Museum Notaufnahmelager Marienfelde

Von der Erfahrung, ein Flüchtling zu sein

Der Flüchtlingsansturm auf das Notaufnahmelager Berlin-Marienfelde wurde am Montagvormittag, 14.08.1961, immer größer. Tausende von Neuangekommenen, die sich dort registrieren lassen wollten, warteten vor dem Eingang des Notaufnahmelagers. Sie wurden schubweise eingelassen. Die Aufnahmebehörden waren dem Ansturm nicht mehr gewachsen. Die Flüchtlinge wurden erneut aufgefordert, in den nächsten Tagen wiederzukommen.
Flüchtlinge im Notaufnahmelager Marienfelde © dpa / Zettler
Von Manfred Götzke |
Im Südwesten Berlins erinnert das Museum Notaufnahmelager Marienfelde an die Geschichten von DDR-Flüchtlingen Anfang der 1950er-Jahre. Unter den Besuchern sind auch Menschen, die selbst vor Kurzem geflohen sind. Die Erfahrungen der Flüchtlinge damals und heute ähneln sich sehr.
Christine Ahrens: "Auch wenn ich zu schnell rede, sagen sie Bescheid!"
Teilnehmer: "Nein, sehr gut"
Christine Ahrens spricht heute etwas langsamer als sonst, und deutlicher. Die junge Historikerin führt eine besondere Gruppe durch das Notaufnahmelager Marienfelde im Südwesten Berlins.
"Hier sehen sie noch DDR-Flüchtlinge in unterschiedlichen Zeiten, weil es wichtig ist, wann die Leute geflohen sind."
Die 20 Frauen und Männer in ihrer Gruppe lernen gerade deutsch – Orientierungskurs, Sprachniveau B1. Ahrens macht sie heute dabei gleich noch mit den Besonderheiten deutscher Teilungsgeschichte vertraut.
"Bevor die Mauer gebaut wurde, war es hier in Marienfelde immer sehr, sehr voll. Hier sind Hunderte, zum Teil Tausende an einem Tag angekommen. Nach dem Mauerbau waren es sehr viel weniger."

Mann flieht aus Syrien, Familie bleibt zurück

Ahrends schleust die Gruppe in den ersten Raum der Ausstellung. Wo seit Anfang der 50er-Jahre aus DDR-Bürgern Westbürger wurden, hängen heute Schwarz-weiß-Porträts an den Wänden.
"Hier haben wir ein Foto, das zeigen soll, wie viele Menschen geflohen sind."
Sie zeigt auf ein Familienfoto von 1949. Jede dritte Person ist mit einem gelben Viereck markiert.
"Alle, die so ein gelbes Viereck haben, sind bis zum Mauerbau 1961 geflohen, also ziemlich viele Menschen."
Museumsbesucher hören dem Vortrag von Historikerin Christine Ahrens zu.
Historikerin Christine Ahrens führt eine Gruppe von Deutschlernenden durch die Ausstellung in der Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde im Südwesten Berlins.© Manfred Götzke
Die meisten, die heute in Ahrends Gruppe sind, haben ihr Land weder aus Not noch aus politischen Gründen verlassen – viele sind der Liebe wegen nach Deutschland gekommen. Drei Frauen und ein Mann aus Kolumbien sind ihren Partnern nach Deutschland gefolgt. Andere, weil sie hier einen Job gefunden haben.
Nicht so Lubna Muhad. Ihr Blick ruht lange auf dem Foto. Der 32-jährigen Syrerin ging es bis vor einem Jahr ganz ähnlich wie der abgebildeten DDR-Familie.
"Mein Mann, er hat hier nach Deutschland gekommen."
Ihr Mann war aus Damaskus vor dem Assad-Regime über die Türkei nach Griechenland, schließlich nach Deutschland geflohen.
"Über Meer nach Deutschland kommen."
Sie und die drei kleinen Töchter mussten in Syrien bleiben.
"Ich habe immer gedacht, wenn sie hier erzählen von DDR: Ich musste immer an Syrien: den Krieg, die Flucht denken. Ich glaube, viel gleich."
Muhad wendet den Blick ab, als Ahrends erzählt, dass manche Familien erst mehr als 30 Jahre später wieder zusammengefunden haben. Sie konnte ihrem Mann nach einem Jahr nach Deutschland folgen, weil er als Flüchtling anerkannt wurde. Muhad weiß, dass viele ihrer Landsleute seit diesem Sommer ihre Familien nicht mehr nachholen dürfen.
"In Syrien viele warten. Viele Frauen und Kinder in Syrien jetzt ohne Männer, ohne Essen, ohne Wohnung."

"Manche müssen auch rausgehen"

Wir gehen in den nächsten Raum. Schautafeln, Fotos und kurze Audios informieren über die Gründe für die Flucht aus der DDR.
"Dann möchte ich ihnen jetzt einen Mann zeigen, warum der geflohen ist. Der war Handwerker, durfte aber nicht Meister werden, weil er oft gesagt hat, was ihm in der DDR nicht gefällt. Bei dem kamen viele Sachen zusammen, die ihn gestört haben. Und jetzt sollen sie mal ihre Sachen angucken. Gruppe eins."
Die Leiterin hat ihren Kurs in drei Gruppen aufgeteilt, jede soll sich eine Schautafel ansehen, im Begleitheft Fragen beantworten, den anderen davon berichten. In manchen Führungen erzählen die Teilnehmer dann oft eher von ihren eigenen Flucht-Erlebnissen, sagt Arends.
"Manche müssen auch rausgehen, weil sie hier zu viel an ihre eigenen Fluchtgeschichten erinnert. Manche erzählen, dass auch auf ihrer Flucht geschossen wurde zum Beispiel – und auch, dass man nichts mitnehmen konnte bei der Flucht. Das ist ähnlich wie heute. Diese Behördengänge."

Fünf Jahre Flucht von Eritrea nach Deutschland

Wir gehen in den nächsten Raum. Er zeigt Bilder vom 13. August 1961. Stacheldraht, Mauerbau, Fluchttunnel.
"Das waren Häuser, die standen in der Mitte von Berlin, direkt an der Grenze."
Die Gruppe bleibt vor einem Bild stehen, das eines der Häuser auf der Grenze zeigt. Eine Frau springt aus dem zweiten Stock von Ost- nach Westberlin. Brana Teki, ein 27-jähriger Eritreer, schüttelt den Kopf, er scheint kaum fassen zu können, wie eine Flucht so einfach und so seltsam sein kann.
"Bei mir fünf Jahre."
Reporter: "Fünf Jahre von Eritrea nach Deutschland?"
"Ja, ein Jahr bis nach Sudan, dann zwei Jahre Ägypten, dann nach Italien. Fünf Jahre von Eritrea nach Deutschland, ja."
Das geteilte Berlin – Lubna Muhad sagt, sie müsse da an ihre Heimatstadt, an Damaskus denken. Wo die Grenze, die Front sich Woche für Woche verändert hat, in sieben Jahren Bürgerkrieg. Immer wieder musste sie mit ihrer Familie in andere Viertel ziehen.
"In Damaskus wir alle immer in andere Schulen gewohnt, mal hier, mal da."

Wohnen im Sechs-Personen-Zimmer

Nach knapp zwei Stunden ist die Führung vorbei. Auf dem Weg zurück kommen wir durch einen Flur, rechts und links die Original-Zimmer der DDR-Flüchtlinge. Acht Quadratmeter, zwei Doppelstockbetten, dünne Matratzen, grobe, graue Wolldecken.
"Mein Mann, als er nach Deutschland gekommen, er lebte in genau diese Zimmer mit sechs Personen noch. Es war sehr schwer, es gab viele Probleme mit Sicherheit."
Ihr Mann habe in den ersten Monaten in Berlin noch weniger Platz und Privatsphäre gehabt, er habe ihr oft davon erzählt. Jetzt lebt sie mit ihrer Familie in einer eigenen kleinen Wohnung in einem Dorf in Brandenburg.
Reporter: "Sind sie glücklich?"
"Ja, ich bin mit meiner Familie hier. Ich bin sehr, sehr froh."
Mehr zum Thema