Musik für die letzte Reise
Sie führten den Trauerzug an, spielten an offenen Gräbern und sind heute fast in Vergessenheit geraten: die Begräbnisviolonisten. Der britische Geiger und Musikhistoriker Rohan Kriwaczek lässt sie in seinem Buch "Eine unvollständige Geschichte der Begräbnis-Violine" wiederaufleben.
Da wird nun, wenn auch nicht ganz komplett, eine musikwissenschaftlich brisante Lücke geschlossen. Endlich haben wir sie : "Eine unvollständige Geschichte der Begräbnisvioline". Nicht nur die Violine, sondern auch die rührige Zunft der Begräbnisviolinisten und das spezielle Genre der von ihnen gepflegten Trauermusik hat der britische Geiger und Musikhistoriker Rohan Kriwaczek akribisch aufgedeckt. Wir erfahren aus diesem in schwarzem Glanzleinen gebundenen Buch, wie die einst hochgeschätzte Begräbniskunst in Vergessenheit geriet.
Die ersten Trauerviolinisten tauchten Mitte des 16. Jahrhunderts in England auf. Sie führten den Trauerzug an und spielten vor offenen Gräbern, um die Toten klingend ins Jenseits zu begleiten und die Hinterbliebenen zu Tränen zu rühren. Bereits 1586 kam es zur Gründung ihrer Zunft. Ihr Wahrzeichen war ein geschnitzter Totenkopf am Instrument.
In den protestantischen Ländern ersetzte ihr Spiel das römisch-katholische Bestattungsritual. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts hatte sich der Brauch über weite Teile Europas verbreitet. Selbst prominente katholische Künstler wie Mozart und Paganini, so hat Kriwaczek recherchiert, sind als Trauerviolinisten aufgetreten.
Bedeutender noch ist, dass der Fundus der Trauermusiken von unseren Klassikern schamlos ausgebeutet wurde. Beethovens Trauermarsch aus der Eroica zum Beispiel soll ein Plagiat sein. Auch Frédéric Chopin habe seinen weltberühmten Marcia Funèbre von einem gewissen Joseph Sea-Boone mit geringfügigen Abweichungen abgekupfert.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts kam es zu einer dramatischen Wende. Die Zunftmusiker gerieten in Misskredit. "Bekannt ist lediglich, dass die Säuberungsaktionen 1833 in ganz Europa zunahmen und Instruktionen aus Rom sie in Gang setzten." Dahinter steckte nach Kriwaczeks Überzeugung der ultrakonservative Papst Gregor XVI., der diese Musik als "Werke des Satans" verdammte.
Mitte des 19. Jahrhunderts verschwand die Zunft gänzlich aus der Öffentlichkeit. Die wenigen Mitglieder, die weitermachten, gingen in den Untergrund. Das Londoner Zunftarchiv brannte aus, Dokumente wurden gestohlen und vernichtet. Darunter befanden sich wertvolle musikphilosophische Traktate, konkrete Spielanweisungen und für die Aufführungspraxis unverzichtbares Notenmaterial.
Kriwaczek hätte uns die Leidensgeschichte der Begräbnisviolonisten nicht erzählen können, hätte er nicht in den letzten zwanzig Jahren ganz erstaunliche Funde gemacht. Da ist zum Beispiel die "Hildesheimer Truhe", die 1983 beim Abriss einer Kapelle auftauchte. In ihr fand man das handschriftliche Testament des "größten Trauerviolonisten" Hieronymus Gratchenfleiß. Er war Schüler eines der Neffen von Johann Sebastian Bach. Gratchenfleiß’ genialer Marsch "Verdienter Triumph des Todes" ist in dem Band erstmals abgedruckt.
Wachszylinderaufzeichnungen, die der exzentrische Fürst zu Schwarzburg-Rudolstadt-Sondershausen 1910 von einem der letzten Begräbnisgeiger machen ließ, wurden ebenfalls wiedergefunden. Allerdings ist nicht ganz sicher, wer auf diesen authentischen Aufnahmen zu hören ist, weil falsche Etikettierungen die exakte Identifizierung des Geigers unmöglich machen.
Die heute so beliebte und in solchen Fällen so entscheidende Frage nach der Provenienz der Fundstücke und Dokumente, die letztlich deren Echtheit garantiert, ist der geheime Basso-Ostinato dieser mit rabenschwarzer Tinte geschriebenen Begräbnis-Violinen-Musikgeschichte, die Kriwaczek wie einen Indizienprozeß aufgerollt hat.
Wo die Beweislage eher dürftig ausfällt, versteht er es glänzend, den Leser mit Geschichten und Anekdoten über Friedhofsduelle, "nasenlose Fiedler" und anderen Skurrilitäten zu verblüffen. Ähnliches gilt auch für das eingestreute Bildmaterial mit den beglaubigenden Bilduntertiteln - und ist es nicht wahr, so ist's doch täuschend echt erfunden. Dass Kriwaczek seine faktenreiche Abhandlung ohne die in solchen Fällen sakrosankte Literaturliste veröffentlich hat, passt zu dieser "unvollständigen Geschichte...." wie die Faust aufs Auge. Ein höchst amüsanter Diskurs zur Geschichte der Musica ficta.
Rezensiert von Richard Schroetter
Rohan Kriwaczek: Eine unvollständige Geschichte der Begräbnis-Violine
Übersetzt von Isabell Lorenz
Eichborn Verlag 2008
312 Seiten, 34 Euro
Die ersten Trauerviolinisten tauchten Mitte des 16. Jahrhunderts in England auf. Sie führten den Trauerzug an und spielten vor offenen Gräbern, um die Toten klingend ins Jenseits zu begleiten und die Hinterbliebenen zu Tränen zu rühren. Bereits 1586 kam es zur Gründung ihrer Zunft. Ihr Wahrzeichen war ein geschnitzter Totenkopf am Instrument.
In den protestantischen Ländern ersetzte ihr Spiel das römisch-katholische Bestattungsritual. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts hatte sich der Brauch über weite Teile Europas verbreitet. Selbst prominente katholische Künstler wie Mozart und Paganini, so hat Kriwaczek recherchiert, sind als Trauerviolinisten aufgetreten.
Bedeutender noch ist, dass der Fundus der Trauermusiken von unseren Klassikern schamlos ausgebeutet wurde. Beethovens Trauermarsch aus der Eroica zum Beispiel soll ein Plagiat sein. Auch Frédéric Chopin habe seinen weltberühmten Marcia Funèbre von einem gewissen Joseph Sea-Boone mit geringfügigen Abweichungen abgekupfert.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts kam es zu einer dramatischen Wende. Die Zunftmusiker gerieten in Misskredit. "Bekannt ist lediglich, dass die Säuberungsaktionen 1833 in ganz Europa zunahmen und Instruktionen aus Rom sie in Gang setzten." Dahinter steckte nach Kriwaczeks Überzeugung der ultrakonservative Papst Gregor XVI., der diese Musik als "Werke des Satans" verdammte.
Mitte des 19. Jahrhunderts verschwand die Zunft gänzlich aus der Öffentlichkeit. Die wenigen Mitglieder, die weitermachten, gingen in den Untergrund. Das Londoner Zunftarchiv brannte aus, Dokumente wurden gestohlen und vernichtet. Darunter befanden sich wertvolle musikphilosophische Traktate, konkrete Spielanweisungen und für die Aufführungspraxis unverzichtbares Notenmaterial.
Kriwaczek hätte uns die Leidensgeschichte der Begräbnisviolonisten nicht erzählen können, hätte er nicht in den letzten zwanzig Jahren ganz erstaunliche Funde gemacht. Da ist zum Beispiel die "Hildesheimer Truhe", die 1983 beim Abriss einer Kapelle auftauchte. In ihr fand man das handschriftliche Testament des "größten Trauerviolonisten" Hieronymus Gratchenfleiß. Er war Schüler eines der Neffen von Johann Sebastian Bach. Gratchenfleiß’ genialer Marsch "Verdienter Triumph des Todes" ist in dem Band erstmals abgedruckt.
Wachszylinderaufzeichnungen, die der exzentrische Fürst zu Schwarzburg-Rudolstadt-Sondershausen 1910 von einem der letzten Begräbnisgeiger machen ließ, wurden ebenfalls wiedergefunden. Allerdings ist nicht ganz sicher, wer auf diesen authentischen Aufnahmen zu hören ist, weil falsche Etikettierungen die exakte Identifizierung des Geigers unmöglich machen.
Die heute so beliebte und in solchen Fällen so entscheidende Frage nach der Provenienz der Fundstücke und Dokumente, die letztlich deren Echtheit garantiert, ist der geheime Basso-Ostinato dieser mit rabenschwarzer Tinte geschriebenen Begräbnis-Violinen-Musikgeschichte, die Kriwaczek wie einen Indizienprozeß aufgerollt hat.
Wo die Beweislage eher dürftig ausfällt, versteht er es glänzend, den Leser mit Geschichten und Anekdoten über Friedhofsduelle, "nasenlose Fiedler" und anderen Skurrilitäten zu verblüffen. Ähnliches gilt auch für das eingestreute Bildmaterial mit den beglaubigenden Bilduntertiteln - und ist es nicht wahr, so ist's doch täuschend echt erfunden. Dass Kriwaczek seine faktenreiche Abhandlung ohne die in solchen Fällen sakrosankte Literaturliste veröffentlich hat, passt zu dieser "unvollständigen Geschichte...." wie die Faust aufs Auge. Ein höchst amüsanter Diskurs zur Geschichte der Musica ficta.
Rezensiert von Richard Schroetter
Rohan Kriwaczek: Eine unvollständige Geschichte der Begräbnis-Violine
Übersetzt von Isabell Lorenz
Eichborn Verlag 2008
312 Seiten, 34 Euro