Klaviere und Kanonen
"Zwischen Schützengraben und Elfenbeinturm", so war das Konzertprogramm im Grassi-Museum für angewandte Kunst am 16. und 17. Juni 2014 in Leipzig überschrieben - ganz im Zeichen des Ersten Weltkriegs. Zu Gehör kam Musik von Béla Bartók, Alban Berg, Claude Debussy, Anton Webern, Igor Strawinsky, Arnold Schönberg und vielen anderen.
Schützengraben oder Elfenbeinturm – zwischen diesen beiden Polen bewegten sich die Komponisten vor 100 Jahren. Der Leipziger Pianist und Komponist Steffen Schleiermacher hat genau nachgelesen, welche Gefühle seine Kollegen damals angesichts des Kriegsbeginns zum Ausdruck brachten. Sein Fazit klingt bizarr: Musiker sind keine besseren Menschen! Je avancierter ihr Kompositionsstil, desto reaktionärer waren ihre politischen Ansichten. Dieser Eindruck drängt sich auf, wenn man die Briefstellen hörte, die Schleiermacher in den beiden Konzerten anlässlich des Bach-Festes im Grassi-Museum vortrug. Arnold Schönberg und seine Schüler Alban Berg und Anton Webern begrüßten nicht nur den Krieg, sondern gefielen sich auch in chauvinistischen Aussagen über die "Feinde" und ihre (Musik-) Kultur. Der französische Patriot Claude Debussy war zu alt zum Kämpfen, widmete aber seine späten kammermusikalischen Werke der französischen Jugend, die die Heimat gegen die kulturlosen BOCHES verteidigte.
Nur wenige waren Kriegsgegner wie der Dada-Poet Hugo Ball, und genauso wenige leisteten subtilen kulturellen Widerstand, indem sie - wie Béla Bartók - Lieder der nun zu "Feinden" gewordenen Nachbarn sammelten und bearbeiteten.
Auch Rudi Stephan ging bereitwillig an die Front – der Endzwanziger galt als eine der großen Nachwuchshoffnungen der deutschen Musikszene zu Beginn des Jahrhunderts. Sein Weg endete abrupt im galizischen Schützengraben durch eine russische Kugel. Andere lebten fern vom Kriegsgeschehen wie der Russe Igor Strawinsky in der Schweiz. Seine bekannte "Geschichte vom Soldaten" hat überhaupt nichts mit dem ersten technisierten Großkrieg der Neuzeit zu tun. Hier verkauft ein Soldat seine Seele an den Teufel und verliert schließlich seine Geige an den Mann mit den Hörnern. Ein vergleichsweise mildes Schicksal, wenn man bedenkt, was die vielen Millionen Soldaten und Zivilisten erlitten, die zeitgleich zum Entstehen von Strawinskys Wanderbühnentheatermusik im Rest Europas verheizt wurden.
Schließlich blieb den meisten Komponisten nur die Flucht in die bessere Welt der Ästhetik – vielleicht auch aus Scham über die eigene Begeisterung, die sie zu Beginn der "Stahlgewitter" empfunden hatten. Oder einfach nur aus Sehnsucht nach ein bisschen Frieden und Stille angesichts des Geschützdonners.
Steffen Schleiermacher führt zusammen mit der Sopranistin Olivia Stahn, dem Geiger Andreas Seidel und dem Klarinettisten Matthias Kreher wegweisende und unbekannte Werke der Jahre vor und während des Ersten Weltkrieges auf. Zusammen mit den zeitgenössischen Aussagen der Schöpfer dieser Werke entsteht ein beklemmendes Bild des Lebens (und Sterbens) zwischen "Schützengraben und Elfenbeinturm".
Grassi-Museum für angewandte Kunst Leipzig, Pfeilerhalle
Aufzeichnungen vom 16./17.06.2014
Zwischen Schützengraben und Elfenbeinturm - Komponisten im Ersten Weltkrieg
Rudi Stephan:
„Ich will dir singen ein Hohelied" für Gesang und Klavier
Hans Jürgen von der Wense:
"Ich hatt' einen Kameraden" für Klavier
Roland Bocquet:
"Lied an einen gefallenen Freund" für Gesang und Klavier
Anton Webern:
Vier Lieder op. 12
Hugo Ball:
Totentanz
Zug der Elefanten
Totenklage
Béla Bartók:
Drei Lieder aus: Fünf Lieder für Gesang und Klavier op. 15
Rudi Stephan:
Groteske für Violine und Klavier
Alban Berg:
Vier Stücke für Klarinette und Klavier op. 5
Claude Debussy:
Sonate für Violine und Klavier g-Moll
Anton Webern:
Vier Stücke für Violine und Klavier op. 7
Arnold Schönberg:
Sechs kleine Klavierstücke op. 19
Igor Strawinsky:
Suite aus „L'histoire du soldat" für Violine, Klarinette und Klavier
Olivia Stahn, Sopran
Andreas Seidel, Violine
Matthias Kreher, Klarinette
Steffen Schleiermacher, Klavier und Moderation