Komplexe Strukturen, süffige Melodien
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Musicals von Stephen Sondheim sind eingängig und raffiniert zugleich. In den USA ist er einer der erfolgreichsten Künstler in seinem Genre. Zunehmend entdecken ihn jetzt auch Musiktheater in Europa – aktuell sind vier Inszenierungen zu sehen.
Stephen Sondheim, geboren 1930 in New York City, gehört in den USA seit Jahrzehnten zu den erfolgreichsten Musical-Komponisten. Angefangen hat er 1959 als Texter für Leonard Bernsteins "West Side Story", da war er 25 Jahre alt. Inzwischen überwiegt bei ihm ganz klar die musikalische Arbeit. Er hat bei dem Komponisten und Musiktheoretiker Milton Babbitt studiert und so sind seine Stücke zwar sehr eingängig, basieren jedoch auf einer umfassenden klassischen Musikbildung.
Zunehmend werden Musicals von Sondheim auch in Europa auf die Bühne gebracht. Unser Autor Bernhard Doppler hat sich vier aktuelle Inszenierungen angeschaut und war dafür in Montepulciano, in Coburg, in Zürich und am Theater Plauen-Zwickau unterwegs.
"Liebe, Leidenschaft, Wahnsinn" in Montepulciano
Eröffnung des "Cantiere Internazionale d'Arte" in Montepulciano: Im Teatro Poliziano, einem großen barocken Logentheater mit vier Rängen wird Stephen Sondheims Musical "Passion" gezeigt. Es basiert auf dem im 19. Jahrhundert spielenden Roman "Fosca" von Iginio Ugo Tarchetti. Ettore Scola hatte ihn 1981 unter dem Titel "Passione d'amore" verfilmt und damit Sondheim begeistert. "Amore - Passione - Follía, also "Liebe - Leidenschaft - Wahnsinn", ist auch das Motto des diesjährigen Cantiere.
"Was ist eigentlich Liebe? Warum ist es viel leichter zu lieben, als geliebt zu werden?" Solche grundsätzlichen Fragen interessieren Sondheim.
"Passion" ist eine Dreiecksgeschichte. Der Offizier Giorgio wird durch Versetzung in eine andere Garnison von seiner Geliebten Clara getrennt. So leidenschaftlich die Liebe der beiden ist, sie ist zeitlich sehr begrenzt. Clara ist unglücklich verheiratet, und muss die Zusammentreffen mit ihrem Geliebten taktisch klug organisieren. Doch dann kommt Fosca ins Spiel, die Todkranke, Hässliche, Fordernde, mit der Giorgio fast ständig zusammen sein muss. Wird am Ende dies die wahre Liebe? Fosca: die Primadonna als Todkranke, Sterbende, wie Mimi oder La Traviata? Das Libretto von James Lapine, die Lyrics vom Komponisten, sind in diesem Musical durch Briefe strukturiert.
"Heirate mich ein bisschen!" in Coburg
Lediglich "Mann" und "Frau" heißen die beiden Protagonisten eines anderen aktuellen Sondheim-Theaterabends. Darin geht es um zwei Personen, die zwar in der gleichen Stadt leben, aber nie zusammenkommen. In der Reithalle des Theaters Coburg hat Amelie Elisabeth Scheer dieses Werk inszeniert und eigene Texte dafür eingefügt. Zwischen den Songs sind verschiedene Texte und Bilder als Projektionen zu sehen, E-Mails oder Whatsapps, die sich die beiden Protagonisten geschickt haben könnten.
"Marry me a little" war 2018 in Coburg Auftakt für ein größeres Projekt: "Into the woods", ein Sondheim-Musical, zusammengestellt aus Märchen: "Rotkäppchen", "Aschenbrödel", "Hans im Glück".
Ein Märchenstück für Kinder ist "Into the woods" sicher nicht. Dafür ist es viel zu zynisch. Es sind Märchenfiguren mit Fehlern und Schwächen, die sich in einem Wald verirren, der an Shakespeares "Sommernachtstraum" denken lässt. Vor allem geht es um Wünsche und Wunscherfüllung.
Das Lächeln einer Sommernacht in Zwickau
Auch Sondheims "A Little Night Music" erinnert an Shakespeares "Sommernachtstraum", außerdem an Woody Allens Film "Eine Sommernachts-Sexkomödie". Vorlage für Sondheim war vor allem Ingmar Bergmans Film "Das Lächeln einer Sommernacht". Mozarts Musik wird von Sondheim nicht direkt zitiert, höchstens die Atmosphäre seiner Opern. Sexuelle Annäherungen, Frustrationen und Verwechslungen sind das Thema.
Generalmusikdirektor Leo Siberski hat "A Little Night Music" im Theater Plauen-Zwickau einstudiert. Das Gewandhaus in Zwickau wird gerade umgebaut und so findet die Vorstellung nicht auf der großen Bühne, sondern im Malsaal statt, dennoch arbeiten Sänger und Orchester mit raffiniert ausgeklügelter elektronischer Verstärkung. So eine Livestudio-Situation passt durchaus gut zur musikalischen Sprache Sondheims.
Ein mordender Friseur in Zürich
Im Opernhaus Zürich inszeniert der Intendant Andreas Homoki "Sweeney Todd, The Demon Barber of Fleet Street", die Geschichte vom Friseur, der seine Kunden mit dem Rasiermesser tötet. Das Fleisch der noch frischen Leichen wird nach dem Mord von seiner Geliebten Mrs Lovett zu Pasteten verarbeitet und verkauft. Homoki arbeitet mit Stars der internationalen Opernszene wie Angelika Kirchschlager, Bryn Terfel und Barry Banks. Die Titelrolle des mordenden Friseurs singt Bryn Terfel, der zuvor in Zürich als "Fliegender Holländer" begeisterte.
Sondheims "Sweeney Todd", uraufgeführt 1979, kann man unterschiedlich interpretieren, als Kostümschinken aus dem London des frühen 19. Jahrhunderts, oder wie beim Opernfestival im amerikanischen Glimmerglass durch den Regisseur Christopher Alden als moderne Pop-Art, bei der bei jedem Mord Blut an weiße Wände geschüttet wird, fast wie bei einer Aktion von Hermann Nitsch. In London selbst gibt es zwei ganz unterschiedliche Aufführungen.
Die Dominanz des gesprochenen Wortes, des Textes, der Lyrics erzeugt bei jedem Werk Sondheims eine eigene musikalische Welt. Man kann nicht von einem einheitlichen "Sondheim-Stil" sprechen. Jedes Stück scheint auch musikalisch völlig unterschiedlich konstruiert. Stephen Sondheim: süffige Melodien, komplexe Strukturen. Und vor allem Abgründe, Hintergründigkeit und intellektueller Spaß. Es scheint, dass ihn die europäischen Musiktheater erst jetzt entdecken.