Musen im Kolosseum

Von Thomas Migge · 20.02.2006
Die Musen sind der Legende nach die Schutzgöttinnen der Künste und später auch der Wissenschaften. Die antiken Menschen glaubten, dass die Musen die Dichter und Künstler inspirierten. Eine Ausstellung im römischen Kolosseum zeigt nun rund 100 Skulpturen, Wandbilder und Mosaike, die die Darstellung der Musen in der Antike deutliche machen.
Sie sitzt bequem auf einem elegant geformten Stuhl. Sie stützt ihren rechten Arm auf ihr linkes Bein, das sie über das andere gelegt hat. Die junge Frau wirkt ungemein lässig, fast schon cool. Ihre leicht gewellten Haare sind am Hinterkopf zu einem Knoten zusammengebunden. Sie lächelt und scheint in die Ferne zu schauen.

Auf den ersten Blick und von weitem betrachtet wirkt die Skulptur wie aus dem späten 19. Jahrhundert: die Darstellung eines Mädchens oder einer sehr jungen Frau, die nachdenkt. Dann aber wird deutlich, dass wir es mit einem antiken Kunstwerk zu tun haben. Dem Künstler gelang es auf meisterhafte Weise, eine ungezwungene, ungemein moderne Körperhaltung wiederzugeben, wie man sie von antiken Skulpturen nicht unbedingt gewöhnt ist.

Vielleicht liegt das daran, dass der Bildhauer keine Königin, keine Aristokratin oder Göttin des Olymps darstellte, sondern eine Muse, in diesem Fall die Polyhymnia, die "Gesangreiche" - vermutet Angelo Bottini, oberster Hüter der römischen Altertümer:

"Da es sich bei den Musen um Figuren von universaler Bedeutung für den antiken Menschen handelte, die weder Götter des Olymp oder Menschen waren, konnten Künstler sie anders als diese darstellen. Und zwar ohne vorgegebene Schemata, die eine ganz bestimmte Ikonographie verlangten. Die Musen wurden von den Künstlern als Symbole des Intellektuellen interpretiert."

Angelo Bottini ist Kurator einer ungewöhnlichen Ausstellung, die sich mit den Musen der Griechen und Römer beschäftigt. In den Ausstellungssälen des Kolosseums - ein wirklich passender Ort, um antike Themen zu behandeln - werden rund 100 Skulpturen, Wandbilder und Mosaiken gezeigt, die die Musen und die Darstellung des Intellektuellen in der Antike thematisieren.

Wie zum Beispiel ein besonders ausdrucksstarkes, fast schon realistisches Freskenbild aus einer Villa in Pompeji. Es zeigt eine junge Frau. In der linken Hand trägt sie eine hölzerne Schreibtafel. Ihre rechte Hand hält einen Stift, den sie, in Gedanken versunken, an ihren Mund führt.

Angelo Bottini: "Wir zeigen die vielleicht schönsten Kunstwerke der Antike, die das Thema Musen behandeln. Uns geht es darum, dem Publikum zu verdeutlichen, dass der gebildete antike Mensch ein Bedürfnis hatte, das Intellektuelle, personifiziert durch die Musen, künstlerisch aufzuwerten, ihm in seinem Alltagsleben eine Bedeutung, einen Stellenwert zuzuordnen. Das heißt, er umgab sich, um zwei Beispiele zu nennen, mit Büsten von Philosophen und mit Gemälden, die Dichterinnen zeigen."

Die Musen sind der Legende nach die Schutzgöttinnen der Künste und später auch der Wissenschaften. Sie sind die Töchter von Göttervater Zeus und der Titanin Mnemosyne. Ursprünglich waren sie nur drei Töchter. Seit dem Dichter Hesiod sind es neun Musen. Hesiod gab ihnen auch als erster einen Namen: Erato repräsentiert die erotische Lyrik, Euterpe das Flötenspiel, Kalliope die epische Dichtung, Klio die Geschichtsschreibung, Melpomene die Tragödie, Polyhymnia die Musik, Terpsichore den Tanz, Thalia das Lustspiel und Urania die Sternkunde.

Musen, so dachte der antike Mensch, inspirieren Künstler zum Schaffen, repräsentieren sie doch den Gesang, die Musik, den Tanz und die Dichtung. Bildhauer und Maler, in Griechenland wie auch im antiken Rom, bildeten sie nur sehr selten als Göttergestalten dar. Die Musen verstand man, und das war ja ihre eigentliche Aufgabe, als Anstoß zur Darstellung des Intellektuellen und Künstlerischen.

Wenn ein antiker Bildhauer eine Büste von Cicero oder einem anderen Dichter oder Historiker schuf, war er zuvor, so die damals allgemeine Überzeugung, von den Musen geküsst worden. Er hatte durch sie seine künstlerische Inspiration erfahren.

Die Musen wurden vor allem im alten Rom in den gebildeten Kreisen hoch verehrt. Es galt als besonders schick für die Söhne der gehobenen Schichten, die sich den Künsten gegenüber verpflichtet fühlten, eine Reise zum Fuße des Olymp nach Griechenland zu unternehmen, wo die Musen kultisch verehrt wurden, erklärt Ausstellungskurator Bottini:

"Die griechischen Musen erhielten im alten Rom neue Namen und wurde zum Synonym für kulturelle Inspiration. Unsere heutigen Vorstellungen von den Musen sind in der römischen Periode entstanden. Diese Idee der Musen wurde dann in der Renaissance wieder aufgegriffen und bis heute immer wieder rezipiert."

Die einzelnen Ausstellungsobjekte, die entweder die Musen an sich oder aber die Künste in den verschiedensten Darstellungsformen thematisieren, werden in Räumlichkeiten gezeigt, die für so eine Kunstschau perfekt geschaffen sind. Es handelt sich um die ehemaligen Wandelhallen des größten Amphitheaters der Geschichte: bis zu 15 Meter hohe Gänge mit Gewölbedecken. In den dunkel gehaltenen Räumen werden nur die Ausstellungsobjekte ausgeleuchtet. Auf diese Weise entsteht eine besonders geheimnisvolle Atmosphäre. Das moderne Rom mit seinem Verkehrslärm und dem alltäglichen Chaos scheint weit entfernt zu sein.