Museumsschiff Tinguely

Kunst in Bewegung

05:54 Minuten
Die MS Evolutie mit Tinguelys Schwimmwasserplastik in Gelsenkirchen.
Das Basler Museum Tinguely feiert seinen 25. Geburtstag mit einer Schiffstour zu wichtigen Lebensstationen von Jean Tinguely. Hier macht es in Gelsenkirchen Halt. © 2021 Museum Tinguely, Basel / Foto: Frank Vinken
Von Nadja Baschek |
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Für den Schweizer Künstler Jean Tinguely war alles beweglich. Seine maschinenartigen Skulpturen tröten, krachen und klirren. Nun hat das Museum Tinguely eine seiner Plastiken auf ein Schiffsdeck montiert und auf Reisen geschickt.
Im Duisburger Hafen liegt ein Schiff, ein unscheinbarer kleiner Frachter. Unscheinbar, wäre da nicht die zerbrechliche und zugleich massive Skulptur aus schwarzen Eisenrädern und Schläuchen an Deck. Knapp vier Meter ragt sie in den Himmel. Ein Crewmitglied stellt den Motor an und nach einem vorsichtigen Plätschern sprudelt Wasser aus den Schläuchen. Die Räder und Schläuche drehen und winden sich, das Wasser spritzt in alle Richtungen.
Die Schwimmwasserplastik des Schweizer Künstlers Jean Tinguely ist eigentlich eine Brunnenskulptur, die den Platz vor dem Museum Tinguely in Basel schmückt. Doch zum 25-jährigen Jubiläum des Hauses hat das Museum die Schwimmwasserplastik aufs Schiffsdeck montiert und schickt die Kunst auf Reisen. Eine Idee, die nicht immer leicht umzusetzen ist, wie Museumsdirektor Roland Wetzel erklärt:
"Wenn man auf den Kanälen unterwegs ist oder auch in Paris gerade auf den Stadtkanälen, dann hat man nicht viel Luft nach oben. Das heißt: Wir mussten die schon ein paar Mal abbauen und im Schiffsbauch versorgen – und das hat aber gut geklappt, ist halt ein Aufwand, das sind jeweils mehrere Stunden, um das Oberdeck wegzuklappen."
Die Skulptur wiegt 600 Kilo, ein Koloss. Während das Wasser oben leise aufs Deck rieselt, hört sich das im schummrigen Schiffsbauch schon anders an.

Kritik an der modernen Industriegesellschaft

Jean Tinguely, 1925 in Fribourg geboren, mag es laut. Seine Werke sollen plätschern, krachen, piepsen, kurz: Lärm machen. Er baut Skulpturen, viele aus Eisen und Schrott, die beweglich sind und wie Maschinen funktionieren – ohne Zweck, sinnlos, sie produzieren nichts, außer Wiederholungen und Geräusche. Eine Kritik an der modernen Industriegesellschaft und ein Klangexperiment.
Damit beginnt der gelernte Dekorateur Tinguely Mitte der 50er-Jahre, als er bereits in Paris wohnt. Er zählt zur Künstlergruppe des Nouveau Réalisme, die die starren Regeln der Kunst auflösen will.
"Er hat die Statik des skulpturalen Monuments aufgehoben und gesagt: Alles ist beweglich. Und damit meint er eigentlich die ganze Welt, die Zeit, die Gesellschaft", sagt Söke Dinkla. Sie ist Direktorin des Lehmbruck-Museums in Duisburg. Der lokale Kooperationspartner beherbergt mehrere Werke von Tinguely, raumgreifende Maschinen mit poetischen Namen wie "Märchenrelief": Eine Skulptur mit Rädern, eine gelbe Ente schaukelt vor sich hin, ein Gartenzwerg dreht sich rasend schnell um die eigene Achse.
"Er hat eine neue Ästhetik geschaffen, die eine popkulturelle Farbigkeit in die Skulptur gebracht hat und eine humorvolle, witzige Art, Skulptur ganz neu zu denken", so Söke Dinkla.

Unmittelbar sinnlich erfahrbar

Witzig, leicht, zugänglich – Attribute, die Tinguely anhaften. Aber auch: seicht, zu spielerisch. Für Jean Tinguely seien Kinder die wichtigsten Kritiker gewesen, sagt Roland Wetzel vom Baseler Tinguely Museum. Und das sei eine Qualität:
"Diese Zugänglichkeit ist sehr wichtig. Man kann seine Werke auf ganz einfache Art und Weise unmittelbar sinnlich erfahren. Er war ein sehr kritischer Zeitgenosse, und viele seiner Werke, die man mit Freude oder spielerisch erfahren kann, haben sehr viel Tiefgang."
Die MS Evolutie an der Anlegestelle in Maastricht.
Die MS Evolutie an der Anlegestelle in Maastricht.© 2021 Museum Tinguely, Basel
Das Spielerische und die Interaktion stehen in der schwimmenden Ausstellung im Vordergrund. An einer Holzwand sind sieben schwarze Kästen befestigt. Knöpfe ermuntern zum Bedienen – die Neugierigen probieren sie direkt aus.
Leider ist die Plastik auf dem Schiffsdach fast die einzige originale Arbeit. Wobei, was bedeutet original? Tinguely stellt 1960 selbst die Frage, wer Autor eines Werkes ist. Für sein "Maschinenbild Haus Lange" gibt er eine genaue Anleitung zum Selberbasteln. Das schreibmaschinengetippte Dokument ist in der Ausstellung zu sehen. Darüber hinaus Adaptionen, Ideen, die auf Tinguelys Werk beruhen.

Amsterdam, Düsseldorf, Basel: Stationen seines Lebens

Die kleine Schau ist in zwölf Kapitel gegliedert mit Fotos und Texten. Sie bilden die Stationen des Frachters ab und damit auch die Stationen des Künstlers. In Paris knüpft Tinguely wertvolle Kontakte in die Kunstszene. Schwarzweiße Fotos zeigen ihn in Aktion, Arm in Arm mit Yves Klein, zusammen mit seiner zweiten Ehefrau Niki de Saint Phalle oder mit einer Skulptur auf der Straße.
"Tinguely versuchte, seine Kunst immer auch auf die Straße zu bringen. Und mit 'Le Transport' hat er genau das unternommen: ein ganzes Ausstellungsprojekt durch die Straßen von Paris von seinem Atelier zum Ausstellungsraum zu bringen", erklärt Roland Wetzel.
Das schwimmende Museum greift diesen Gedanken auf und interpretiert ihn neu. Dabei orientiert sich die Route an den Lebensstationen des Künstlers: Amsterdam, wo er oft ausstellt. Düsseldorf, wo er sich mit den Künstlern der ZERO-Gruppe anfreundet. Basel, sein Zuhause. Der museale Frachter verbindet die Sehnsucht nach Kunst, Freizeit und Urlaub, gibt kleine Einblicke in das Leben des Künstlers.
Gerne hätte es noch mehr tröten und krachen, scheppern und klirren können. Das übernehmen die Performancekünstlerinnen und -künstler. In einem ergänzenden Programm ziehen sie auf der Tinguely-Tour durch die Innenstädte und lassen ihre Körper erklingen, wie in der Arbeit von Nevin Aladağ: "Body Instruments". So wird diese besondere Schau dann doch unüberhörbar.
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