Flix und Bernd Kissel: Münchhausen. Die Wahrheit übers Lügen
Carlsen Verlag, Hamburg 2016
192 Seiten, 17,99 Euro
Die Leiden des Lügenbarons
Der Berliner Comiczeichner Flix hat bereits Goethes "Faust" mit einem Taxifahrer als Hauptfigur und "Don Quixote" als Geschichte aus Mecklenburg-Vorpommern erzählt. Auch die Märchen von "Münchhausen" hat er - gemeinsam mit dem Zeichner Bernd Kissel - einfallsreich neu interpretiert.
"Der einzige Comic, den ich wirklich gerne gelesen hätte", das sagt Freud dem Einband zufolge über dieses Buch. Das ist natürlich glatt gelogen. Andererseits: wer weiß, was Sigmund Freud wirklich über dieses Buch gesagt hätte? Er hat es schließlich selbst geschrieben, zumindest in der Fiktion dieses Münchhauseniade.
Freud ist hier im Londoner Exil, ein alter, kranker Mann, als er zu seinem letzten Fall gerufen wird. Auf dem Dach des Buckingham Palace ist ein ramponierter Ballon gelandet und mit ihm ein älterer Herr, der deutsch spricht und behauptet, direkt vom Mond nach London gekommen zu sein. Sehr verdächtig, meinen die britischen Behörden, schließlich ist man im Krieg mit Deutschland. Der Mondflieger wird von Geheimdienstlern verhört, die allerdings zunehmend verstört sind von den unglaublichen Geschichten, die ihnen ihr Gefangener erzählt. Als letzten Ausweg holen die Briten den Sigmund Freud zu Hilfe, der feststellen soll, ob dieser Deutsche nun lügt oder die Wahrheit sagt.
Rückkehr aus dem Reich der Toten
Es ist schon mal eine sehr gute Idee, den Traumdeuter Sigmund Freud als Zuhörer für Münchhausens fantastische Geschichten zu installieren. Freud hat logischerweise einen weiteren Wahrheitsbegriff als die Geheimdienstler, er lauscht bei Wein und Zigarren fasziniert den Geschichten des Gefangenen, der sich als letzter Erbe der Familie Münchhausen vorstellt.
Er erzählt neue Varianten der klassischen Episoden: vom Ritt auf der Kanonenkugel; von der Kunst, sich am eigenen Schopf aus misslicher Lage zu befreien; vom Hirsch mit dem Kirschbäumchen auf dem Kopf. Münchhausens Geschichten sind in diesem Buch aber keine launigen Schnurren zur Unterhaltung einer Abendgesellschaft, sondern verzweifelte Versuche eines aus der Zeit Gefallenen, die ganz eigene Wahrheit seines Lebens glaubhaft zu machen. Dieser Münchhausen kommt schon aus einem Reich der Toten, dafür steht hier der Mond, Sigmund Freud ist sein letzter Zuhörer, seine letzte Chance, einen Fluch loszuwerden, der auf seinem Leben lastet.
Eine vom Leben zerknitterte Figur
Der Berliner Comiczeichner Flix hat Erfahrung damit, sehr bekannte Geschichten in ein neues Umfeld zu verpflanzen. Goethes "Faust" hat er als Geschichte eines Taxifahrers neu erzählt, Cervantes‘ "Don Quixote" hat er nach Mecklenburg-Vorpommern verpflanzt. Für "Münchhausen" hat er sich Verstärkung gesucht, Flix hat das Buch geschrieben, Bernd Kissel hat es gezeichnet. Kissel hat der Geschichte einen leicht karikierenden, dynamischen Realismus gegeben, in Schwarz und Weiß und verschiedenen Graustufen, nur auf der Rückseite des Mondes geht es bunt zu, in der jenseitigen Welt. In die vom Leben zerknitterte Figur Münchhausens zeichnet Kissel das Drama seines Lebens ein, dazu braucht es dann keine Worte mehr, und dennoch wird man ins Grübeln gestürzt über die Frage: was ist Wahrheit und was Lüge, wenn einer von seinem Leben erzählt? Bernd Kissel und Flix haben hier zusammen eine wirklich neue Münchhausen-Erzählung geschaffen, keine versimpelte, auf einen Geschichtenkern reduzierte Nacherzählung wie so oft, wenn Klassiker als graphische Erzählung wiederbelebt werden sollen.