Zehn Minuten nach Mitternacht war es so weit, der Dramatiker des Jahres stand fest. Tilman Raabke, der Moderator der Jurydiskussion, verkündete: Wolfram Höll ist Dramatiker des Jahres 2014.
Am Ende war es spannend geworden: Es gab ein Patt. Von der fünfköpfigen Jury stimmten zwei für Wolfram Höll und sein Stück "Und dann", zwei votierten für René Pollesch und seine rasante Farce "Gasoline Bill". Die Theaterkritikerin Christine Wahl musste sich entscheiden, sie gab, als sie sich für Höll und sein Stück um den Verlust der Mutter aus der Sicht eines sechsjährigen Jungen, für "Und dann" entschied, den Ausschlag:
"Ich finde, es ist ungewöhnlich, die Perspektive eines Kindes zu wählen. Diese Perspektive erlaubt, von Gewissheiten wegzugehen, die wir glauben von der Welt zu haben. Das finde ich ein beispielhaftes Vorgehen für die Darstellung von Erinnern."
"Und dann" spielt in der DDR. Eine Familie verliert die Mutter – das Schauspiel schildert die Tragödie aus der Sicht des sechsjährigen Sohnes. Vieles ist ihm unklar – die Zuschauer müssen sich aus den Mosaiksteinen seiner Mitteilungen selbst ein Bild zusammensetzen. Ist die Mutter gestorben, ist sie geflohen? Was kann der Grund für die maßlose Trauer des Vaters sein?
In diesem Jahr hatte ein Auswahlgremium aus 99 gesichteten Uraufführungen sieben nach Mülheim eingeladen, unter ihnen namhafte Theaterleute wie René Pollesch und Helgard Haug & Daniel Wetzel, bekannter unter dem Namen ihres Künstlerkollektivs Rimini Protokoll.
Rimini Protokoll ist immer auf der Suche nach besonders realitätshaltigem Theater. Sie haben mit Maria-Cristina Hallwachs ein Stück über ihren Fall erarbeitet: Die Frau in ihren besten Jahren ist nach einem fatalen Badeunfall als junges Mädchen querschnittsgelähmt, an den Rollstuhl gefesselt - und tritt selbst auf. Der Mensch, um den es geht, präsentiert sich selbst. Ist das noch Theater?
Die Debatten in Mülheim waren lebhaft. - René Pollesch, nicht nur Dramatiker, sondern auch Regisseur seines neuen Stücks "Gasoline Bill" (eine Produktion der Münchner Kammerspiele), beschreibt und beklagt die Wiederkehr des Immergleichen. Pollesch ist enorm produktiv, jedes Jahr erarbeitet er mit seinen Schauspielern vier, manchmal sogar fünf Stücke – „Gasoline Bill“ gehört zu den besten, nicht zuletzt wegen seiner Mischung aus Heiterkeit und Ernst und dem gesellschaftskritischen Grundgestus.
Philipp Löhle prangert in "Du Klammer auf (Normen) Klammer zu", eine Produktion des Nationaltheaters Mannheim, unsere Gesellschaft an. Sie würde schranken- und verantwortungslosen Egoismus sogar noch fördern, indem sie ihn belohnt.
Rebekka Kricheldorf weist humorvoll und mit scharf geschliffenen Dialogen die inneren Widersprüche unseres Optimierungswahns nach, ihre Komödie heißt"Alltag & Ekstatse" und kam am Deutschen Theater in Berlin heraus. Das Oldenburgische Staatstheater präsentierte Laura de Wecks "Archiv des Unvollständigen", eine Collage über Klippen der Kommunikation und die Sprache als Verhinderung menschlicher Verständigung.
Neben Höll hat ein zweiter Debutant es im ersten Anlauf, nach Mülheim geschafft: Ferdinand Schmalz aus Österreich (ein Pseudonym für Matthias Schweiger) hat ein Volksstück mit absurd-farcenhaftem Einschlag geschrieben: "am beispiel der butter“, eine Produktion vom Schauspiel Leipzig.
Gerade "am beispiel der butter" war besonders umstritten – einige Beobachter und Zuschauer meinten, die Farce hätte nicht das Format für Mülheim. Andere, bessere Stücke, hätten zurückstehen müssen, zum Beispiel Oliver Bukowskis "Ich habe Bryan Adams geschreddert". Das Auswahlgremium und die Jury stehen immer wieder unter Verdacht, sie wollten vor allem den Nachwuchs fördern – aber, so das Gegenargument: Der Mülheimer Dramatikerpreis sei keine Nachwuchsförderung, er solle den besten Dramatiker auszeichnen. Die Entscheidung für Wolfram Höll, Jahrgang 1986, hat dieser immer wieder aufflammenden Debatte neue Nahrung gegeben.
Wolfram Höll , Dramatiker des Jahres
Wolfram Höll ist Dramatiker des Jahres. Die Mülheimer Theatertage zeichnen jedes Jahr eine Dramatikerin oder einen Dramatiker aus, der als bester dieser Spielzeit gilt. Peter Handke wurde zum Dramatiker des Jahres gewählt, Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek und Heiner Müller – alte Meister ihres Fachs.
Wolfram Höll hingegen ist das genaue Gegenteil, der junge Schriftsteller ist als Dramatiker Debutant – und dann gleich Dramatiker des Jahres? Eine Überraschung, eine ungewöhnliche Entscheidung. Höll wurde 1986 in Leipzig geboren. Er studierte Literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut Biel und Theater an der Hochschule der Künste Bern. Er ist freier Autor und arbeitet als Hörspielregisseur und –dramaturg beim Schweizer Radio und Fernsehen SRF. Höll lebt in Biel, sein Schauspiel „Und dann“ wird vom renommierten Suhrkamp Theaterverlag betreut.
"Und dann" wurde vom Schauspiel Leipzig am 4. Oktober 2013 uraufgeführt, Regie führte Claudia Bauer. 2012 erhielt Höll den Nachwuchspreis des Freundeskreises des Theaters Heidelberg und 2012 wurde sein "Theatertext als Hörspiel" beim Stückemarkt des Berliner Theatertreffens in Kooperation mit Deutschlandradio Kultur als bester ausgezeichnet. Ein Jahr später bekam er den Literaturpreis des Kantons Bern.
"Und dann" ist ein vielschichtiger Text: Er erzählt auf der Oberfläche eine alltägliche, tragische Geschichte, in tieferen Schichten analysiert das Schauspiel die Differenz zwischen kindlichem (naivem) und erwachsenem (analytischem) Bewusstsein. Höll stammt aus Leipzig, sein Stück ist in der DDR angesiedelt – es wirkt authentisch. Die Dialoge sind fein geschliffen, der Text ist notiert wie eine Komposition.
Videoporträts aller DramatikerInnen, die in diesem Jahr zu den Mülheimer Theatertagen eingeladen waren, finden Sie im Internet –
hier.