Wiederbelebung einer Gartenstadt
Die "Münchner Mischung" soll beibehalten werden: In Freiham ensteht ein neues Stadtviertel - mit Reihenhäusern und Sozialwohnungen. Die Architekten möchten vermeiden, dass am Westrand der City ein Wohn- und Schlafghetto entsteht - auf dem Reißbrett sieht alles gut aus.
Ein Gemüseacker, umringt von Heuballen – das ist Münchens erster Freiluft-Supermarkt. Er steht in München-Freiham und ist rund um die Uhr geöffnet.
Julia Bleicher: "Man kann immer vorbeikommen und ernten, natürlich auch arbeiten. Das Erntewerkzeug ist dort. Man nimmt sich einfach, was reif ist. Und gibt dann den Betrag, den man für richtig hält, als Spende in die Box. Und wir sind immer mittwochs und donnerstags hier draußen."
Wir, das sind Julia Binder und ihr Kollege Florian Otto vom Architekturbüro Bauchplan.
Florian Otto: "Es geht darum, den Stadtteil, der hier für 20.000 Einwohner entsteht, zu prägen. Ihm eine Identität zu geben. Ein Bewusstsein der Münchner, dass es diesen Stadtteil überhaupt gibt. Und dass er positiv mit Nahrungsmitteln verbunden wird."
Wohin mit den Neubürgern?
Denn die Stadt München fürchtet – nicht zu Unrecht – dass der neu entstehende Mega-Stadtteil Freiham das Image einer Trabantenstadt bekommt. Und das, bevor er überhaupt fertig gebaut ist. Münchens Stadtbaurätin Elisabeth Merk verkauft Freiham unermüdlich als grüne Lunge vor den Toren der City.
Elisabeth Merk: "Die Gartenstadt des 21.Jahrhunderts. Wohnen für ganz viele unterschiedliche Menschen. Unterschiedliche Nachbarschaften. Und ich freu‘ mich auf die neuen Bürger in Freiham."
Die werden allerdings erst in einigen Jahren einziehen. Noch blickt Steffen Kärcher vom Münchner Referat für Stadtplanung auf eine riesige Brachfläche.
Steffen Kärcher: "25 Fußballfelder in die eine Richtung und zehn in die andere Richtung. Freiham ist ja mit 20.000 Einwohnern durchaus ein veritables Städtchen in Oberbayern."
Ein noch zu werdendes Städtchen, bislang steht nur das Gewerbegebiet Freiham. Die Zeit drängt, alles soll schnell fertig werden. Denn München weiß nicht, wohin mit all‘ den Neubürgern und den Flüchtlingen. Deshalb ist in Freiham alles groß angelegt.
Kärcher: "… insbesondere mit drei Hochpunkten mit 16, 14 und neun Geschossen."
Auch die Straßen sind groß. Bagger planieren sie gerade.
Kärcher: "Hier sieht man die Aubinger Allee, die Richtung freie Landschaft läuft und beiderseits die Wohngebiete erschließt. Das Herz von Freiham ist der Wohnungsbau, wir planen Wohnstraßen, baumbestanden, mit Vorgärten vor den Gebäuden."
Sieht gut aus auf dem Reißbrett
Auf dem Reißbrett sieht das alles gut aus. Die Stadt München will unbedingt vermeiden, dass am Westrand der City ein Wohn- und Schlafghetto entsteht. Deshalb setzt die Stadt vor allem auf Genossenschafts-Modelle. Ein Teil der Fläche ist für Reihenhäuser reserviert, die nicht von städtischen Bauträgern oder privaten Investoren hochgezogen werden, sondern von ganz normalen Münchner Bürgern.
Das soll die Einwohner-Struktur von Freiham ebenso prägen wie die sogenannte "Münchner Mischung". So nennt die Stadt das unmittelbare Nebeneinander von Eigentumswohnungen, Mietern und sozialem Wohnungsbau. Dazu kommen Supermärkte, Kinderkrippen und mehr, verspricht Stadtbaurätin Merk.
Elisabeth Merk: "Wir haben in Freiham ein tolles Zentrum, das wir entwicklen können. Mit Nahversorgung, Einkaufsmöglichkeiten. Aber eben auch einem Schulcampus. Mit übergeordneter sozialer Infrastruktur."
Kann das funktionieren? Stadtplaner wie Christoph Elsässer vom Planungsbüro "West 8" sagen: "Wir haben trotz allem nur bedingt Einfluss auf die Entwicklung von Freiham".
Christoph Elsässer: "Man braucht viel Geduld. Es ist unglaublich schwer abzuschätzen für Planer und Investoren, wie attraktiv ein Ort sein wird und sein kann. Das ist nicht nur die Menge der Menschen, die irgendwo wohnt. Es ist die Art der Menschen, die Leute, die da hinziehen: haben die überhaupt Interesse daran? Wollen die da bleiben, verweilen, einkaufen? Sich wohlfühlen? Oder sind das Menschen, die eigentlich nur einen Schlafplatz brauchen und im Zentrum arbeiten gehen? Das lässt sich nicht beeinflussen."
Neubauten fehlt die Patina
Beeinflussen lässt sich die Architektur – aber auch die nur in Grenzen. Thomas Sieverts, emeritierter Professor für Städtebau, erinnert an die riesigen Sozialsiedlungen der 70er-Jahre, an denen er mitgeplant hat. Und die er heute selbstkritisch betrachtet.
Thomas Sieverts: "Die Kritik kommt durch die Erfahrung, die wir mit diesen Großsiedlungen gemacht haben. Die wir alle in dieser Schärfe damals nicht vorausgesehen haben. Es geht um das Phänomen – über das ich mein Lebtag nachdenke – dass Sie eigentlich keine städtebaulichen Räume bilden. Sondern diese Strukturen sind Stadt-Landschaften. Die Freiflächen zwischen den einzelnen Zeilenbauten – es gibt meistens keine geschlossenen Blöcke – bieten keine überzeugenden städtebaulichen Räume."
Ein Grund dafür: die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Das bedeutet: die neuen Stadtteile – auch Freiham – können sich nicht langsam entwickeln. Sie entstehen auf einen Schlag. Gewachsene Städte prägt das Nebeneinander von Alt und Neu, schön und hässlich, nutzlos und praktisch. Neubaugebiete sind aus einem Guss. Ihnen fehlt Patina. Entwickelt sich die irgendwann einmal? Florian Otto hofft darauf. Der Architekt des Freiluft-Supermarktes glaubt, dass sich der grüne Gedanke seines Gemüsegartens bald im ganzen Stadtteil Freiham wiederfindet…
Florian Otto: "… in den öffentlichen Grünfreiräumen, auf Dächern, Terrassen, Fassaden. Wo auch immer. Dass die Leute gelernt haben, dass Freiham ein etwas anderer Stadtteil ist als alle anderen."
Schön wär’s. Die ersten Bewohner sollen 2018 in Freiham einziehen.