saß. Er kämpfte nicht gegen seine Müdigkeit an, sondern überließ sich ihr, "nur noch sitzen und schauen", schreibt er, mit gelöstem, "klaräugigem", selbstlosem Blick und "langsamem Lidschlag". Und dann vervollständigt sich im Blick dieses Müden, in seinem Augenblick,die Welt zu einem wohl gegliederten und rhythmisierten Ganzen, in dem die Menschen und Dinge zu Recht und Geltung kommen, komplett, sinnfällig, wahr.
"Einend", "weltvertrauend" und "utopisch" nennt Handke diese Müdigkeit, die eine gänzlich im Alltag begründete ästhetische Erfahrung ermöglicht.
Und setzt sie ab gegen die allseits vertraute hässliche Müdigkeit, die den Menschen fremd und einsam macht, getrennt und abgestoßen von seiner Umgebung.
Genazino: "Diese Unlust und auch diese Erregtheit, das ist natürlich ein störendes Moment, also man möchte in aller Ruhe seine Müdigkeit aushalten. Das muss unter allen Umständen eingehalten werden, dass sozusagen die Müdigkeit total integriert erscheint, nicht. Dann ist sie verhüllt und darf privat und individuell ausgenutzt werden zu was auch immer."
Wilhelm Genazino hat den poetischen Ton der meisten literarischen Müdigkeitsapologeten gegen melancholische Komik eingetauscht. Doch auch die mittelmäßigen, in ihrer Sehnsucht unverbesserlichen Helden seiner Romane nutzen ihre Müdigkeit, um den Riss zwischen Ich und Welt zu schließen. In ihrem "Dauer-Tagtraum" geraten ihnen die Merkwürdigkeiten des Alltags in den Blick, und in deren Betrachtung treten durch einen "poetischen Zufall", wie es Genazino in seinen Bamberger Vorlesungen nennt, Innen und Außen zueinander und ermöglichen selbst in einer gänzlich banalen, formatierten Massengesellschaft eine individuelle Erfahrung.
Zitator: "Die Details, die [der Erzähler] beobachtet, sind nicht bloß äußerliche Daten. Der Erzähler setzt das Beobachtete häufig in eine persönliche Beziehung zu seiner Biografie. Außen- und Innenperspektive gehen fast immer nahtlos ineinander über. Man kann auch sagen: Die im Inneren der Figuren eingelagerte Biografie wird durch Zufuhr von Außenreizen lebendig und operationalisierbar. Auf diese Weise wird der Tagtraum zu einer Überlebens- und Alltagstechnik, die ich selbst mit meinen Protagonisten teile."
Poschmann: "Ja, es ist schon ein Zustand, der nah am Schlaf ist. Also kurz vor dem Einschlafen steigen ja auch Bilder auf aus dem Unbewussten oder woher auch immer. Und so einen ähnlichen Zustand versuche ich beim Schreiben auch zu erreichen, das Bewusstsein so weit aufzuweichen, bis es dann durchlässig wird, bis sich dann der Innenraum und der Außenraum vermischen."
Diesen Zustand erlangt am Ende auch der Erzähler in der Sonnenposition. Über die Identifikation mit dem toten Freund während des Trauerprozesses ist er mit der Nachtseite in Kontakt getreten. Er steht nun im Grauen, auf der Schwelle zwischen Licht und Schatten, Leben und Tod. Tertium datur.
Und so dichtet Marion Poschmann in den beiden letzten ihrer 7 Fragmente:
Poschmann: "... hatte ich nicht bei akribischen Zweigvergleichen Einschlafhilfe gesucht, hatte ich nicht die einzige Einschlafhilfe, die Liebe lange verlassen / Hypnum, Schlafmoos, hynotisches Moos, ich war vollgesogen mit Visionen, ein Kissen auf welches der Wald sich bettete."