Fünf Stunden täglich am Tisch
Die französische Art zu essen, das Nacheinander von Apéritif, Vorspeise, Hauptgericht, Käse, Dessert und Kaffee: diese Abfolge ist auf der UNESCO-Liste des nicht materiellen Weltkulturerbes. Eine Foto-Ausstellung in Marseille zeichnet jetzt 200 Jahre französischer Esskultur nach.
Schon eines der allerersten Fotos galt einem gedeckten Tisch: der französische Erfinder Nicéphore Niépce nahm es 1823 auf – in einem wahrlich aufwendigen Verfahren: mit pulverisiertem Asphalt, Lavendelöl, silberbeschichteter Kupferplatte und einer Camera obscura machte Nicéphore Niépce ein ganzes Stillleben sichtbar – und haltbar: auf weißem Tischtuch Teller, Schüssel, Besteck, ein Glas, eine Vase mit Blumen. Diese "Héliographie", wie Niépce das Bild nannte, eröffnet den Rundgang im "Museum der Zivilisationen Europas und des Mittelmeers" – ein Rundgang, der Hunderte von Fotos bereithält, Aufnahmen berühmter Fotografen darunter sowie sehr viele Amateurfotos: sie alle zeigen nur eines: Franzosen beim Essen.
Man sitzt um einen Tisch herum und nimmt sich Zeit
Nicolas Havette, einer der Kuratoren: "Das ist bei allen Franzosen so und auch in den Institutionen, ob das die Gartenfeste im Elysée-Palast sind oder das gemeinsame Mittagessen aller Minister einmal die Woche oder eben jeder bei sich: immer sitzt man um einen Tisch herum, sieht sich an, nimmt sich Zeit. Und man isst, und man spricht über alles Mögliche, auch und gerne übers Essen. Das ist eine Kultur, in die man hier hineingeboren wird – man macht das schon ganz unbewusst so."
Auf einer Wiese sitzen sich 2000 bretonische Hochzeitsgäste gegenüber, auf langen Brettern zwischen ihnen findet sich nichts als das Unverzichtbare der französischen Küche: Brot und Wein – ein Foto aus der Zeit um 1900. Man sieht Bilder mondäner Bankette und Diners, Szenen von Erntearbeitern, die ihre mitgebrachte Suppe löffeln, man schaut in die riesige Kantine der Citroen-Werke von 1917, in der an die tausend Arbeiterinnen und Arbeiter beim Essen zusammensitzen. Bauernfamilien in ihren Küchen, Schaufensterschilder aus der Zeit der deutschen Besatzung: "Heute kein Wein!", "Heute kein Fleisch!", das französische Wirtschaftswunder: auf Werbefotos füllen lächelnde Frauen mit umgebundener Schürze riesige Kühlschränke oder erfreuen sich an elektrischen Fleischmessern. Ein Picknick vorm Supermarkt, eine Familie in der Autobahnraststätte, Fastfood, Slowfood, auf dem Küchentisch ein ganzer Einkauf aus dem Bioladen.
Mittags und Abends mindestens drei Gänge
"Das ist wirklich eine Konstante in unserer Geschichte: der Tag bekommt seine Struktur durch das Essen. Frühstück, Mittag- und Abendessen, und mittags wie abends gibt es immer mindestens drei Gänge – das ist die Tradition, und sie besteht fort bis heute. Nur eines hat sich geändert: vor zweihundert Jahren saßen Franzosen etwa fünf Stunden täglich am Tisch, heute sind es pro Tag nur noch knapp zwei Stunden."
Viele Geschichten werden erzählt, die Ausstellung wendet sich ans große Publikum, auch in Augenhöhe der Kinder hängen Fotos. Darüberhinaus werden anhand all der gezeigten Küchen-, Esszimmer- und Picknickszenen, unaufdringlich, aber wirkungsvoll, auch die enormen sozialen Umwälzungen bebildert, die Frankreich erlebt hat. Und nicht zuletzt ergibt sich auch: eine Geschichte der Fotografie, von ihren ersten Versuchen bis zum Instagram-Zeitalter - mit all ihren technischen und ästhetischen Veränderungen, ihren sozialen Implikationen.
Der Familienpatriarch saß genau in der Mitte
Kuratorin Floriane Doury: "Zu Beginn wurden die Aufnahmen von professionellen Fotografen gemacht, und da saß dann der Familienpatriarch am Esstisch genau in der Mitte, sehr repräsentativ. Dann wurde das Fotografieren etwas einfacher, und also übernahm der Hausherr diese Rolle, allerdings verließ er damit auch seinen zentralen Platz am Esstisch! Er war auf den Bildern nicht mehr zu sehen, nun bildete die Frau das repräsentative Zentrum der Aufnahmen! Erst in den 60er Jahren erst wurden die Apparate dann wirklich einfach, einmal draufdrücken reicht, das glaubte man auch einer Frau zutrauen zu können – und also nahm der Mann seinen Platz auf den Bildern wieder ein!"
Eltern gaben ihren Kinder Wein in die Schule mit
Zur Ausstellung ist ein beeindruckender Katalog erschienen, der auf fast 200 Seiten hinreißende Fotos zeigt. Auch jenes aus dem Jahr 1954: einige Schüler sitzen in ihrem Klassenzimmer und trinken mit vielsagendem Lächeln Milch. Das war damals neu: Wo Brot und Wein seit Generationen alltägliche Begleiter der Familien waren, gaben die Eltern ihren Kindern wie selbstverständlich auch in die Schule Wein mit. Erst Ministerpräsident Pierre Mendès France machte diesem alten Brauch per Gesetz ein Ende.