Musik

Eine Familie mitteldeutscher Querköpfe

Klaus-Rüdiger Mai im Gespräch mit Ulrike Timm |
Die Familie Bach ist eine deutsche Dynastie, in der sich die Geschichte ihrer Zeit spiegelt. Der Germanist Klaus-Rüdiger Mai porträtierte die wohl berühmteste Musikerfamilie der Welt - und verrät, wer sein Lieblings-Bach ist.
Ulrike Timm: So beginnt das Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach, gespielt von den English Baroque Soloists mit dem Monteverdi-Chor, gemeinsam mit John Eliot Gardiner. Im Studio ist Klaus-Rüdiger Mai, er hat ein schön gemachtes Buch vorgelegt: "Die Bachs“, so heißt es, "Eine deutsche Familie“. Klaus-Rüdiger Mai ist Germanist, und er hat die wohl berühmteste Musikerfamilie der Welt in den Blick genommen.
Johann Sebastian Bach ist der Monolith, aber kennen Sie Veit Bach, Johann Bernhard oder Johann Michael? Wie diese Familie über viele Generationen eingebettet ist in ihre Zeit, wie sie Krieg, Vertreibung, Abhängigkeiten gemeistert hat, wie die Bachs den Sound des 18. Jahrhunderts prägten und selbst von dieser Zeit geprägt wurden, das lässt uns dieses Buch miterleben. Klaus-Rüdiger Mai, herzlich Willkommen bei uns!
Klaus-Rüdiger Mai: Ja, guten Morgen!
Timm: Ich nehme mal an, dass Sie mit dem Namen Bach wie wohl 99,89 Prozent aller Menschen erst mal Johann Sebastian Bach verbunden haben. Was hat Sie gereizt, dem ganzen Clan nachzuspüren, bis zurück ins frühe 16. Jahrhundert?
Mai: Ja, vor allen Dingen, weil es eine großartige, eine spannende, eine faszinierende Familie ist. Also man kennt natürlich zuallererst Johann Sebastian Bach, aber selbst Johann Sebastian hat sich ja nicht als Originalgenie empfunden, sondern er hat gesagt: Ich stamme aus dieser Familie. Er hat sich immer sehr bewusst auch in diese Familientradition hineinbewegt und hat auch da seine Kraft draus geschöpft.
"Eine Familie voller Geschichten"
Also schon allein das war ein Grund, mal zu schauen: Was ist das Umfeld? Aber es gibt natürlich auch einen ganz eigensüchtigen Grund: Ich erzähle sehr gern Geschichten, und die Familie Bach ist eine Familie voller Geschichten. Man kann mitteldeutsche, man kann deutsche, man kann sogar europäische Geschichte über drei Jahrhunderte hinweg erzählen, und das in den Schicksalen, im Leben einer einzigen großen und – ich sagte es bereits – großartigen Familie.
Timm: Das ist ja eine wilde Zeit, in die Sie da zurückschauen: Dreißigjähriger Krieg, die Ausbreitung der evangelisch-lutherischen Kirche, eine Zeit, in der Seuchen an der Tagesordnung waren und wo man vor Fürsten seine Kratzfüße machte. Welche Gelenkstellen der Geschichte haben denn die Bachs als Familie vor allem geprägt?
Mai: Also vor allen Dingen natürlich das Luthertum. Das Luthertum ist das Wichtigste. Es gäbe diese Familie – ist ja meine These auch in dem Buch – nicht, wenn es das Luthertum nicht gegeben hätte, denn es ist nicht nur eine Frage des Glaubens, sondern was man immer so ein bisschen übersieht, ist, dass mit Luther und Melanchthon eigentlich die Musik auch ganz groß in den Gottesdienst Einzug hält. Also der lutherische Gottesdienst beruht praktisch auch auf dem Liedgut.
"Die Religion war Lebensinhalt"
Und Melanchthons Forderung, es darf keine Gemeinde geben, ohne dass es auch eine Kantorei gibt, die war natürlich für Vollblutmusiker wie die Bachs ganz, ganz wichtig. Das heißt, sie haben diese Leidenschaft, die sie empfunden haben für Musik, verbinden können mit der Religion, und Religion war in dieser Zeit etwas anderes, das war nicht ein Zusatzgeschäft, was es heute für uns ist, sondern das war Lebensinhalt. Sie haben es vorhin gerade gesagt: Es gab so viele Umbrüche, es gab Seuchen, es gab den Dreißigjährigen Krieg, all diese Dinge.
Die Menschen sind früh gestorben, sie hatten eine hohe Kindersterblichkeit, also 50 Prozent der Kinder haben das zehnte Lebensjahr nicht erreicht – in diesem ganzen Drangsal brauchte man auch eine gewisse … einen Trost, eine Aufgehobenheit. Und das hat die Religion gebracht, deswegen war sie wichtiger.
Timm: Die Musik ist das gemeinsame Familiengen, mehr oder weniger immer stark ausgeprägt, immer vorhanden.
Mai: Ja.
Timm: Aber welche vielleicht auch Charaktereigenschaften durchziehen diese Familiengeschichte wie ein roter Faden?
Mai: Ja, es gibt eine, auf die ich gestoßen bin, immer wieder und bei den verschiedensten Familienangehörigen, und zwar der Eigensinn, diese mitteldeutsche Querköpfigkeit, das, was wir von Luther schon kennen, dieses, hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir, Amen, und dafür stehe ich auch ein, egal, was geschieht, ob ich dann vielleicht ins Gefängnis muss wie beispielsweise Johann Sebastian Bach, der dann auch inhaftiert worden ist vom Herzog, weil er nicht sich gefügt hatte.
"Johann Sebastian hat sich nicht gefügt"
Timm: Er wollte den Arbeitgeber wechseln und das wollte der Herzog nicht, da saß er dann vier Wochen hinter schwedischen Gardinen.
Mai: Ja, so war es. Aber Johann Sebastian sagte: Nein, ich will trotzdem gehen – und er ging dann ja auch. Johann Christoph Bach wiederum, ein entfernter Onkel von ihm, den er in Eisenach kennengelernt hatte, den er als Kind noch erlebt hatte, einer der ganz großen Bachs, die so ein wenig vergessen sind, dieser Johann Christoph Bach, der erste Künstler der Familie, wenn man so will, der hatte immer auch weggehen wollen aus Eisenach, hat auch das Gesuch gestellt, gehen zu können und man hat ihm das verweigert, und der hatte sich noch gefügt, obwohl er sich sonst nicht gefügt hat. Sein Leben ist eigentlich ein einziger Krach mit dem Stadtrat von Eisenach, das erzähle ich auch in der Geschichte. Nur: Er hatte sich aber dem noch gefügt, Johann Sebastian schon nicht mehr.
Timm: „Die wunderliche Obrigkeit“ kommt bei Bach auch immer wieder in seinen Briefen. Ihr Buch ist auch, nicht nur, aber auch eine Huldigung an den mitteldeutschen Raum, an Thüringen, an Sachsen. Da waren die Bachs verankert. Ja, was die Musikwelt angeht, haben sie natürlich alles an stilistischer Moderne Ihrer Zeit gekannt, das Französische, das Italienische, aber sehr weit weg bewegt von zu Hause haben sich eigentlich erst die Söhne vom Bach. Wie würden Sie das sehen in dieser Familie, den Spannungsbogen von Heimatliebe – Provinzialität vielleicht sogar – und Weltläufigkeit?
Mai: Also die Welt damals bestand aus Provinzen, und ich wage mal die These, auch wenn das sehr abstrakt klingt: Die Provinzialität dieser Zeit war eigentlich die Weltläufigkeit dieser Zeit. Das haben wir ein bisschen verwechselt, das verwechseln wir heute sehr gerne, indem wir sagen: Wir leben in einer globalisierten Welt und sind ein bisschen weltläufiger. Aber das war anders. Die haben sich natürlich als Mitteldeutsche gefühlt, sind aber mit diesem Bewusstsein, mit diesem Ich-Bewusstsein, Selbstbewusstsein aus dieser Kulturlandschaft kommend in die Welt gegangen.
"Militärmusik hatte die Funktion, den Feind einzuschüchtern"
Denken Sie beispielsweise an den Bruder von Johann Sebastian Bach, Jacob, Johann Jacob Bach, eine spannende Geschichte, die ich gefunden habe, der ich nachgegangen bin, die ich auch im Buch erzähle, und zwar: Dieser Johann Jacob Bach hat sich verpflichtet zum Militär, er war dann Militärmusiker, also es war nicht nur wichtig, dass die dann im Gleichschritt auch marschieren konnten, sondern die Militärmusik hatte in dieser Zeit auch noch die Funktion, zur Abschreckung beizutragen des Feindes, dem Feind Angst zu machen. Er war Militärmusiker, begleitete dann im nordischen Krieg Karl XII. auf seinen Feldzügen, und landete dann sogar in Konstantinopel. Also Johann Sebastians Bruder lebt dann eine Zeit in Konstantinopel, bevor er dann nach Stockholm geht und dort in Stockholm dann irgendwann auch mal stirbt. Aber diese Zeit ist natürlich faszinierend.
Und dann kommt es zu der wunderbaren Geschichte, wie Geschichte dann eben auch sein kann: In Konstantinopel trifft er den berühmten Flötisten Buffardin, und dieser Buffardin, Jahre später, kommt bei Johann Sebastian in Leipzig vorbei, die beiden erzählen miteinander und er erzählt ihm die Geschichte, dass er seinen geliebten Bruder Johann Jacob in Konstantinopel getroffen hat.
Timm: Die Welt ist groß, die Welt ist klein.
Mai: Ja.
Timm: Klaus-Rüdiger Mai, Autor des Buches „Die Bachs: Eine deutsche Familie“ bleibt noch bei uns, aber erst mal hören wir einen weiteren Bach, Johann Friedemann, Wilhelm Friedemann, der selbstzerrissene, der arm gestorbene, der gleichwohl genialische älteste Sohn, so beginnt seine Fantasie in e-Moll für Cembalo.
"Wilhelm Friedemann war der erste Romantiker Deutschlands"
Timm: Immer wieder stockend, immer wieder neu Anlauf nehmend – das ist natürlich der Form der Fantasie gemäß, aber es ist auch ein bisschen bezeichnend für den Schöpfer, der es komponiert hat, für Wilhelm Friedemann Bach. Klaus-Rüdiger Mai, Wilhelm Friedemann Bach, der erste Freiberufler – aber irgendwie hat es nicht geklappt.
Mai: Nein, es hat nicht geklappt, weil es war auch die Zeit noch nicht an dem, dass man sein Geld so verdienen konnte, indem man Konzerte gab. Also er hatte natürlich auch ganz gut verdient in Berlin, er war einer … als er dann in Berlin war, … Wilhelm Friedemann war ja auch eine Institution. Die Leute sind hingeströmt zu ihm, haben ihn gehört, haben applaudiert, fanden das toll. Aber irgendwann, nach zwei Jahren, hatte man dann auch gesagt: Ja, wir wissen jetzt, wie der Wilhelm Friedemann spielt, wir kennen das alles. Und dann hat das Publikum in seiner Aufmerksamkeit auch so Erlahmungserscheinungen gezeigt, und dann wurde es dann schwieriger. Und dann hat er sich auch noch mit seiner Gönnerin, der Prinzessin Amalie, verkracht, das kam dann auch noch erschwerend hinzu. Also Wilhelm Friedemann hat ein sehr zerrissenes, sehr zerklüftetes Leben. Für mich ist er, sowohl von der Musik her als auch vom Lebensstil her, eigentlich der erste Romantiker Deutschlands.
Timm: Was ich bezeichnend fand in dem Buch: Sie sagten eben Gönnerin – man brauchte in der Zeit einen Förderer, einen Fürsten. Als Freiberufler war eigentlich nur Händel erfolgreich, in England, nicht in Deutschland. Aber diese Hochzeit der Bachs, die war ja absolutistisch. Mit welchem Selbstverständnis stand eigentlich im 18. Jahrhundert ein Komponist in der Welt?
Mai: Also Carl Philipp Emanuel hat das sehr schön gesagt, und zwar sagte er: „Der König von Preußen mag ja der König von Preußen sein hier im Land, aber in der Musik ist er kein König, in der Musik gilt das Talent.“
Timm: Das klingt fast nach Beethoven.
Mai: Ja. Und der Carl Philipp Emanuel war auch jemand, der sich nicht zurückhielt. Also wenn ein Schmeichler bei einem Konzert sagte, … Wenn der König Flöte spielte, dann standen ja alle herum, der König spielt Flöte! Und einer sagte dann, oh, Majestät, oder Sir, sagte er dann, welch Rhythmus, hat dann Carl Philipp Emanuel gespottet: Oh, welche Rhythmen!
"Die Welt war ein sehr monarchisches Gefüge"
Timm: Oh, er konnte sich das aber auch leisten. Eigentlich hatte die Welt ja damals noch ein sehr monarchisches Gefüge, es galt vieles für gottgegeben, beim größten aller Bäche Johann Sebastian steht Soli Deo Gloria auch über den weltlichen Werken. Es war eine in sich noch relativ festgefügte Welt. Wie haben eigentlich die Gedankengebäude der Zeit, Keppler, Leibnitz, wie haben die hineingewirkt?
Mai: Sehr stark. Man hat ja bei Johann Sebastian immer den Eindruck: Das ist so ein vierschrötiger Kerl, der Musik macht, aber das war es dann auch schon, aus Leipzig – und das ist eben nicht der Fall. Er war ein hochgebildeter Mann. Also man muss sich das nur einmal vorstellen: Er hat, um überhaupt Thomaskantor werden zu können, nicht nur nachweisen müssen, dass er schon unterrichtet hat, sondern er musste auch noch eine Prüfung über sich ergehen lassen in Latein – die hat er mit Bravour abgelegt –, weil er doch kein Universitätsstudium gehabt hatte. Also das ist schon eine… Das war ein hochgebildeter Mann, der auch vertraut war mit den Gedanken seiner Zeit, und ich habe ihn sehr verglichen mit Leibnitz, weil Leibnitz hatte die Vorstellung: Die Welt ist von Gott geordnet in einer prästabilierten Harmonie, alles ist ausgewogen miteinander, alles in Balance. Und das ist auch die Idee von Bach, nur da geht es um Musik. Musik ist die Sprache, die uns zu Gott führt, und Musik ist im Grunde, ja, wenn man so will,… So ist die Welt gebaut, wie sie in der Musik gebaut ist.
Timm: Herr Mai, wenn man so viel Zeit mit den feinsten Verästelungen einer Dynastie verbringt und sicher auch viele Stunden Bachs Musik hört, von allen möglichen verschiedenen Bachkomponisten, um so ein Buch von gut 400 Seiten zu schreiben – ist Ihnen da ein Familienmitglied innerlich besonders nahe gekommen, sozusagen ein Lieblings-Bach geworden?
Mai: Ja, das ist es. Wenn man Johann Sebastian mal auslässt, das ist ja ohnehin eine besondere Kat…
Timm: Das geht nicht.
Mai: Ja, aber sonst müsste ich sagen, Johann Sebastian Bach, und dann … Nein. Es gibt natürlich einen Komponisten, der mich auch fasziniert hat, neben den anderen natürlich, und zwar, das ist Johann Christian Bach, der jüngste der Bach-Söhne, ein Liebling der Götter mit einem phänomenalen Aufstieg und mit auch einem phänomenalen Fall, Sturz am Ende, ich nenne ihn immer den Erfinder von Mozart, und jemand, der in der Tat in seiner Zeit auch viel bekannter … also sehr bekannt war, wo Mozart, der junge Mozart auch zu ihm gegangen ist, um zu lernen von ihm. Und dieser Johann Christian Bach war der Einzige im übrigen auch, der konvertiert ist zum Katholischen.
"Die musikalisch-bachische Familie endet im Grunde mit den Söhnen"
Timm: Schauen wir noch mal voraus, eine große Dynastie: Allein Johann Sebastian Bach hatte zehn Kinder, die das Erwachsenenalter erreicht haben, die hatten wiederum ihrerseits viele Kinder. Das reicht erst mal, um eine Dynastie lange fortzuführen. Gibt es eigentlich heute noch Bachs?
Mai: Ja, natürlich, diese Dynastie ist verästelt und man trifft sich auch, und sie heißen natürlich nicht mehr alle Bach, sondern sie haben dann auch andere Namen, also beispielsweise, wenn Sie mal zu den Meiningern schauen, zu den Meininger-Bachs schauen, …
Timm: Ein Zweig der Familie, der aus Meiningen kommt.
Mai: Ein Zweig der Familie, der auch sehr wichtig ist. Und da ist dann noch mal im 20. Jahrhundert ein berühmter Musiker, Paul Bach, und die Tochter vom Paul Bach, Annelies Bach, hat dann den berühmten Bauhaus-Architekten Ottmar geheiratet, und deren Tochter ist heute noch Kuratorin in München. Das heißt, es geht weiter. Und Sie können auch einen Zweig verfolgen, der im 19. Jahrhundert nach Amerika ausgewandert ist. Aber vielleicht, das ist das Wichtigste: Die wirklich große, schöpferische, musikalische Zeit – und es geht ja auch in dem Buch um das, was Johann Sebastian sagt – und die musikalisch-bachische Familie, die endet im Grunde mit den Söhnen.
Timm: Dann hat sich die musikalische Begabung so mit der Zeit ein bisschen verflüchtigt. Klaus-Rüdiger Mai war unser Gast, sein Buch „Die Bachs: Eine deutsche Familie“ ist bei Propyläen erschienen. Herzlichen Dank fürs Erzählen!
Mai: Ja, vielen Dank fürs Da-sein-Dürfen!
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