Multikulturalismus, Globalisierung und Identität

Vorgestellt von Rudolf Walther |
Spätestens seit den Anschlägen vom 11. September 2001 hat die Rede vom "Kampf der Kulturen" in den politischen Diskussionen die Runde gemacht. Dass diesen Debatten eine rabiate Vereinfachung des Begriffs Identität zugrunde liegt, zeigt der Wirtschaftswissenschafter und Nobelpreisträger Amartya Sen in seinem Buch "Die Identitätsfalle".
Begriffe fallen nicht vom Himmel. Ihr Auftauchen ist wie dasjenige von Skandalen oder sozialen Konflikten auf bestimmte gesellschaftlich-politische und historische Kontexte bezogen. Das trifft auch auf den Begriff "Identität" zu. Der 2004 verstorbene Publizist Lothar Baier hat das gesellschaftliche Klima, das das Gerede von Identität treibhausmäßig wachsen und wuchern ließ, so beschrieben:

"Wem es zur eignen Identität nicht gereicht hat, dem wird seit neuestem als Trost das Aufgehen in der ‘nationalen Identität‘ in Aussicht gestellt. Seltsamerweise hat der Aufstieg der nationalen Identität in dem Augenblick begonnen, als der nationale Untergang auf die Tagesordnung rückte. Der atomare ist nur die eine Spielart, die andere ist der Untergang der Art. Nicht nur gegen die Raketen soll sich das deutsche Selbst ermannen, sondern auch gegen das herandrängende Artfremde."

Der aus Bengalen, dem heutigen Bangladesch, stammende Wirtschaftswissenschafter und Nobelpreisträger Amartya Sen lebt seit 1953 in England und lehrt dort wie in den USA. Von seiner Biografie her ist er prädestiniert, über das Zusammenleben von Menschen verschiedener Herkunft, Religion, Sprache und Kultur zu schreiben. Um den Leseeindruck gleich vorweg zu nehmen: Diesem Buch kann man nur möglichst viele Leserinnen und Leser wünschen. Denn kaum ein anderer Autor hat es bislang so gut verstanden, die folgenreiche Rolle, die der Begriff "Identität" in den Debatten über Multikulturalismus wie über Menschenrechte und Globalisierung spielt, so präzise und gleichzeitig klar zu analysieren.

Zwei Thesen bilden die Grundlage des Buches. Erstens ist Identität nichts Angeborenes. Kein Mensch wird als Katholik oder Engländer geboren, sondern im Laufe seines Lebens durch Eltern, Erziehung, kulturelle, soziale und rechtliche Normen dazu gemacht. Und zweitens verfügt kein Mensch über nur eine Identität. Die Zuordnung eines Menschen zu einer einzigen Zivilisation, Kultur, Religion oder ethnischen Gruppe mit dem Hinweis, diese allein mache seine Identität aus, beruht nicht auf freier Entscheidung eines Einzelnen, sondern erfolgt von oben oder von außen. Sen nennt diese Zuschreibungen "solitaristische Deutungen", die der "Kampfkunst" einer kulturellen, religiösen oder ethnischen Gruppe als Bindemittel oder als Waffe dienen. Denn:

"Das auch nur stillschweigende Beharren auf einer alternativlosen Singularität der menschlichen Identität setzt nicht nur uns alle in unserer Würde herab, es trägt überdies dazu bei, die Welt in Flammen zu setzen... Bestünde die einzige Identität eines muslimischen Menschen darin, islamisch zu sein, müssten natürlich all seine moralischen und politischen Urteile auf religiöse Bewertungen bezogen werden."

Dass dies – zum Beispiel auf Katholiken gemünzt – niemand ernsthaft behauptet, leuchtet sofort ein. Im Blick auf Muslime diente aber diese gemeingefährlich Plattheit dazu, die angloamerikanischen Wähler für den "Krieg gegen den Terrorismus" zu gewinnen; einen "Krieg", den Präsident Bush einmal aus Versehen einen Kreuzzug nannte. Sen ist sich sicher:

"Was westliche Politiker dazu gebracht hat, politische Schlachten gegen den Terrorismus auf dem exotischen Feld der Definition oder Neudefinition des Islam zu schlagen, ist die mangelnde Bereitschaft zur Unterscheidung zwischen - erstens - der Vielfalt der Verbindungen und Zugehörigkeiten eines Muslims und - zweitens - seiner islamischen Identität im besonderen."

Eine momentan besonders beliebte Variante der Zuschreibung singulärer Identität erfolgt im Rahmen der Theorie vom "Kampf der Kulturen". In ihr werden der "westlichen Kultur" je nach Bedarf die islamische, die hinduistische, die chinesische oder die buddhistische Kultur entgegengesetzt. Sen zeigt mit aller Deutlichkeit, auf welcher rabiaten Vereinfachung zum Beispiel die Rede von der "islamischen Kultur" beruht.

Wie die Begriffe "asiatische Werte" und "westliche Werte" in die "Identitätsfalle" - so der Titel des Buches - führen, zeigt Sen an den Debatten über Menschenrechte und über die Globalisierung. Südostasiatische Tigerstaaten, aber auch China schränken die Menschenrechte mit dem Hinweis darauf ein, ihre Staaten verdankten Entwicklung und Wohlstand den "asiatischen Werten" von Ordnung und Disziplin sowie der Unterordnung der Einzelnen. Sen belegt, dass diese Staaten wie auch Japan ihre Entwicklung nicht diesen Werten verdanken, sondern der Tatsache, dass sie früh und energisch genug auf die Bildungs- und Gesundheitspolitik setzten. Japan gab schon zwischen 1906 und 1911 rund 43 Prozent des Staatsbudgets für Bildung aus. Afrikanische Länder dagegen, die Bildung und Gesundheit vernachlässigen, dafür jede Menge Waffen importieren, haben keinerlei Entwicklungschancen und verarmen immer mehr.

Unübersehbar ist das Wohlstandsgefälle zwischen – vereinfacht gesagt – dem Norden und dem Süden. Sen lehnt jedoch die kurze Antwort, die diese Ungleichheit und Ungerechtigkeit auf die mangelnde Marktorientierung der armen Länder zurückführt, mit der folgenden Begründung ab:

"Märkte allein funktionieren nicht und können nicht funktionieren. Es gibt nicht ‘das Marktergebnis‘ ohne Berücksichtigung der Bedingungen, unter denen die Märkte funktionieren, einschließlich der Vergeltung der wirtschaftlichen Ressourcen und der Eigentumsverhältnisse. Schafft oder erweitert man institutionelle Vorkehrungen für soziale Sicherheit und andere staatliche Unterstützungsmaßnahmen, so kann sich das Ergebnis beträchtlich ändern."

Gegen die liberale Marktgläubigkeit und den neoliberalen Marktradikalismus besteht Sen darauf, dass es für eine weltweit gerecht verteilte Entwicklung nicht ausreicht, die Marktbeziehungen global zu deregulieren. Verbilligt man Medikamente für arme Länder, steigt dort nicht nur das Gesundheitsniveau. Die westliche Pharmaindustrie würde sich so auch riesige neue Absatzmärkte verschaffen. Völlig verarmte Länder dagegen können gar keine teuren westlichen Produkte kaufen. Es liegt also durchaus auch im westlichen Interesse, hier institutionelle Vorkehrungen zu treffen, die den armen Ländern eine Entwicklungschance geben.

Die weltweiten Proteste gegen die ungesteuerte Globalisierung deutet Sen als einen Beleg für "die Existenz eines Gefühls globaler Identität" und Solidarität im Unterschied zu jener "hübsch stilisierten Geschichte", die Globalisierung vorschnell als "Geschenk des Westens" verklärt, obwohl die vermeintlich Beschenkten von diesem "Geschenk" gar nichts haben.

Gegenüber Sens nüchternen ökonomischen Erklärungen wirtschaftlicher Unterentwicklung fallen die herkömmlichen Analysen, die ein kulturelles Gefälle oder demographische Faktoren dafür verantwortlich machen, deutlich ab. Eine Pflichtlektüre für politisch Interessierte.

Amartya Sen: Die Identitätsfalle
Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt

Aus dem Englischen von Friedrich Giese
Verlag C.H.Beck, München 2007
Amartya Sen: "Die Identitätsfalle"
Amartya Sen: "Die Identitätsfalle"© Verlag C.H.Beck