Für Jule Weber war das Mutterwerden der Moment, ab dem von außen immer neue Anforderungen und Erwartungen auf sie einprasselten – oft ungefragt. Die heute 29-Jährige arbeitet freiberuflich als Künstlerin und Autorin, vor allem im Spoken-Word- und Poetry-Slam-Bereich. Als sie schwanger wurde, war sie 16. Wie sie die Zeit damals erlebt hat, hat sie unter anderem in ihrem Text „Mutter-Werden“ verarbeitet.
„Entgegen allen Ratschlägen, die mir zum Teil völlig fremde Menschen auf der Straße gegeben haben, habe ich meine Tochter nicht zur Adoption freigegeben, auch nicht in eine Pflegefamilie, zu meinen Eltern oder doch noch in die Babyklappe gelegt. Das hast du mir geraten, liebe Frau im Bus. Du hast gefragt, was ich denn mit dem Kind machen wollen würde. Wir kannten uns nicht, aber du fandest es angemessen, mir zu sagen, dass ich das ja nicht leisten könne.“
Aus „Mutter-Werden“ von Jule Weber
Jule Weber lebt mittlerweile in Bochum. Aufgewachsen ist sie in einem kleinen Dorf in Hessen. Am Telefon erzählt sie: Sie habe anfangs versucht, den Erwartungen an Mutterschaft in ihrer Umgebung zu entsprechen – und „eine gute Kleinstadtmutti“ zu werden, wie sie es ausdrückt.
Als Alleinerziehende besonders gefordert
Als junge Alleinerziehende habe sie sich dabei immer besonders anstrengen müssen, erzählt sie: „Und auf jeden Fall irgendwie drei Aufgaben für das blöde Kita-Fest übernehmen, um die gleiche Anerkennung und Wertschätzung als Mutter zu kriegen wie eine andere Frau, die eigentlich nichts anders gemacht hat, außer halt irgendwie 13 Jahre älter zu sein, als sie geboren hat, als ich.“
Sie sagt: Rückblickend sei das die anstrengendste Zeit gewesen.
Linda Groß lebt gut 350 Kilometer von Jule Weber entfernt in Hamburg. Nicht nur geografisch könnten die Unterschiede kaum größer sein. Die 40-Jährige wohnt mit ihrem Partner zusammen, ist festangestellt – wenn auch befristet –, und ist vor zwei Jahren zum ersten Mal Mutter geworden. Da war sie Ende 30.
Doch auch sie sagt: „Das Familiewerden und Mutterwerden hat eigentlich noch mal so den Unterschied gebracht und das Thema Erschöpfung auch ganz stark in den Vordergrund gerückt. Also, dieser Satz ‚Ich bin erschöpft‘ oder ‚Ich bin total erschöpft‘, der fällt einfach viel, viel öfter seitdem.“
Linda Groß ist im Osten Berlins aufgewachsen. Ihre eigene Mutter habe immer in Vollzeit gearbeitet. Im Vergleich zu damals seien die Erwartungen an Frauen heute aber noch höher.
Also, dass man immer noch so denkt: Arbeiten und Mutter sein reicht nicht. Ich muss meine Hobbys weitermachen. Ich brauche jetzt noch irgendetwas, was mich besonders macht und wo ich mich verwirklichen kann. Dann merkt man aber, dass man eigentlich die freie Zeit nur zur Regeneration nutzt und fühlt sich dann noch mal schlecht, dass man dann, wenn man frei hat, schläft.
Linda Groß
Die „Allzuständigkeit“ von Frauen
Mit dem Wort „Allzuständigkeit“ beschreibt
die Schweizer Soziologin Franziska Schutzbach das, was Frauen wie Linda Groß erleben. In ihrem Buch „Die Erschöpfung der Frauen. Wider die weibliche Verfügbarkeit“ zeigt Schutzbach auf, wie immer neue Anforderungen an die Frauen gestellt werden.
„Dann sind Frauen plötzlich für alles zuständig. Für ihre Emanzipation, toll Geld verdienen, immer sexy aussehen, nie alt werden, tollen Körper haben und gleichzeitig eine perfekte Mutter sein“, sagt sie. Im Ergebnis würden Frauen mehr arbeiten als Männer – vor allem im Bereich Sorgearbeit.
Es werden global gesehen 16,4 Milliarden Stunden unbezahlte Sorgearbeit gemacht, weltweit. 16,4 Milliarden Stunden. Und die werden zu dreiviertel von Frauen übernommen. Es ist also profitabel, immer und immer wieder zu behaupten, Frauen würden das aus ihrer Natur heraus biologisch gerne und aus Liebe machen.
Franziska Schutzbach, Soziologin
Denn sonst, so Schutzbach, müsste diese Arbeit ja bezahlt werden.
Linda Groß und ihr Partner arbeiten beide in Teilzeit. Er an drei Tagen die Woche als Lehrer an einer Abendschule. Sie 30 Stunden als Referentin an der Uni. Eine bewusste Entscheidung, um gemeinsam mehr Zeit für die Familie zu haben. Trotzdem blieben typische Care- und Sorgearbeiten meist an ihr hängen, so Groß.
Sie erinnert sich in diesem Zusammenhang vor allem an ein ganz konkretes Beispiel – den Antrag auf Kindergeld.
„Er sollte diesen Antrag machen und er macht sonst nie die Anträge und die Finanzen“, erzählt sie. „Bei diesem Antrag, den hat er in die Hände genommen, und der war aber dauernd Thema. Also man musste da dauernd darüber reden und irgendwie verhandeln und Druck machen, dass davon was passiert ist.“
Untersuchungen zeigen: Selbst in Partnerschaften, wo Frauen gleich viel oder mehr verdienen, übernehmen sie einen Großteil der Hausarbeit. Die Soziologin Franziska Schutzbach wundert das nicht.
Die neue Anforderungen an die Frauen beschreibt Franziska Schutzbach mit dem Begriff "Allzuständigkeit".© Anne Morgenstern
„Man darf einfach nicht unterschätzen, wie stark weibliche Identität nach wie vor daran geknüpft wird, eine gute Gebende zu sein. Das lernen Frauen nach wie vor, und deswegen können sie es dann auch nicht einfach so abstreifen“, erklärt sie.
Denn: „Weil sie gelernt haben, wenn ich es liegen lasse, wenn es dreckig ist, wenn die Kinder ein Loch in der Hose haben, dann fällt das auf mich als Frau zurück. Da denkt niemand: Oh, der Vater hat nicht geputzt.“
Sich gesellschaftlichen Normen entziehen
Autorin Jule Weber hat mittlerweile für sich einen Weg gefunden, um sich solchen gesellschaftlichen Normen zu entziehen. Ihre Tochter ist heute zwölf Jahre alt. Seit 2018 leben die beiden zusammen mit anderen in einer Wohngemeinschaft.
Zusätzlich hat sich Weber rund um die WG ein Netzwerk aus Freunden und Bekannten aufgebaut, das sie unterstützt. Heute sei sie viel weniger erschöpft als früher, sagt sie.
Weil ich mir inzwischen so sehr erlaube, Mutterschaft für mich so zu definieren, wie es zwischen mir und meinem Kind gut funktioniert, dass ich einfach das Gefühl habe: In erster Linie bin ich hier jetzt so glücklich mit mir, meiner Umgebung und damit, wie meine Familie aussieht und funktioniert.
Jule Weber
Sie habe irgendwann einfach aufgehört, ihr Lebensmodell vor anderen zu rechtfertigen, sagt sie dann noch, und dadurch wieder mehr Energie für andere Dinge.