Wohnen nach dem Vorbild Peter Lustigs
18 Erwachsene und sechs Kinder leben in einem alternativen Wohnprojekt in München gemeinsam in ausgebauten Bau- und Wohnwagen. Vorbild war unter anderem Peter Lustig vom ZDF-Kinderfernsehen.
Werkzeuggeräusche sind zu hören, irgendwas wird abgeschliffen. OLGA steht rechts oben auf einer blauen Holztafel am Eingang – und links unten der Hinweis, dass jeden Donnerstag ab 20 Uhr das Platzcafé geöffnet hat, mit Lesungen, Vorträgen, Konzerten und Filmvorführungen. Die Veranstaltungen funktionieren auf Spendenbasis.
Gleich neben dem Hinweisschild hat der sogenannte "Umsonstladen" einen Platz gefunden. Mit seinen drei geschlossenen Seiten und der offenen Vorderfront sowie dem leicht schrägen Dach erinnert er an eine Bushaltestelle, aber in dem mit Plastikfolie bespannten Holzgestell stehen ein Schrank und ein Regal.
"Was ist ein Umsonstladen?" wurde auf eine Schranktüre gepinselt.
Antwort: "die Idee ist: nicht so viel neu kaufen und nicht so viel wegwerfen. Nimm mit, was du brauchen kannst. Leg rein, was du geben willst. Bitte selber einsortieren!"
Der "Umsonstladen" ist ein Experiment für das Münchner Schlachthofviertel. Er steht in der Tumblingerstraße 62. Das Experiment funktioniert. Über die Monate, die ich an ihm vorbeigehe, ist er immer ordentlich und sauber. Bücher gibt es hier, Schlittschuhe, einen Drachen, CDs, eine Handtasche – und Wochen später einen Autokindersitz, einen Sonnenschirm und immer noch viele Bücher.
Der Blick aus dem Fenster ist immer wieder neu
Unterhalten wird der "Umsonstladen" vom "Stattpark OLGA", einem alternativen Wohnprojekt von 18 Erwachsenen und sechs Kindern, die gemeinsam eine Freifläche von der Stadt München gemietet haben, um ihre mobilen Behausungen darauf zu stellen und hier zu leben: Es gibt gemütlich eingerichtete Bauwagen und ausgebaute LKWs, umgestaltete Transporter, Wohnmobile oder Campingwägen – eben alles, was sich bewegen lässt.
Hinter der Abkürzung OLGA versteckt sich der Spruch: Ohne Lenkrad geht’s auch. Für immer fest an einem Ort zu bleiben, gehört nicht zum Konzept der Leute von OLGA.
"Wir sind schon öfter umgezogen – und was lustig ist: Ich wohne jetzt seit zwölf Jahren in diesem Wagen, und bei jedem Umzug ist das Wohnzimmerfenster gleich, aber der Blick nach draußen ist ein anderer. Ich hocke dann auf meinem gewohnten Platz, aber – Wahnsinn! - der Blick ist ganz neu."
Martin und Sarah Lidl sind schon seit ein paar Jahren dabei:
"Wir sind ein Jahr, bevor wir den ersten festen Ort hatten, zur Kerngruppe gestoßen, und haben überlegt, wie wir eben zu einem Platz kommen. Wir leben jetzt als Familie hier, jeder hat seinen Wagen, das hier ist der Wagen, wo gekocht und gegessen wird."
"Ich find's Umziehen auch schön, weil's immer wieder frischen Wind in die Gruppe bringt. Man hat dann meist innerhalb unserer Gruppe auch ganz andere Nachbarn, da passiert schon immer eine Menge dann."
"Bitte respektiert unsere Privatsphäre!"
Ein Rundgang über den Platz, der eingezäunt ist – auch der sechs Hühner wegen, die hier gackernd herumlaufen. Das Eisentor am Eingang ist geschlossen und ein Schild macht deutlich: "Bitte respektiert unsere Privatsphäre!" Aber eine Klingel ist angebracht – und wer Lust hat, kann läuten und sich herumführen lassen, sofern jemand vom "Stattpark" Zeit hat.
Auf die öffentlichen Veranstaltungs-Termine im Platzcafé wird auf der gemeinsamen Website olga089.blogsport.de hingewiesen. Der Weg zum Platzcafé führt vorbei an einer Menge Gerümpel – als solches würden es die meisten Besucher wohl bezeichnen. Aber hier wird alles gebraucht. Alles hat einen Sinn. Die vielen Fahrräder etwa gehören nicht nur den OLGA-Bewohnern, sondern werden gesammelt, um sie Flüchtlingen zur Verfügung zu stellen.
Ab und zu gibt es auf dem Platz "Radschrauben mit und für Refugees". Es geht vorbei an Kinderspielzeug, Wassertanks, Solarpaneelen, Gasflaschen, Brennholz, einer Schubkarre, Europaletten, einer Kinderschaukel, Blumenkästen, Gartengeräten, Werkzeug, den Dixi-Klos für Besucher und Gäste, alten Metallfässern, Barbecue-Grills und einem an eine Pflanzeninsel angelehnten Motorrad.
"Ich habe hier in München gestanden mit meinem Wagen – und habe von Leuten gehört, die einen offiziellen Wagenplatz gründen wollten. Und da wollte ich ein Teil von sein. Das war 2011. Es gab verschiedene Vorstufen, und dann haben wir unseren ersten Platz bekommen, in der Aschauerstraße. Hier, das ist jetzt der Zweite."
"Ich fand Peter Lustig schon als Kind klasse"
Rechts auf dem Platz steht die Werkstatt von Christian Drossbach, ein weißer Container, in dem der Möbel-Schreiner vor allem formverleimte Stühle und Holz-Liegen baut. Er ist von Anfang an bei OLGA dabei:
"Bei mir war es so, dass ich nicht viel Geld hatte für meine Ausbildung, und ich wollte nicht alles für die Miete ausgeben. Ich fand Peter Lustig schon als Kind klasse, und wollte auch mal in einem Bauwagen leben. Das Tolle ist hier, dass man immer eine große Familie um sich herum hat, die einem hilft. Man wird offen für andere Sichtweisen, etwa vegetarische Ernährung. Das ist dann nicht zwingend, aber man kommt eben mit Leuten in Kontakt, die anders leben als man selbst. Man bleibt so sehr flexibel, das ist was Tolles. Auch die Kinder hier sind ungemein offen für Neues. Ich kann mir durchaus vorstellen, mein gesamtes Leben auf so einem Platz zu verbringen. Meine Freundin und ich können uns das auch mit Kindern vorstellen. Ich arbeite hier als Schreinermeister – und habe einen Wagen, den man zusätzlich ausklappen kann. Ich habe so den größten hier auf dem Platz."
Die erwähnte Freundin des Schreiners heißt Franziska Vogl und ist Grafikerin. Ihr Wagen steht hinten direkt an den Bahngleisen, die entlang dem Schlachthof-Gelände den Ostbahnhof und den Münchner Hauptbahnhof verbinden. Der Blick aus den Fenstern reicht weit über das Rangiergelände am ehemaligen Südbahnhof.
"Ich hatte mal ein Gespräch mit einem grünen Bürgermeister – und der meinte in Bezug auf Wagenplätze: Ihr müsst euren Mehrwert für die Stadt deutlich machen! Und das haben wir jetzt mal aufgeschrieben. Das war gar nicht so schlecht, weil – wenn man in sowas täglich drinsteckt – vergisst man das ein wenig."
Der Mehrwert eines alternativen Wohnprojektes wie des "Stattpark OLGA" besteht vor allem in der politischen, sozialen und kulturellen Arbeit der Gemeinschaft. Man engagiert sich für Menschenrechte, beschäftigt sich aktiv mit Minderheiten und versucht durch Veranstaltungen, die Nachbarschaft zu aktivieren.
"Ich habe jetzt viel mehr soziale Kontakte"
An die ziemlich laut vorbeifahrenden Züge habe sie sich erst gewöhnen müssen, sagt Franziska Vogl, man schlafe einfach unruhig. Aber der Umzug auf einen neuen Platz im Sommer 2016 werde das Problem vermutlich lösen. In der Tumblingerstraße im Schlachthofviertel konnten die Leute vom "Stattpark" nicht lange bleiben, von Anfang an war klar, dass die Stadt München bauen würde, nämlich eine neue Berufsschule. Rund anderthalb Jahre war OLGA hier – genug Zeit, um sich einzurichten, verschiedene Beete sowie einen Kinderspielplatz zu gestalten, und das Platzcafé zu bauen, einen geräumig gemütlichen Bretter-Glasbau mit großen Fensterflächen, zwei Sofas und Öfen sowie einer Bar samt Theke.
"Mein Leben hat sich, seit ich hier wohne, stark verändert – ich habe jetzt viel mehr soziale Kontakte. Wenn ich Lust auf Menschen habe, muss ich hier nur vor meinen Wagen treten. Man nimmt durch die Gruppe einfach an vielen Dingen teil, etwa auch im politischen Bereich. Es passiert einfach viel, und alle sind mit dabei. Jeder hat seine eigenen Bereiche, in denen er sich gut auskennt – man hat also einen großen Input von den Anderen, lernt vieles, was man vorher nicht kannte."
Franziska Vogl führt mich über das Gelände, stellt mich den einzelnen Bewohnern vor und zeigt mir, wo sich was befindet.
"Hier rechts ist die Werkstatt von Peter, das ist unser ältester Mitbewohner. Der ist unser Elektriker hier auf dem Platz, der kümmert sich darum, dass mit dem Strom alles funktioniert. Die meisten von uns sind mit Solarpaneelen auf dem Dach aber autark. In Deutschland gibt es in allen großen und mittleren Städten einen Wagenplatz, etwa auch in Augsburg. Wir stehen alle untereinander in Kontakt und besuchen uns auch gegenseitig. Wir sind vernetzt und helfen uns gegenseitig, etwa wenn ein Platz Probleme hat. Dann werden oft Wagentage veranstaltet, wo man den Leuten in einer Stadt konkret helfen kann. So gibt es auch ein gemeinsames Krötenkonto, wo jeder Wagenplatz einzahlt. Und wenn bei einem was beschlagnahmt wird, geht dafür die Kohle raus. Hier, das ist unser Hühnerstall, fünf Leute bei uns haben eine Hühner-AG und kümmern sich um die Hühner. Das ist der Veranstaltungsbereich – unser Gemeinschaftswagen und angrenzend der Glasbau, wo wir unsere Konzerte und Veranstaltungen machen."
Holz hacken, einheizen, Wasser holen
Die Bewohner des "Stattpark OLGA" haben immer viel zu tun – Holz hacken, einheizen, Wasser holen sind tägliche Verrichtungen. Das hält fit, und stärkt den Zusammenhalt, weil es ständig Sinn macht, sich gegenseitig zu helfen. Keiner hier hat einen Fernseher, dafür mancher einen kleinen Garten. Jeder sieht es als Vorteil, dass er beruflich weniger arbeiten muss, weil das Leben im Wagenpark günstig ist – und die Kosten nicht so hoch sind wie in einer Mietwohnung.
Im Bauwagen hat man zwar etwas weniger Platz, dafür ist man sofort draußen – wie der Musiker sowie Ton- und Veranstaltungstechniker Peter Lübke, der seit 15 Jahren so lebt. Sein Wagen steht wie der von Franziska Vogl nahe an den Bahngleisen. Er sitzt auf der mittleren der drei Holzstufen vor seinem Windfang bzw. einem kleinen Wintergarten und blickt in den Himmel, der heute in der Dämmerung wundersam leuchtet, wie man das sonst nur in südlicheren Gefilden beobachten kann.
"Ja, hier – das ist mein Traumplatz für die Abendstimmung. Drinnen und draußen haben hier keine Grenze. Der Wagen ist für mich wie eine zweite Haut. Und mit den an-deren Bewohnern ist hier alles in einem ganz organischen, flüssigen Austausch."
Im Januar 2016 stellte die Stadt München in der Rathausgalerie die Konzept-Studie "Freiraum München 2030" vor, die vom Referat für Stadtplanung und Bauordnung in Auftrag gegeben wurde. Es geht um die Zukunft. Um eine neue Balance zwischen Wohnraum und Freiflächen. Um den richtigen urbanen Mix. Auch Initiativen zum Urban Gardening und zu gemeinschaftlich genutzten Orten der Kunst werden in "Freiraum München 2030" berücksichtigt. Die prinzipielle Frage ist: Auf welche Weise kann man in einer dicht besiedelten Metropole überhaupt neue Freiräume schaffen beziehungsweise bestehende erhalten?
In einer Ausstellung wurden diese Überlegungen zusammengefasst – unter dem Motto "Zukunft findet Stadt". Zwar wurde ein einzelnes Wohnprojekt wie der "Stattpark" nicht vorgestellt, aber es gehe durchaus um vergleichbare Ideen, meint die Münchner Stadtbaurätin Elisabeth Merk:
"Die Ausstellung bildet ja nicht die gesamte Studie ab. Es gibt viele Aspekte der Freiraumnutzung. Die Ausstellung ist ja in diesem Jahr ein Auftakt, mit der Öffentlichkeit über diese Dinge zu diskutieren. Wir haben schon Sorge, einzelne Dinge zu sehr her-auszuheben. Es hätten viele gerne so eine Fläche von der Stadt, wo sie machen können, was sie dürfen. Ich finde dieses OLGA-Modell persönlich schon interessant, aber man muss auch sehen: Das wird immer eine ganz kleine Randgruppe sein. Bei uns steht vorne das genossenschaftliche Wohnen, weil – da können wir als Stadt gute städtebauliche Verträge schließen. Genossenschaften sind auch über lange Zeiträume belastbare Vertragspartner. Also, da steckt schon mehr Musik drin. Aber das ist ein kleines Segment."
"Man gewinnt viel mehr, als man verliert"
Einmal die Woche treffen sich die Bewohner des "Stattparks OLGA" zu ihrem Plenum – und diskutieren über gemeinsame Veranstaltungen, alltägliche Probleme, aber auch über die spezielle Vorgehensweise im Umgang mit der Stadt München, wenn es darum geht, einen Wagenplatz als soziokulturelles Wohn- und Arbeitsprojekt dauerhaft zu etablieren. Ziel ist es eben auch, die gesamte Nachbarschaft des Viertels miteinzubeziehen, vor allem durch die öffentlichen Veranstaltungen.
Eine Führung im Münchner Architekturmuseum in der Pinakothek der Moderne. Die Lust auf alternative Lebenskonzepte ist in den letzten Jahren kräftig gewachsen. Es verändert sich etwas in unserer Gesellschaft, in unseren Köpfen und in den Vorstellungen, wie wir in Zukunft wohnen möchten. Das Erlebnis von Solidarität und gegenseitiger Hilfe rückt für viele Menschen immer stärker in den Vordergrund. Denn: Wir alle sind die Stadt!
Auch das Architekturmuseum thematisiert diesen gesellschaftlichen Wandel. Ausgewählt wurden zwölf Wohnprojekte mit integrativen, generationsübergreifenden und nachbarschaftlichen Ansätzen. Auch wenn es in der Münchner Pinakothek um feste Gebäude bzw. um Architektur geht – der Geist eines Wagenparks wie "Stattpark OLGA" schwingt hier mit. Das empfindet auch die Kuratorin Hilde Strobl so.
"Das Gemeinsame von Wagensiedlungen und den Projekten, die wir hier in der Ausstellung zeigen, ist der Ansatz der Gemeinschaft, also, dass es irgendeinen Grund gibt, den man sich teilt – egal ob es nun städtischer oder privater Grund ist. Und der private Raum kann eben kleiner sein, weil es diesen gemeinschaftlichen Grund gibt. Das ist einfach Charakterbildend wie nichts Anderes, wenn man sich ständig mit Menschen reiben muss, um gemeinsam etwas zu erreichen. Gleichzeitig erlebt man, was man eben nur zusammen machen kann, wenn man in der Gruppe etwas entwickelt, auch dem Anderen zuhört und etwas nicht von vorneherein ablehnt. Man verliert einen kleinen Teil der eigenen Vorstellungen, aber gewinnt viel mehr, als man eigentlich verliert."