Autorin und Autor: Susanne Gugel und Thorsten Gabriel
Sprecherin: Anne Rathsfeld und Ralf bei der Kellen
Regie: Stefanie Lazai
Technik: Christiane Neumann
Redaktion: Martin Mair
Schluss mit Staub und Standesdünkel
29:14 Minuten
Kulturgut sammeln und ausstellen - die Aufgabe von Museen geht mittlerweile weit darüber hinaus. Viele Häuser sind dabei, sich neu zu erfinden. Es geht um Partizipation und die Öffnung für neues Publikum. Museen könnten zu neuen Bürgerzentren werden.
Es ist Sonntag auf der Berliner Museumsinsel. Allein, zu zweit oder in Gruppen sind Besucherinnen und Besucher zwischen den fünf Museen im Zentrum der Hauptstadt unterwegs. Ein erwartungsvolles Kommen und Gucken.
An die 7000 Museen gibt es in Deutschland. Große Häuser von Weltruf neben kleinen, selbstverwalteten Sammlungen. Grandioses und Kurioses. Von Profis und von Fans. Heimatkunde und Naturkunde. Kunst und Geschichte. Schlösser und Burgen.
„Museen haben klassischerweise diese Aufgabe, Kulturgut zu sammeln, zu bewahren, auszustellen und zu vermitteln und das auch noch zu erforschen“, sagt Tobias Nettke, Professor für Museumsmanagement und -kommunikation an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin.
„Aber dieses Selbstverständnis hat sich über die letzten Jahre schon zunehmend verändert. Es heißt in der Definition von Museen des Internationalen Museumsbundes ICOM: Sie tun das ‚im Dienste der Gesellschaft und ihrer Entwicklung‘. Und jetzt stellt sich aber die Frage: Ja, was heißt denn ‚im Dienste der Gesellschaft und ihrer Entwicklung‘?“
Schon in den 70ern hieß es "Kultur für alle"
„Kultur für alle“ – schon in den 70er-Jahren hallt der programmatische Schlachtruf durch die Museumswelt. Nicht nur das gebildete Bürgertum soll von den Kulturangeboten profitieren. Für alle soll etwas dabei sein. Alle sollen Zugang haben, analog wie digital. In einer Gesellschaft, die immer diverser wird, ist das keine leichte Aufgabe. Denn: Was führt Menschen überhaupt ins Museum? Was hält andere ab? Eine Frage, die die Kulturwissenschaftlerin Vera Allmanritter intensiv beforscht. Sie leitet das neu gegründete Institut für kulturelle Teilhabeforschung in Berlin.
„Ein ganz wichtiges Motiv für Museumsbesuche ist Neugier und das Bedürfnis, was zu entdecken und was Neues zu lernen. Das sagen unglaublich viele Menschen, die ins Museum gehen, wenn man sie fragt, warum sie heute hier sind. Nicht unwesentlich ist auch, dass jemand anderes gerne gehen wollte und ich mitgehe oder den Besuch sogar aktiv ermögliche, beispielsweise bei kleinen Kindern, und mir eine gute Zeit mit anderen Menschen wünsche. Das ist für Kultureinrichtungen wie jetzt zum Beispiel Museen einfach auch ein bisschen eine unbequeme Wahrheit, dass eben doch sehr, sehr viele Menschen nicht einfach nur wegen der Ausstellung dahin gehen, sondern einfach, um einen schönen Tag mit anderen Menschen zu haben und eine gute Zeit.“
Eine gute Zeit. Was ist das für die mehr als 100 Millionen Menschen, die jedes Jahr die Museen in Deutschland besuchen? Für den einen ist es das Stück Kuchen im Museumscafé, für die andere das tolle Blau auf dem einen Bild hinten links an der Wand, für die Dritte die Architektur des Gebäudes. Die einen lieben es, Dinge anzufassen, andere lauschen andächtig dem Audio-Guide.
Gehört ein Museumsbesuch zum Lebensstil?
Vera Allmanritter kategorisiert diese Motive – nach „Lebensstilen“.
„Lebensstile beschreiben im Grunde, wie jemand tickt. Also: Was ist mir im Leben wichtig? Was habe ich für Einstellungen? Mit wem verbringe ich meine Zeit? Was mache ich in meiner Freizeit? Was ist mein Geschmack? Aber eben auch: Welche Kulturangebote besuche ich entsprechend? Und wenn es zu meinem Lebensstil gehört, in Museen zu gehen, dann gehe ich hin. Wenn es zu meinem Lebensstil nicht gehört, in Museen zu gehen, ist die Wahrscheinlichkeit nicht besonders hoch.“
In Berlin will man gerade auch die abholen: die Unwahrscheinlichen, die eigentlich nicht ins Museum gehen. Vor einem Jahr hat die Landesregierung deshalb eine Initiative gestartet: Der erste Sonntag im Monat ist der „Museumssonntag“ – und der Eintritt ist frei.
Der Berliner Museumssonntag zeigt Wirkung, lautet der vorläufige Befund des Instituts für kulturelle Teilhabeforschung. Es kommen zu 75 Prozent Berlinerinnen und Berliner in die Häuser – deutlich mehr als anderen Tagen, an denen die Hauptstädter ihr Kulturangebot gern den Touristen überlassen und sie selbst nur weniger als die Hälfte des Publikums ausmachen. Und es kommt ein etwas jüngeres Publikum als sonst: Rund die Hälfte ist an Museumssonntagen unter 40. Zu anderen Zeiten liegt deren Anteil bei unter einem Drittel. Möglicherweise ein Corona-Effekt, wahrscheinlich aber auch dies: Der Museumssonntag wird als Happening erlebt – nach dem Motto: Heute mal spontan mit Freunden durch die Museen ziehen – warum nicht?
Im Lebensstil-Raster, das Vera Allmanritter anlegt, zeigt sich das so: Es kommen etwas mehr Menschen also sonst ins Museum, die Unterhaltung, Konsum und Erlebnis suchen. Weiter unterrepräsentiert bleiben allerdings diejenigen, für die Museen grundsätzlich fremdes Terrain sind.
„Ich glaube, es ist wichtig, dass man sich bewusstmacht, dass der freie Eintritt alleine nicht automatisch dazu führen wird, dass andere Menschen kommen, wenn gleichzeitig Faktoren eine Rolle spielen wie ‚Ich fühle mich da nicht wohl‘, ‚Das ist kein Ort für mich‘, ‚Ich habe nicht das Gefühl, dass ich weiß, wie man sich da verhält‘, ‚Ich finde, die Leute die dahingehen, komisch‘, ‚Mein Umfeld guckt mich eigenartig an, wenn ich ins Museum gehe‘. Da kann ich den Eintritt kostenlos machen und das wird mit Sicherheit nichts fundamental ändern.“
Viele Häuser sind auf Sinnsuche
Der Eintritt allein ist es also nicht. Wollen sich Museen wirklich für andere Bevölkerungsschichten öffnen, müssen sie tiefer ansetzen – und dafür zuallererst sich selbst kritisch prüfen. Museumswissenschaftler Tobias Nettke erkennt eine Sinnsuche, die viele Häuser beschäftigt.
„Bisher war es ja so, dass ganz häufig quasi die Geschichte des Bildungsbürgertums erzählt wurde oder der bestehenden Herrscher. Und nun stellt sich aber die Frage: Ja, wenn wir für die Breite der Gesellschaft relevant sein wollen, dann müssen wir ja auch andere Geschichten erzählen, auch andere Kulturgüter sammeln und auch andere Forschungsschwerpunkte setzen. Heißt, auch die Geschichte und das Kulturgut neu zu hinterfragen, noch einmal zu schauen: Was stecken denn da für Perspektiven drin, die bisher nicht erzählt wurden.“
Es sind große Fragen, die sich längst nicht nur Museen in Deutschland stellen.
„Deutschland ist da international gesehen schon mit dabei, allerdings nicht als Vorreiter. Wir sind da so ein bisschen zeitversetzt in solche Debatten mit eingestiegen. In anderen Museumsverbänden internationaler Art wird schon sehr, sehr lange von der Zugänglichkeit gesprochen, von der Verantwortung, die wir als Museum für die Breite der Gesellschaft haben, und dass wir auch Fürsprecher sind für unterrepräsentierte Gruppen“, sagt Tobias Nettke.
Wie "divers" sollen Museen sein?
Was macht das Museum im 21. Jahrhundert eigentlich aus? Das neu definieren wollte der Weltverband der Museen, das International Council of Museums, kurz: ICOM schon vor drei Jahren. Doch der Verband ist zerstritten: Wie „divers“, wie „demokratisierend“ und „inklusiv“ sollen Museen sein? Die Sinnkrise ist also auch eine globale – frei nach Richard David Precht: Wer bin ich und, wenn ja, für wie viele?
„Wir sind hier in einem sehr bürgerlichen Stadtteil, ich würde sogar sagen, der bürgerlichste Bremens. Das ist Schwachhausen.“ Kurator Bora Akşen führt durch Bremens Landesmuseum: das Focke-Museum. „Die Lage, sag ich mal, ist so … also, es hat Vorteile und Nachteile. Der Vorteil ist natürlich, dass wir diesen großen Park haben und sehr viel machen können. Nachteil ist, dass wir einfach nicht so zentral sind.“
Das Hauptgebäude ist ein Flachbau aus den 60er-Jahren. Die Dauerausstellung mit ihren alten Ölgemälden, Schiffsmodellen, Statuen, Vasen und Münzen ist nicht mehr auf der Höhe der Zeit.
„Es ist jetzt gerade, wenn es um die Dauerausstellung ging, über 20 Jahre nichts passiert. Die Ausstellung endet tatsächlich ’45 und das kann es ja eigentlich auch nicht sein und deswegen wollen wir das jetzt auch weiterführen. Und da helfen uns einfach diese Projekte, die wir bis jetzt gemacht haben.“
Ein anderer Blick auf die Stadtgeschichte
Im Focke-Museum ist seit einiger Zeit Umbruch angesagt. Das Haus öffnet sich: für die Gegenwart, für einen anderen Blick auf die Stadtgeschichte, für neue Besuchergruppen und fürs Mitmachen. Demnächst wird auch das Gebäude umgebaut und erweitert. Die neue Dauerausstellung, die ab 2026 gezeigt werden soll, benötigt mehr Platz. Schon jetzt sammelt das Focke-Museum dafür Erfahrungen: in seinem neuen „Stadtlabor“.
„Für uns beinhaltet das, dass wir halt sehr viel experimentieren hier. Und deswegen kommt auch der Begriff ‚Labor‘ zustande“, sagt Bora Akşen.
Das Konzept stammt ursprünglich aus dem Historischen Museum in Frankfurt am Main und wurde mittlerweile von anderen Häusern in der Republik übernommen: Ein Teil der Fläche ist für Ausstellungen reserviert, die gemeinsam mit Bremer Bürgern und Initiativen entstehen. Die erste Stadtlabor-Ausstellung im vergangenen Herbst hieß „Lebenswege“. In ihr erzählten Menschen aus ihrem Leben, die in den 60er- und 70er-Jahren aus der Türkei zum Arbeiten nach Bremen gekommen waren. Video-Interviews gaben Einblicke in ein Stück Bremer Geschichte, das bis dahin weitgehend unerzählt geblieben war.
„Damals war es sehr schwer eine Wohnung zu finden“, heißt es in einem der Interview. „Als Türke haben sie dir keine Wohnung gegeben. Sie haben gefragt, woher kommst du? Bist du Türke? Dann sagten sie gleich Nein. Letztlich habe ich doch noch eine Wohnung gefunden und meine Frau nachgeholt.“
„Es waren die Lebensgeschichten von zwölf Menschen. Wir haben uns mit allen getroffen und die haben uns ihre Objekte gegeben und haben uns zu jedem Objekt erzählt, wie wichtig das für sie war. Und dann hatten wir eigentlich ein sehr simples Konzept. Das waren zwölf Vitrinen für zwölf Menschen. Und gerade bei der Eröffnungsfeier sind auch viele Tränen geflossen. Die Menschen standen vor den Vitrinen und haben plötzlich ihr Leben vor ihren Augen nochmal gesehen und es war, ja, sehr, sehr rührend“, erklärt Boran Akşen.
Vernetzung des Museums mit der Stadt
Bora Akşen vernetzt das Museum mit der Stadt. Für die Ausstellung knüpft er Kontakte zum „Kulturforum Türkei“. Der Verein will türkischstämmige Künstlerinnen und Künstler in Bremen bekannt machen und gleichzeitig der türkischstämmigen Bevölkerung den Blick weiten - für die Kultur ihrer Stadt. Auch Vereinsvorstand Bülent Uzuner gräbt für die Ausstellung in der eigenen Familiengeschichte.
„Ich habe selbst in den Unterlagen meines verstorbenen Vaters noch Dokumente gefunden. Also, einen ersten Arbeitsvertrag, den er 1973 original unterschrieben hat, mit vier Mark, 38 Pfennig.“
Solche Geschichten sind im deutschen Kulturbetrieb noch immer kaum mehr als eine Fußnote. Das ist auch im 120 Jahre alten Focke-Museum nicht anders. Obwohl Bremen mit die höchste Quote an Menschen mit Zuwanderungsbiografien hat, präsentierte das Haus deren Geschichten kaum. Nun sollen die „Lebenswege“ von türkischstämmigen Bremerinnen und Bremern einen festen Platz in der neuen Dauerausstellung erhalten.
„Es ist auch ein besonderes Signal diesen Menschen gegenüber: Ihr gehört dazu! Ihr seid ein Teil unserer Geschichte! Und ich glaube, durch die jetzt inzwischen vielen Veranstaltungen, die wir hier gemacht haben, ist es auch deren Museum. Die kommen gerne hierher. Außerhalb unserer Veranstaltungen vielleicht nicht so häufig, aber wir haben sicherlich den ein oder anderen aus der zweiten, dritten Generation inspiriert, auch mal mit den Kindern an einem Samstag oder Sonntag mal hierher zu kommen“, sagt Bülent Uzuner.
Im Kontakt mit den Communities
Menschen ins Museum locken, die sonst nicht gekommen wären – weil ihre Geschichte dort keine Rolle spielt. Die Idee will Kurator Bora Akşen ausweiten. Auch mit anderen Communities steht er deshalb in Kontakt.
„Wir haben ganz viele Netzwerk-Partner jetzt, vom Afrika-Netzwerk bis zur indonesischen Community, polnischen Vereinen. Mit der jüdischen Gemeinde arbeiten wir zusammen. Gerade letztes Jahr hatten wir auch sehr viele Veranstaltungen hier im Park und das war einfach sehr schön.“
Das Focke-Museum in Bremen: ein klassisches Heimatmuseum, wie es sie zu hunderten in der Republik gibt. Eines jener Häuser, die von manchen als „Endlager für schwach strahlende Dinge“ verspottet werden. Doch gerade dort, in den Heimat- und Stadtmuseen, tut sich seit einigen Jahren etwas. Nicht nur in Bremen. Für den Museumswissenschaftler Tobias Nettke ist das kein Zufall.
„Meiner Einschätzung nach sind Stadtmuseen deswegen auch Vorreiter in derartigen Debatten, weil sie konkret vor Ort sammeln, bewahren, ausstellen und vermitteln. Das heißt sie beschäftigen sich nicht nur abstrakt mit Themen, sondern wirklich ganz konkret mit Objekten, die im Kiez beispielsweise oder in der Stadt zu finden sind. Und sie stellen deswegen ja auch Kontakte her und können da auch durchaus sehr aktuell auf Strömungen, auf Debatten reagieren.“
Preisgekröntes Stadtmuseum in Kempten
Rund 600 Kilometer Luftlinie südlich von Bremen liegt Kempten im Allgäu: 70.000 Einwohner und ein preisgekröntes Stadtmuseum.
„Das Besondere ist vielleicht: Wir sind ein kleines Haus, wir sind in der Provinz.“ Vor zweieinhalb Jahren hat Christine Müller Horn das neue Kempten-Museum eröffnet. Es liegt mitten in der Stadt in einem restaurierten dreistöckigen Bürgerhaus am Residenzplatz. Kurz nach der Eröffnung hat es die Stiftung „Lebendige Stadt“ ausgezeichnet – als „bestes Heimatmuseum Deutschlands“.
„Es ist tatsächlich so, dass Museumsarbeit aus meiner Sicht auch eine Haltung ist. Also: Wie möchte ich unserem Publikum, unseren Besucherinnen und Besuchern gegenübertreten? Was möchte ich denen vermitteln und wie soll das Haus denn sein aus meiner Sicht? Und ich glaube, diese konsequente Haltung, dass wir gesagt haben, ja, wir wollen die Barrierefreiheit, aber wir wollen auch die finanzielle Barrierefreiheit, also dass man keinen Eintritt hat, wir wollen keinen ausschließen, wir wollen alle Altersschichten ansprechen, das ist zumindest mal dieser Anspruch, den wir haben.“
Barrieren abbauen, möglichst viele abholen – das ist eine Frage der Haltung, aber auch der Zeit und des Geldes. In Kempten wie in Bremen haben sie profitiert von Mitteln der Kulturstiftung des Bundes. Christine Müller Horn konnte damit zwei Jahre lang erforschen, was die Leute in Kempten von einem Stadtmuseum erwarten.
„Was ganz oft genannt wurde, war, dass es ein lebendiges Haus sein sollte, dass man aktiv sein darf, dass man auch mal was anfassen darf, dass man mitmachen darf. Also, schon dieser Wunsch eben, nicht diesen Elfenbeinturm zu haben, sondern tatsächlich ein Haus, wo man mitmachen darf.“
Stadtbevölkerung aktiv einbeziehen
Ein Wunsch, den das Museum umsetzt. Die Ausstellung ist nach Themen wie „Macht und Ohnmacht“, „Wohnen“, „Glauben“ und „Verkehr“ sortiert und schlägt einen Bogen von der Römerzeit bis heute. Sie bietet Objekte zum Anfassen und Tasten, zum Beispiel auch für sehbehinderte Menschen. Doch das Haus geht weiter und bezieht die Stadtbevölkerung aktiv mit ein: Wie später einmal die Zeit der Corona-Pandemie gezeigt werden wird, soll auch durch Objekte geprägt werden, die Kemptenerinnen und Kemptner jetzt ins Museum bringen. Wer will, kann selbst eine Ausstellung für den so genannten „Bürgerraum“ entwickeln.
„Die Ausstellung, die jetzt gerade noch läuft, heißt ‚Fortkommen und heimkehren‘, wurde gemacht mit einer Abiklasse von 1991. Und die haben halt gesagt: Können wir unser Abitreffen im Museum machen? Und können wir auch noch eine Ausstellung dazu machen? Und dann habe ich gesagt: Ja, das können wir machen, aber dann müssen wir irgendwie das Thema finden, wo andere Besucherinnen und Besucher, die nicht in der Klasse sind, auch einen Anknüpfungspunkt finden. Und dann haben wir das halt so entwickelt, so, okay, ja, was ist denn Heimat? Und daraus kam dann dieses ‚Fortkommen und heimkehren‘.“
Auch eine Schülergruppe von heute hat im Kempten-Museum schon eine Ausstellung gezeigt. Mit ihrem Lehrer Armin Heigl hat sie die 150-jährige Geschichte des Kemptener Hildegardis-Gymnasiums – früher eine reine Mädchen-Schule für die sogenannten „Höheren Töchter“ –dokumentiert, mit Fotos, Texten und Videointerviews.
„Was ich so an Resonanz mitbekommen habe, ist es auch öffentlich sehr gut angekommen, einerseits, dass ein Museum sowas ermöglicht, dass eine Schule sich präsentiert, und auf der anderen Seite auch Schüler, die gekommen sind: Oh, meine Schule ist im Museum und die hat quasi ja auch schon einen historischen Wert oder einen musealen Wert. Es hat eigentlich gut zu Kempten gepasst, weil es ja auch Kemptner Stadtgeschichte war. Viele Besucher haben gar nicht gemerkt, dass es eigentlich eine Sonderausstellung ist, sondern die dachten, das ist halt Teil der normalen Museumsausstellung. Also, das war schon ein Kompliment für die Schülerinnen und Schüler.“
Ausstellung inspiriert Geschichtsunterricht
Das Ausstellungsprojekt hat auch den Geschichtsunterricht inspiriert. Das Schicksal einer interviewten Zeitzeugin aus der Zeit des Nationalsozialismus beschäftigt Armin Heigls Schulklasse weiter. Das jüdische Mädchen hatte 1938 noch ihren Abschluss gemacht, musste dann aber mit ihrem Bruder vor den Nazis fliehen.
„Unter welchen Bedingungen mussten sie auswandern? Wie scharf wurde kontrolliert, was sie einpacken, was sie mitnehmen dürfen? Das war für die Schüler und auch für mich alles sehr, sehr ergreifend. Und jetzt zu ihrem Hundertsten haben ihr auch Schüler noch einen Film gedreht mit ihren alten Stätten, also mit ihrem Geburtshaus, mit unserer Schule. Und wir haben das ihr in die USA geschickt als Erinnerung an ihre Zeit. Solche Sachen entstehen dann auch durch so Projekte. Und das bringt mir was, das bringt den Schülern was.“
Die Türen des Kempten-Museums stehen weit offen – für alle. Aber bis „alle“ auch wirklich vorbeikommen, ist es noch ein weiter Weg, weiß auch Christine Müller Horn.
„Schon allein der Name ‚Museum‘ ist eine Hürde. Ich glaube, wenn man gar nicht museums- oder kulturaffin ist oder denkt ‚Uuh, da gibt’s nur ganz komplizierte Inhalte und die versteh ich eh nicht!‘ und dem Haus keine Chance gibt, dann wird rein schon der Name ‚Museum‘ abschreckend sein.“
Partizipation, also beteiligen, mitmachen: Für viele ist es das große Ding der Gegenwart.
„Ich glaube tatsächlich auch, dass es vielleicht ein bisschen ein Generationenpunkt ist, der zu einer Verschiebung führen wird“, prognostiziert die Berliner Teilhabeforscherin Vera Allmanritter, „weil seit es das Internet gibt – und es ist ja nun wirklich kein Neuland mehr – und es soziale Medien gibt und soziale Communities, in denen sich Menschen einbringen, gestalten sie Sachen gemeinsam. Das heißt dieser Habitus des ‚Ich bringe mich in etwas ein und gestalte etwas gemeinsam mit anderen Menschen mit‘ wächst so generationentechnisch über die jüngeren Menschen immer stärker auch in die gesamte Gesellschaft mit rein. Damit glaube ich einfach, das reine Rezipieren von Kulturangeboten wird für viele in der Bevölkerung dauerhaft einfach gar nicht mehr so wirklich attraktiv sein.“
Mitmachen ist nicht gleich Mitmachen
Doch Mitmachen ist nicht gleich Mitmachen – und gut gemeint ist nicht automatisch gut gemacht. Stichwort Bürgerbeiräte. Im Bremer Focke-Museum wollen sie den neuen Bürger:innen-Beirat so zusammensetzen, dass er die Breite der Gesellschaft repräsentiert. Doch das machen längst nicht alle Häuser so. Es ist zwar keine neue Idee, dass sich Kultureinrichtungen von Beiräten beraten und begleiten lassen. Ein Qualitätsnachweis ist deren bloße Existenz aber noch nicht.
„Eine grundlegende Problematik bei Museen, aber bei Kultureinrichtungen ganz generell, ist, dass sie relativ wenig divers zusammengesetzt sind. Also, sowohl die Mitarbeiterinnen sind nicht besonders divers als auch die Angebotslage. Wenn jetzt in dem Beirat – oder wie auch immer ich es nennen möchte – genau die gleiche Zusammensetzung sitzt, die die Mitarbeiterinnenschafft der Einrichtung widerspiegelt, ist es vielleicht auch ein bisschen viel verlangt, dass dieser Beirat eine fundamentale Änderung des Hauses bewirken kann. Ich glaube, es hängt wirklich ganz stark davon ab: Meint man das auch ernst? Also, will man wirklich teilen hier an der Stelle und Macht abgeben und mitgestalten lassen oder ist es vielleicht eher ein Feigenblatt?“, gibt Vera Allmanritter zu Bedenken.
„Es nützt nichts, wenn das Museum bestimmte neue Vermittlungsformen gefunden hat und die dann am Ende einem Beirat vorlegt und absegnen lässt, sondern vielmehr ist es notwendig, dass die schon sehr früh, also sprich bei der Ideenfindung zusammenwirken und zusammenarbeiten. Dann aber auch vielleicht im Prozess der Zusammenarbeit immer wieder und dass diese Zusammenarbeit möglichst auch damit unterstützt wird, dass die Kompetenz des Museums ein Stück weit auch abgegeben wird an die beteiligten Akteure, also, sprich, dass sie nicht nur mitwirken, sondern wirklich auch mitgestalten und wirklich Entscheidungen mitfällen“, sagt Tobias Nettke, Professor für Museumsmanagement und -kommunikation an der HTW Berlin. Und: Nicht nur das Entscheiden würde er gern „ent-hierarchisieren“. Diejenigen, die sich im Museum einbringen mit ihren Ideen, ihren Objekten, ihrem Sachverstand, müssten dafür auch honoriert werden.
„Wenn wir sagen, wir sind im Dienste der Gesellschaft unterwegs, können wir nicht erwarten, dass sich ja Teile der Gesellschaft einbringen, beim Sammeln und Bewahren und beim Erforschen, aber ehrenamtlich, in ihrer Freizeit am Abend oder am Wochenende, während diejenigen, die sie befragen, also das Museum, dann um 17 Uhr Feierabend machen. Da stimmt was nicht.“
Neue Rolle für Kuratorinnen und Kuratoren
Das Verhältnis von Museum und Publikum – es wird neu austariert. Doch wenn das Publikum nicht mehr nur zum Gucken kommt, sondern selbst gestaltet, mitredet und kuratiert – was heißt das dann für die Rolle der professionellen Kuratorinnen und Kuratoren? Für Christine Müller Horn in Kempten bedeutet es: aushalten können, dass man nicht mehr alles allein bestimmt.
„Unser Credo bei diesen Sonderausstellungen im Bürgerinnen- und Bürger-Raum ist, dass wir eigentlich in den Inhalt nicht reinreden wollen. Also, es dürfen keine sexistischen, rassistischen, verletzenden Inhalte vorkommen. Da würde ich nein sagen, ja. Aber welcher Inhalt es sein soll, das kommt von den Gruppen. Manchmal kommen solche Gruppen ja auch mit einer Idee und dann muss man erst entwickeln, in welche Richtung, dass es überhaupt gehen könnte.“
Ähnlich schildert das auch Bora Akşen in Bremen. Und er sagt: Kuratieren heiße heute nicht mehr nur fachlich fit zu sein und das Ausstellungshandwerk zu beherrschen.
„Was dazugekommen ist, ist so eine Fähigkeit auch zu moderieren, zuzuhören und das tatsächlich dann umsetzen zu können, was denn eben von den Partnern gewünscht ist, von den Kooperationspartnern. Man hat zwar eine Idee von einer Ausstellung, aber ob die dann auch wirklich umsetzbar ist in einer Ausstellung, das ist dann immer noch ein anderes Thema. Also, rein handwerklich: Wie gehe ich mit Objekten um? Dann rede ich mit meinen Restauratorinnen und Restauratoren. Oder: Wie gestalte ich eine Ausstellung? Wie entwickeln wir ein Narrativ, dass man eine Geschichte erzählen kann? Das sind so Sachen, das sehe ich mich schon in meiner Rolle.“
Museumswissenschaftler Tobias Nettke sagt: Dieses neue Selbstverständnis sollte auch Konsequenzen für die Ausbildung künftiger Kuratorinnen und Kuratoren haben.
„Im Grunde genommen müssen wir auch da als Museen uns breiter aufstellen und sagen: Okay, ich bin eben nicht nur für – ich sage jetzt mal – chinesische Vasen zuständig in meiner Sammlung, sondern ich bin auch zuständig, bestimmte Communities im Rahmen meiner Arbeit dauerhaft zu kontaktieren, mit ihnen im Austausch zu sein und über bestimmte Formate deren Perspektiven einzubringen.“
Ein Museum, das den Menschen gehört
Museen „im Dienste der Gesellschaft und ihrer Entwicklung“ – so definiert es der Internationale Museumsbund. Das ist ein hoher Anspruch. Kann er allein auf der Ausstellungsfläche eingelöst werden? Teilhabeforscherin Vera Allmanritter denkt weiter.
„Könnte man nicht auch sagen: Es ist die generelle Aufgabe eines Museums als Teil einer Stadtgesellschaft, ein Museum zu sein, das den Menschen gehört, das sie mitgestalten und das für sie ein zugänglicher Raum ist, den sie vielleicht auch für andere Sachen nutzen können? Man kann Museen ja auch einfach generell öffnen: das Foyer öffnen, das WLAN freimachen, andere Veranstaltungen zulassen, die Yoga-Gruppe üben lassen. Das geht hier alles und führt vielleicht wirklich niemals zu anderem Publikum, ist aber trotzdem eine ganz andere Rolle des Museums in der Stadt.“
Das Museum auch als Versammlungsraum, als Nachbarschaftsort, als Forum. Ein Konzept, das sie künftig im Focke-Museum in Bremen verfolgen, sagt Kurator Bora Akşen. „Die Vision ist, dass wir hier einen Kulturcampus haben, der dann durch den Umbau bedingt vergrößert wird.“
Museum als eine Art Bürgerzentrum
Bis 2026 soll das Focke-Museum umgebaut werden – architektonisch wie konzeptionell. Dabei geht es nicht nur um die Ausstellungsflächen. Es soll auch ein ganz neuer Raum dazukommen, „dass man tatsächlich hier so etwas wie ein Bürgerzentrum hat, das dann auch tatsächlich von Vereinen oder von Initiativen unkompliziert genutzt werden kann. Viele Vereine und Initiativen sind eigentlich immer auf Suche nach einem Raum, wenn es um Treffen geht, um eine Veranstaltung, um ein Konzert, Lesung. Es ist immer die Raumfrage. Natürlich: Ausstellungen sind das A und O – aber auch alles andere, was jetzt dazu kommt, das macht uns auch aus.“
Wie in Bremen setzt auch Christine Müller Horn in Kempten auf die Welt außerhalb der Museumsmauern. In Altenheime, auf Stadtfeste, in Schulen will sie gehen für Mitmachaktionen und um Publikum einzuladen. Und am liebsten würde sie hinter dem Museum im Stadtpark einen Gemeinschaftsgarten anlegen.
„Damit wir vielleicht auch da wieder neue Leute finden, die mit uns an den Samstagen dann diese Beete pflegen, zum Beispiel. Und dass man auch da halt wieder einen Ort hat, der niederschwellig ist, wo man einfach hinkommen kann, ohne sich irgendwie anzumelden, ohne dass es irgendetwas kostet, und dass man aber dann ein schönes Gemeinschaftsgefühl bekommt. Das fände ich schön.“