Regie: Beatrix Ackers
Ton: Alexander Brennecke
Sprecher: Inka Löwendorf
Redaktion: Constanze Lehmann
Die Systemrelevanz der Care-Arbeit
29:56 Minuten
Kinder, Küche, Hausarbeit: Nahezu stillschweigend wurden im Zuge der Coronakrise überwunden geglaubte Rollenbilder reaktiviert. Für Mütter bedeutet dies eine erhebliche Zusatzbelastung - zumal, wenn Schule und Kita geschlossen sind.
Es ist Anfang Mai. Die erste Hochphase der Coronapandemie ist überstanden und die ersten Lockerungen treten in Kraft. Das Land diskutiert über Soforthilfen, den Re-Start der Bundesliga - und vergisst die Mütter.
Die Soziologin Jutta Allmendinger ist eine der ersten, die auf großer Bühne das Thema Frauen und Mütter aufs Tapet bringt:
"Ich glaube mittlerweile die Worte nicht mehr, dass die systemrelevanten Berufe eine ganz andere Tarifierung bekommen. Das sind 72 Prozent Frauen. Wenn wir über die Automobilindustrie sprechen, über die ganzen Zulieferer, dann sind das reine Männerjobs, jedenfalls zu mehr als 75 Prozent. Die Frauen werden eine entsetzliche Retraditionalisierung weiter erfahren. Ich glaube, dass wir das nicht mehr so schnell aufholen, sondern drei Jahrzehnte verlieren."
Jutta Allmendiger sagt diese Sätze in der Talkshow von Anne Will. Was ist dran? Hat Corona speziell Mütter tatsächlich um mehr als drei Jahrzehnte zurückgeworfen?
Mütter in der Krise - viel Stress, wenig Zeit
Ich möchte mit Müttern sprechen. Frauen, die mir davon erzählen, wie ihr Alltag in den Hochzeiten von Corona aussah, zwischen Kindern, Haushalt, Erwerbsarbeit. Die Suche gestaltet sich schwierig:
- "Hallo, danke für die Anfrage. Dafür habe ich momentan keine Kapazitäten frei."
- "Hallo Teresa, entschuldige bitte, dass ich mich nicht gemeldet habe. Aber eines der Hauptprobleme in der aktuellen Lage ist einfach die Zeit."
- "Puh, geht hier nicht, kleine Wohnung, Kinder mit großen Ohren, wenig Ruhe, sorry!"
- "Hallo Teresa, entschuldige bitte, dass ich mich nicht gemeldet habe. Aber eines der Hauptprobleme in der aktuellen Lage ist einfach die Zeit."
- "Puh, geht hier nicht, kleine Wohnung, Kinder mit großen Ohren, wenig Ruhe, sorry!"
In Deutschland leben etwa acht Millionen Frauen mit einem oder mehreren minderjährigen Kindern unter einem Dach. Ich bin also optimistisch, irgendwie mit ein paar Frauen ins Gespräch zu kommen. Aber: Viele Frauen haben während Corona schlicht keine Zeit für ein Interview. Oder schwierige Bedingungen.
Abends nur noch apathisch auf der Couch
Der holprige Start meines Recherchewegs scheint bezeichnend zu sein für die Situation von Müttern in der Coronakrise. Nach vielen Anfragen und Gesprächen finde ich sie aber doch: die Mütter, die mir erzählen, wie sie die Krise erlebt haben. Ich treffe Claudia in ihrer Mittagspause in einem Park.
"Es ist unglaublich anstrengend. Ich merke, dass ich abends total durch bin. Ich bin total erschöpft, merke dann: Das Wochenende reicht mir nicht mehr aus zum Erholen. Ich mache auch gar nichts mehr. Ich gehe joggen, das ist meine Me-Time, wie man so schön sagt. Aber ich bin wirklich so: Der Luftballon ist leer. Das ist anstrengend."
Claudia ist 45 Jahre alt. Projektkoordinatorin, verheiratet, ihre Kinder sind 11 und 14 Jahre alt und gehen auf unterschiedliche Gymnasien. Zum Schutz ihrer Privatsphäre nenne ich nur ihren Vornamen.
"Wir haben nicht viel Streit zu Hause, das kann ich jetzt nicht sagen. Jeder strengt sich an, dass es klappt. Das merkt man auch. Ich habe trotzdem total das Gefühl, diese unangenehmen Dinge - irgendwo hinterher sein, hinterherräumen, nachfragen, nochmal nachfragen, auch mal den Unmut der Kinder auf sich ziehen - das bleibt alles bei mir. Und ich bleibe da aber stoisch dran. Bis es halt erledigt ist und am Abend hänge ich eigentlich nur noch apathisch auf der Couch und warte darauf, dass ich ins Bett gehen kann, um zu lesen und zu schlafen."
Claudia ist eine Macherin, eine Frau die nicht lange fackelt, sondern anpackt, wenn es nötig ist. Sie arbeitet 42 Stunden, kümmert sich um einen Großteil des Haushalts, die Schulaufgaben der Kinder.
Die soziale Ungleichheit verschärft sich
"Ich habe gesehen, dass die soziale Ungleichheit sich verschärft hat", sagt Mareice Kaiser, Chefredakteurin des feministischen Magazins Edition F, Bloggerin und Autorin. "Das, was eh schon da war, hat sich noch mal verschärft. Mütter übernehmen ja eh zwei Drittel der unbezahlten Care-Arbeit, Väter ein Drittel. Die Arbeiten rund um Kinder, Haushalt und das emotionale Wohlbefinden aller Beteiligten, einer Familie. Und dass Mütter das zu zwei Drittel machen, ist seit 30 Jahren so. Und das ist jetzt weiter so. Und diese ganze soziale Schieflage, die Schieflage zwischen den Geschlechtern in den Familien, in heterosexuellen Familien, hat sich nochmal verschärft und ist krasser geworden. Es geht dabei einfach um ein Recht auf ein selbstbestimmtes Leben. Und das hatten viele Mütter jetzt nicht mehr."
Rollenverteilung wie zu Großelternzeiten
In ihren Veröffentlichungen beschäftigt Mareice Kaiser sich unter anderem mit Inklusion, Bildungsgerechtigkeit sowie Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Auch sie sieht in Corona eine Bedrohung für den Fortschritt beim Thema Gleichberechtigung. Die Wissenschaft gibt Mareice Kaiser Recht.
Schon Mitte Mai zeichnen drei unabhängig voneinander erhobene Studien ein düsteres Bild: Die Studie zum Alltag in Coronazeiten vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), die des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) und die Mannheimer Corona-Studie belegen eine Rollenverteilung zwischen Müttern und Vätern, die der unserer Eltern- und Großelterngeneration entspricht.
Stille Übereinkunft: Die Frau bleibt zu Hause
Die Situation, dass viele Frauen ihre Arbeit nun ganz oder teilweise im Homeoffice erledigten, gepaart mit den Schul- und Kita-Schließungen, hat dazu geführt, dass Frauen sich stärker als Männer in einer doppelten Verantwortung sehen. Sie fühlen sich oft zugleich für die Betreuung und den Heimunterricht der Kinder verantwortlich – aber auch für ihren Job. Anders als Männer.
"Es geht um Selbstverständlichkeiten", sagt dazu Mareice Kaiser. "Was spreche ich ab? Es ist selbstverständlich, dass der Mann arbeiten geht, und ich gehe aber auch arbeiten, ich habe genauso Dienst. Es scheint so eine Art stille Voraussetzung zu geben, dass die Frau zu Hause bleibt. Ich denke so gar nicht und bin dann eher erschrocken, dass ich auch zu Hause so ein Gefühl habe. Es wird nicht so geäußert, es ist wirklich nur so ein Gefühl. Aber tatsächlich gibt es solche Absprachen nicht: 'Wann bist du zu Hause?' Dann sage ich, pass auf, ich muss nächste Woche am Mittwoch und Donnerstag ins Büro, da muss ich einfach präsent sein. Das ist so. 'Ach, so, hm.' Er ist auch nicht da. Und ich: 'Warum sprichst du nicht mit mir darüber?'
Das wäre eigentlich schon mal ganz schön – also, so Absprachen, Selbstverständlichkeiten, diese Augenhöhe in der Diskussion oder eben auch einfach den Dreck in der Küche sehen. Wer wischt die Küche? Wer macht das Bad sauber? Die anderen schweigen das tot, sowas wie Beamten-Mikado: Wer zuerst zuckt, hat verloren. Und das bin ich! Ich habe immer verloren!"
Immer wieder "zurück ins alte Muster"
Das gestiegene Pensum erledigen die meisten Frauen ohne Klagen, ohne Murren, sie machen nicht einmal darauf aufmerksam – so auch Claudia:
"Ich bin da so eine Maschine. Ich merke dann, das ist jetzt eine Ausnahmesituation und da funktioniere ich, wie bei so einem Unfall. Dieses Knallen, das hat, glaube ich, wenig Ergebnis. Dann sind alle ganz erschrocken. Das mache ich jetzt schon mal. Dann läuft eine Woche alles ganz anders und danach kommt es wieder zurück ins alte Muster. Das hilft im Moment nicht. Wenn ich irgendwie ausflippe oder aus der Form gerate, dann sind die Hausaufgaben auch nicht gemacht."
Claudia sagt, wenn sie nicht anpackt, dann macht es keiner. Also packt sie an – auch wenn ihr Mann zu Hause ist.
"Jetzt, nach drei Monaten, merke ich schon, dass der Akku ganz schön runter ist und ich habe große Hoffnung, dass ich mich im Urlaub, in den wir jetzt bald fahren werden, erholen und den Akku wieder ein bisschen aufladen kann. Wenn die Situation danach noch so weitergeht, weiß ich auch nicht, wie ich das dann wegstecke. Wie gesagt, ich funktioniere ja ganz gut. Aber irgendwann ist meine Geduld natürlich auch zu Ende und die Nerven sind runter."
"Erschöpfung, Überlastung, Unsichtbarkeit"
Mental Load nennt sich das, was Claudia erlebt. Der Begriff umschreibt die mentale Last, die vor allem Frauen mit sich herumtragen: Die To-Do-Listen im Haushalt, die für die Kinder. Fragen wie: Ist noch genug Essen im Kühlschrank? Müssen wir noch ein Geschenk für den nächsten Kindergeburtstag besorgen? Mental Load kann Frauen in die Erschöpfung treiben. Unter dem Hashtag #CoronaEltern berichten vor allem Mütter über ihre Gefühle. Mareice Kaiser hat den Hashtag ins Leben gerufen:
"Was ich unter dem Hashtag Coronaeltern gesehen habe, waren vor allem drei Dinge: Erschöpfung, Überlastung und Unsichtbarkeit. Die Erschöpfung hat mich wenig bis gar nicht überrascht, denn die war in Familien schon vorher da. Die Überlastung genauso. Warum sollte sich das ändern in der Krise, in der plötzlich alle Kinder zu Hause sind und von ihren Eltern betreut werden müssen? Das erschien mir logisch."
Unter #CoronaEltern ist zu lesen:
"Je länger das alles geht, desto mehr fühl ich mich übersehen, als Berufstätige, als Künstlerin, als Mutter. Ich bin müde, müde, müde und ich wünschte, das würde mehr gesehen werden." (Quelle)
"Wo sind die Stützen für uns Alleinerziehende mit behinderten Kindern? Ist egal, ob wir unseren Job halten können, egal ob wir an der Last zerbrechen? Aktuell sind viele Stimmen sehr laut. Meine wird immer leiser, weil mir die Kraft und die Zuversicht fehlen." (Quelle)
"Nachts lieg ich wach. Das kommt sonst nie vor. Aber jetzt reicht der Tag allein zum Grübeln nicht. Weil ich nicht weiß, wie es zusammengehen soll. Und ich denke an alle die, die ganz andere Tagebuchseiten füllen. Mit Existenzsorgen. Mit Krankheit. Mit anderen Päckchen." (Quelle)
Sinkende Arbeits- und Lebenszufriedenheit
Die WZB Corona-Studie belegt den Eindruck, den der Hashtag #CoronaEltern vermittelt: Bereits in den ersten Wochen des Lockdowns nahm die Arbeits- und Lebenszufriedenheit bei Frauen stärker ab als bei den Männern. Mögliche Gründe:
- In etwa der Hälfte der Haushalte wurde zu Beginn des Lockdowns die Kinderbetreuung alleine von der Frau übernommen. Nur in einem Viertel der Haushalte war der Mann allein zuständig.
- Mütter reduzieren häufiger ihre Stunden oder arbeiten gar nicht, obwohl sie durchschnittlich bereits weniger arbeiten und verdienen.
- In den Branchen, die am stärksten von der Coronakrise betroffen sind (beispielsweise Gastronomie, Kultur und Tourismus) arbeiten vornehmlich Frauen.
- Auch in den systemrelevanten Berufen wie der Pflege oder in den Supermärkten arbeiten überproportional viele Frauen. Sie setzten ihre Gesundheit in besonderem Maße aufs Spiel und standen unter Dauerstress. Bei unverändert schlechter Bezahlung.
Die Frauen werden zurückgedrängt
Von all diesen Entwicklungen sind Frauen mit geringerem Einkommen und weniger Bildung stärker betroffen als hochqualifizierte. Laut Zahlen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung ist der Anteil an Kurzarbeit bei Menschen mit niedriger Bildung doppelt so hoch wie bei den Hochqualifizierten. Sie haben auch deutlich häufiger ihren Job infolge von Corona verloren.
Insgesamt lässt sich beobachten: Frauen wurden Corona-bedingt stärker in ihre traditionelle Rolle und damit in die finanzielle Abhängigkeit zurückgedrängt. Problematisch daran ist auch: Für Haus- und Sorgearbeit gibt es keinen Lohn. Die Frauen laufen Gefahr, im Alter arm zu sein.
"Es gibt einfach einen riesengroßen Unterschied zwischen der Wertschätzung von Lohnarbeit und der Wertschätzung von Care-Arbeit in der Gesellschaft, in der wir leben, nämlich einer kapitalistischen Gesellschaft", erklärt dazu Mareice Kaiser. "Im Kapitalismus hat Macht ja immer sehr viel mit Geld zu tun. Und Geld bekommen Mütter für die Arbeit, die diese übernehmen, nicht. Es gibt so ein Zitat von Silvia Federici: 'Sie nennen es Liebe, wir nennen es unbezahlte Arbeit.' Ich glaube, das passt ganz gut. Die Arbeit, die Mütter in Familien machen, steht eben unter dem Begriff Liebe. Und die Mutter macht es doch gerne, und sie kümmert sich. Das macht diesen Arbeitsbegriff ja ganz klein und auch so leicht. Aber gleichzeitig ist es einfach unbezahlte Arbeit."
"Ich habe da echt ein paar Lebensjahre verloren"
Silke, 42 Jahre, ist Mutter eines Schul- und eines Kindergartenkindes:
"Ich habe mich gefühlt wie gefesselt, geknebelt, mit Gewichten an den Füßen, auf stürmischer See. Da ging nix mehr. Man macht so viel möglich. Ja, auch als Mutter und Frau, das wird ja einem gesellschaftlich auch so in die Wiege gelegt. Aber da war einfach eine Grenze überschritten. Ich weiß noch genau, das war Freitag, der 13. März, Freitag, der 13. als der Beschluss kam, dass am Montag Kita und Schule zu haben. Da wusste ich: Hier ist eine Grenze überschritten worden, die nicht mehr menschenmöglich ist."
Silke ist freiberufliche Designerin und schreibt auf ihrem Blog über den Spagat zwischen Kindern und Arbeit. Silke ist alleinerziehend. Und damit keine Exotin: Von den etwa 13 Millionen Kindern und Jugendlichen leben inzwischen 18 Prozent mit einem Elternteil im Haushalt. In neun von zehn Fällen ist dies die Mutter.
"Ich hatte dann irgendwie eine Woche noch einen etwas größeren Auftrag zu beenden, während ich schon Schul- und Kindergartenkind hier zu Hause hatte. Meine Kinder sind jetzt nicht besonders wild oder laut. Aber trotzdem, man wird alle zwei Sekunden oder alle fünf Minuten wegen irgendeiner Frage unterbrochen: 'Mama, kannste mal helfen?' Man kann, aber man wird so aus der Konzentration gerissen, und Energie geht mit der Aufmerksamkeit, und dadurch habe ich noch eine Effektivität von zehn Prozent gehabt. Es ist mir extrem schwergefallen in dieser Woche, als ich noch einen Auftrag hatte. Ich würde sagen: Ich habe in dieser Woche echt ein paar Lebensjahre verloren. Ich kann es nicht in Worte fassen. Ich glaube, im Knast ist es schöner. Es war einfach der Hammer."
Eine Rechnung ans Kultusministerium
In der Woche darauf brechen Silke alle Aufträge weg. Selbständige wie Silke gehören zu den größten Verlierern der Pandemie. Im Vergleich zu Angestellten sind Selbständige stärker von Einkommensverlusten betroffen – oder sie mussten ihren Job ganz aufgeben. Für Silke bedeutet die schlechte Auftragslage auf der einen Seite Entlastung: Sie kann sich jetzt nur auf die Kinder konzentrieren. Andererseits kommen nun finanzielle Ängste auf sie zu:
"In der zweiten Woche sind alle Aufträge dann weg gewesen. Und das hat mich für meine Gesundheit gefreut, dass ich diese Zusatzbelastungen nicht auch noch habe. Aber andererseits kommen dann natürlich die Ängste zur Existenz."
Ein Leben zwischen Familie und Erwerbsleben ist für Alleinerziehende ohnehin besonders schwierig. Nur knapp zwei Drittel sind überhaupt erwerbstätig, mehr als ein Drittel auf staatliche Unterstützung angewiesen. Für Silke ist die durch Corona verschärfte Situation untragbar. Sie fühlt sich um ihre Rechte betrogen und übersehen.
"Ich wurde dann richtig sauer und habe dann überlegt, wie ich das jetzt hier irgendwie für mich handle. Meine Idee war dann: Also mir als Selbständige ist es ja egal, wer meine Arbeitszeit bucht. Und wenn der Staat sagt, Homeschooling und parallele Kindergartenkind-Betreuung sind jetzt meine Aufgaben, so im Zeichen der Gemeinschaft, dann mache ich das. Aber mich dann auf dieser Rechnung sitzen zu lassen, das geht nicht. Und deswegen habe ich da auch eine kleine Aktion gestartet und habe dem Kultusministerium genau diese Stunden, die mir im Prinzip an meiner täglichen Arbeitszeit fehlen, in Rechnung gestellt."
Silke errechnet: Für Homeschooling und Zusatz-Kinderbetreuung wendet sie pro Werktag drei Stunden Arbeitszeit auf. Ihr Stundenlohn liegt bei 65 Euro. Bei drei Stunden an fünf Wochentagen macht das 975 Euro pro Woche. Ende März schickt sie diese Rechnung an das Kultusministerium in Hessen.
Knapp 23.000 Euro für die Care-Arbeit
Im Mai starten unabhängig davon drei weitere Frauen eine ähnliche Aktion unter dem Hashtag #CoronaElternRechnenAb.
Auch sie stellen der Politik eine Rechnung und fordern andere Frauen auf, sich zu beteiligen. Sie listen die unbezahlten Tätigkeiten auf, unter anderem Betreuung, Beschulung und Versorgung. Hinzu kommen neun Stunden Bereitschaftsdienst für die Kinder – der sei ja auch bei anderen Berufen bezahlt. Die Bloggerin Patricia Cammarata folgte dem Aufruf und machte ihre Rechnung öffentlich: Sie fordert 22.296 Euro (der betreffende Beitrag ist mittlerweile passwortgeschützt).
Mareice Kaiser kommentiert die Rechnung so:
"Als ich diese Rechnung gesehen habe, dachte ich so: Ja, stimmt. Und ich glaube, dass man dann am Ende darüber stutzt, wie hoch so eine Rechnung ist, die natürlich Symbolcharakter hat. Doch niemand dieser Mütter ist davon ausgegangen, dass Angela Merkel ihnen 20.000 Euro auf ihr Konto überweist. Aber letztlich ist das ja ein Symbol dafür zu zeigen, was Care-Arbeit eigentlich ist, nämlich Arbeit. Und das einfach mal zu beziffern in der kapitalistischen Welt, finde ich ganz smart."
Care-Arbeit stützt die Wirtschaft
Sorgearbeiten wie Kinderbetreuung und -erziehung sind eine wichtige Grundlage für alle anderen Wirtschaftsleistungen. Das hat Corona mehr als deutlich gemacht. Eltern, Mütter sind systemrelevant. Aber Mütter haben keine Lobby, um politisch auf ihre Belange aufmerksam zu machen.
"Wie sollen sich Mütter repräsentiert fühlen, wenn sie nicht repräsentiert sind", fragt Mareice Kaiser. "In der Politik sind erschreckend wenig Mütter in entscheidenden Positionen. Mir fallen sehr, sehr wenig auf, die Politik machen. Das liegt natürlich auch an vielen strukturellen Problemen, die es immer noch gibt. Der Job der Politikerin ist extrem schlecht vereinbar mit einem Familienleben. Wie sollen Mütter Teil eines Systems sein und in machtvolle Positionen eines Systems kommen, wenn ihr Jobprofil doch vor allem daraus besteht, die Klappe zu halten?"
"Immer zuhören, immer Lautstärke pegeln"
"Ich liebe meine Kinder, ich bin sehr froh, sie zu haben", erzählt Maria (39). "Ich möchte sie auch haben, ich habe mein Mutterdasein nie bereut oder so. Aber, beginnend schon mit der Klimakrise und jetzt bei Corona denke ich mir manchmal: Warum habe ich mir das angetan? Es ist wirklich so, dass ich mir denke, wie viel leichter es Menschen haben, die dieses ganze Thema Familie nicht haben. Wie einfach sie es allgemein in der Gesellschaft haben und auch in solchen Krisen, dass sie einfach nicht die Letzten sind, an die gedacht wird, obwohl sie so wichtig sind für die Gesellschaft."
Maria ist Mutter von drei Kindern. Eins ist sieben, also schulpflichtig. Die Zwillinge sind im Kindergartenalter.
Maria ist Hausfrau und Mutter. Eine nachdenkliche Frau, die der Klimawandel bedrückt. Die viel über die Zukunft ihrer Kinder in dieser Welt nachdenkt. Durch Corona verschärft sich die Situation. Marias Sorgen wachsen.
"Ich habe schlecht geschlafen. Ich hatte Sorgen, dass jemand krank wird. Es ging auch auf so eine psychosomatische Ebene. Und das war natürlich sehr schwer, das für sich selbst in den Griff zu bekommen. Wenn man nie allein ist, wenn man immer bedienen muss, immer helfen muss, immer zuhören muss, immer Lautstärke pegeln. Das macht einfach viel mit einem."
Eltern hinterfragen ihr Lebensmodell
Für Maria gibt es gerade in der Anfangszeit, in der die Kinder Corona-bedingt zu Hause waren, keine Auszeit. Kinder müssen getröstet werden, beschäftigt, da ist der Haushalt. Zu ihren persönlichen Sorgen kommen finanzielle: Ihrem Mann – er ist selbstständig und der Alleinverdiener der Familie – brechen alle Aufträge weg. Aber: Marias Mann ist nun zu Hause und er hat Zeit für die Kinder.
"Für uns als Familie – vielleicht auch für viele andere Menschen – war es aber mal schön, dass man nicht diesen Alltagsstress hat, in der Gesellschaft zu funktionieren, Kurse nachmittags, Schule, pünktlich, Kita, an alles denken, das macht man ja, und das klappt auch. Aber es ist natürlich anstrengend. Und wenn man mal nur bei sich ist und mehr Zeit mit den Kindern und auch mit dem Partner verbringt – uns hat das eigentlich auch etwas Positives gebracht. Weil wir uns nähergekommen sind und die Kinder mehr erlebt haben als normalerweise. Auch mein Mann, der sonst sehr viel gearbeitet hat, war mehr mit den Kindern und ist ihnen auch wieder viel näher gekommen. Was sehr schön ist. Und trotzdem darf man nicht vergessen, dass es extrem anstrengend ist, zu fünft, immer zu Hause, die verschiedenen Wünsche und Seelenzustände zu bedienen. Von allen fünf. Das haben wir zwar ganz gut hinbekommen. Aber es war natürlich ein sehr großer Spagat."
In Marias Familie wirbelt Corona alles durcheinander. Gewiss- und Gewohnheiten werden ausgehebelt. Sie und ihr Mann hinterfragen ihr bisheriges Lebensmodell. Er schätzt es wieder, Zeit für andere Dinge zu haben, seine Kinder zu erleben.
Corona ist auch eine Chance
Und Maria macht aus der Not eine Tugend. Nach Jahren als Hausfrau und Mutter macht sie aus ihrem Hobby einen Beruf. Sie macht sich selbstständig als Illustratorin.
"Die Illustrationen habe ich erst mal für mich gemacht, um mich auszutesten, und habe sie über soziale Medien geteilt, um zu sehen, ob ein Interesse besteht. Dann habe ich aber gemerkt, dass diese Ausnahmesituation, auch wenn alle zu Hause sind und wenn es stressig und beängstigend ist, sozusagen etwas Kreatives beflügelt. Es wurde immer mehr. Ich habe einfach mehr hergestellt und die sozialen Medien während Corona wahrscheinlich noch mehr genutzt als sonst – geteilt, mitgeteilt. Die Resonanz wurde immer größer, immer positiver. Da war dann klar: Ich wage jetzt endlich den Sprung, die Dinge auch anzubieten, zu verkaufen, mir einen Online-Shop aufzubauen."
Der Fall von Maria zeigt, es liegt auch eine Chance in der Krise. Die Coronakrise hat zwar das Potential Geschlechterungleichheiten am Arbeitsmarkt zu verstärken. Aber – und zu diesem Schluss kommt auch die Corona-Studie des WZB – wenn Firmen und Arbeitgeber positive Erfahrungen mit Homeoffice machen, so könnte das auch zu einer Verringerung der Geschlechterunterschiede beitragen.
Maria hat die Corona-bedingte Situation, dass ihr Mann zu Hause war, überhaupt erst die Möglichkeit für ihre eigene Selbständigkeit eröffnet. Und eine neue Verteilung von Erwerbs- und Hausarbeit in ihrer Beziehung ermöglicht.
"Es ist tatsächlich nicht zu dem zurückgerutscht, wie es zuvor war. Weil ich mir gesagt habe: Ich muss mehr loslassen, unabhängig von meinem Mann, auch für mich. Ich bin eigentlich ein sehr ordnungsliebender Mensch, achte darauf, dass immer aufgeräumt ist, weil ich dann besser denken kann. Das habe ich versucht mir abzugewöhnen. Habe sozusagen gesagt 'ich möchte Prioritäten setzen' und habe verschiedenste Wege gefunden, dass nicht wieder alles auf meine Kappe zu nehmen."
Frauen und Mütter müssen lauter werden
Ohne Corona hätte sich Marias Situation nicht gewandelt, glaubt sie. Auch die mentale Last ist kleiner geworden. Seit Corona klebt sie die unsichtbaren Aufgaben als Post-its an die Wand.
"Mein Mann sieht es dadurch auch, hat aber vor allem auch durch Corona jetzt noch viel mehr Aufgaben übernommen. Es gibt Bereiche, an die muss ich schon gar nicht mehr denken. Das war vorher ein bisschen anders. Küche, Spülmaschine ist alles automatisch seins. Der Einkauf ist zu 90 Prozent mittlerweile bei ihm und ich habe dafür andere Aufgaben. Es ist ganz gut aufgeteilt im Moment. Und was auch sehr schön ist nach Corona: Auch dieses Spielplatztreffen mit anderen Eltern übernimmt mein Mann. Er geht jetzt auch sehr gerne mittlerweile. Es ist eigentlich viel besser geworden."
Doch die wichtigste Erkenntnis aus der Krise ist für Maria: Sie muss als Frau und Mutter lauter werden.
"Ich glaube, ich habe noch mehr gemerkt, dass es Mütter in dieser Gesellschaft schwer haben. Dass es sozusagen nicht richtig läuft, weil man ja oft in den Krisen merkt, wo die Schwachstellen sind. Ich bin dadurch lauter geworden, das zu thematisieren - sei es in den sozialen Medien oder auch im familiären Bereich - und mir dadurch mehr zu nehmen. Sei es auch im persönlichen Bereich oder mit Erziehern zu sprechen, mit Lehrern zu sprechen und da auch meine Meinung zu formulieren."
Mütter werden ins Private abgeschoben
Ein wichtiger Schritt, den noch viel mehr Frauen gehen müssten. Doch Mareice Kaiser beobachtet in der Coronakrise sehr viel häufiger noch das Gegenteil:
"Die Stimmen von Müttern haben schon vor der Krise gefehlt. Fehlen in der Krise noch sehr viel mehr und werden auch langfristig fehlen. Dadurch, dass Mütter jetzt noch mehr ins Private abgeschoben werden, haben sie auch nicht mehr so viel zu sagen. Sowohl in ihren Jobs, wenn sie sie noch haben, als auch wenn man an Autorinnen, Journalistinnen, Politikerinnen, Wissenschaftlerinnen denkt. Es gab ja auch Studien, die gezeigt haben, dass Wissenschaftlerinnen jetzt während der Krise sehr viel weniger wissenschaftliche Einreichungen gemacht haben als die männlichen Kollegen."
Insbesondere Mütter verschwanden durch Corona noch viel stärker aus der Öffentlichkeit. Während die Frauen oft neben der Erwerbsarbeit pflegen und versorgen, regiert in Politik und Öffentlichkeit die Männerwelt. Wie es mit den Frauen in und nach der Krise weitergeht, entscheiden vor allem Männer. Obwohl Frauen stärker von ihr betroffen sind.
Die Coronadebatten führen Männer
Forscher der Universität Rostock haben im Auftrag der malisa-Stiftung die Fernsehberichterstattung im Coronakontext untersucht. Sie kommen zu dem Ergebnis: In den TV-Formaten kamen auf vier Experten nur eine Expertin. Aus der Welt der Medizin kamen vor allem Männer zu Wort – obwohl es in Deutschland fast so viele Ärztinnen wie Ärzte gibt.
"Das heißt, überall werden die Stimmen von Müttern leiser. Und was das langfristig für unsere Gesellschaft bedeutet, mag ich mir gar nicht ausmalen. Wir sind ja eh, was die Stimmenverteilung angeht, noch lange nicht bei einer gerechten Verteilung der Stimmen angelangt. Noch nicht einmal bei den Geschlechtern. Ich will gar nicht anfangen bei anderen Diskriminierungsmerkmalen. Da stehen wir wirklich am Anfang und da werden wir durch diese Krise auf jeden Fall noch einmal zurückgeworfen, auch was das langfristig mit Karrieren oder Jobaussichten von Frauen mit Kindern macht."
Die Familienpolitik, die für alle gut wäre
Die Krise offenbart wie unter einem Brennglas, was schon vorher in der Gesellschaft schieflief. Frauen übernehmen einen größeren Anteil der Sorgearbeit. Ihr Risiko arm zu sein, ist höher. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, muss die Politik Anreize schaffen - beispielsweise für mehr Elternmonate für Väter. Gleiche Löhne für vergleichbare Arbeit. Eine bessere Bezahlung der Bereiche, in denen vor allem Frauen arbeiten.
Eine 32-Stunden-Woche, die es ermöglicht, dass beide Eltern bezahlte und unbezahlte Arbeit zu gleichen Teilen übernehmen. Frauen und Mütter müssen in allen gesellschaftlichen Bereichen die Möglichkeit zur Teilhabe bekommen.
Mareice Kaiser hat einen Tipp für die Politik, wie das gelingen kann. Wenn es um die ideale politische Unterstützung für Mütter geht, plädiert sie dafür, sich eine Person vorzustellen, bei der die politischen Maßnahmen dringend ankommen müssen:
"Und das wäre im Fall von Familienpolitik meiner Meinung nach eine alleinerziehende Mutter mit zwei bis drei Kindern. Mindestens eins davon ist entweder pflegebedürftig oder chronisch krank oder behindert. Das klingt jetzt so, als wäre das ein Einzelfall. Aber wenn man selbst eine Familie und viel Kontakt mit Familien hat und sich mit dem Thema beschäftigt, weiß man eigentlich, dass dieser vermeintliche Normalfall - die heterosexuelle Kleinfamilie mit Papa, Mama und zwei gesunden, nicht behinderten, nicht pflegebedürftigen Kindern - einfach nicht der Normalfall ist. Alle Eltern wissen, dass die meisten Kinder noch zusätzlichen Betreuungsbedarf haben. Wenn man sich mal diese Eltern, diese Familie vorstellt und sich überlegt, wie kann diese Mutter ein gutes, selbstbestimmtes Leben führen? Dann hat man, glaube ich, die Familienpolitik, die auch für alle gut wäre."