Heilende Rhythmen

Wie Musik das physische und psychische Wohlbefinden fördert

23:42 Minuten
Trainer oder Physiotherapeutin zeigt Senioren eine Stretching-Übung bei der Rückengymnastik.
Sport mit Musik kann für viele Menschen eine heilende Wirkung haben. © dpa / picture alliance / Robert Kneschke
Von Peter Kolakowski |
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Sportunterricht, Rehabilitation, Prävention: Musik und andere akustische Elemente können für das persönliche Wohlbefinden gezielt eingesetzt werden. Aber warum stößt musikalische Bewegungserziehung oft auf taube Ohren?
Im Fitnesskurs wird wieder mal gestritten statt geturnt. 18 Hobbysportler wollen „ihre“ Musik hören. Nur: welche?
Ganz gleich, was nun „gespielt“ wird: im Sportverein oder Rehasport. Im Fitnessstudio oder auch im Leistungssport - wie hier bei der Europa-Kür im Eiskunstlaufzentrum in Dortmund. Oder auch nach dem Spiel: mit fetten Beats im Mannschaftsbus.

Sport mit Musik kann der Psyche guttun

Der richtige Groove motiviert zu mehr "Power“ und Leistung. Musik kann anregen und Spaß machen. Kraft und Konzentration schenken, Fantasie und Wohlgefühl steigern. Kurzum: Bewegung oder Sport mit Musik tut rundum gut.
Ob beim Eiskunstlaufen oder Tanzen. Beim Skaten oder im Kraftsport. Ob beim Joggen, Aerobic oder Zumba. Oder zu Hause auf der Matte!
Der beglückenden, ja berauschenden und heilsamen Wirkung von Musik mit Bewegung geben sich Menschen seit Urzeiten hin. Klänge und Rhythmen berühren Herz und Hirn, wecken Erinnerungen und Emotionen.
Der ganze Körper wird aktiv - mit mehr Hormonen, die gute Gefühle geben, Schmerzen vergessen lassen und Kraft und Ausdauer verbessern. Puls und Herzschlag kommen auf Touren, alle Organe werden besser durchblutet und bekommen mehr Sauerstoff.            

Max Greger: „Auf geht’s zu unserem 600-Sekunden-Fitnessprogramm mit Musik! Denn mit Musik geht alles besser. Wir stehen mit leicht gegrätschten Beinen, heben die Arme waagerecht hoch und drehen sie mit den Händen bis zum Schultergelenk im Schwung der Musik! So, jetzt geht’s los.“
Peter Frankenfeld: „Bei dieser Gymnastik wollen wir vorläufig auf den Handstand verzichten und auch auf den Salto aus dem Stand. Aber was uns guttut, ist ein bisschen Bewegung, also, machen Sie mit! Gehen wir ein wenig spazieren, so auf der Stelle.“

Unvergessen die munter machenden Fitnessprogramme von Max Greger und Peter Frankenfeld. Die europaweit bekannten, riesige Hallen füllenden Tanzpartys von James Last. Oder die legendären Gymnastiksendungen im TV wie die „Medizin nach Noten“ im DDR-Fernsehen. Im ZDF riss die legendäre Gymnastikprofessorin Hannelore Pilss-Samek die Zuschauer vom Sofa - mit Klaviermusik von Ehemann Siegfried Pilss.

Musik schon in der Antike empfohlen

Schon in der Antike rieten Philosophen, Ärzte und Pädagogen zur heilenden Wirkung von Musik und Bewegung bei allerlei physischen und psychischen Leiden und Gebrechen. Im griechischen Gymnasion, den heutigen Turnhallen und Fitnessstudios, trainierten junge Männer Muskelkraft und innere geistige Anmut, begleitet von Lyra oder Panflöte.
Sogar eine vom Pharmakonzern Bayer 1960 produzierte und exklusiv nur Ärzten zugängliche Schallplattenserie mit dem Titel „Heilende Rhythmen“ informierte - statt zu Pillen und Pasten - über den tänzerisch-musikalischen Medizinkult der Ureinwohner Asiens, Nordamerikas und Afrikas.
Bewegungen wie Schwingen, Wiegen, Schütteln oder Springen in Verbindung mit rhythmischen Klängen sollen dabei die kultischen Heilungsrituale der Medizinmänner und –frauen verstärken.  

Welche Rolle die Auswahl der Musik spielt

Heute ist Musik als zusätzliches sport- und bewegungstherapeutisches Rezept vor allem im Rehabilitationssport Standard. Gerade nach einer Operation, einem Sturz, einem Unfall oder einer Erkrankung regulieren sanfte, beruhigende Klänge die Körper- und Muskelspannung. Sie lösen Ängste und Nervosität und fördern die Beweglichkeit und das Selbstvertrauen in den eigenen Körper.

In den allermeisten Sportkursen oder Bewegungsprogrammen spielt die Musik zwar auch eine unterhaltende, aber die richtige Auswahl immer noch eine eher unwichtige Rolle. Gespielt wird, haben Trainer, Übungsleiter und Sportlehrer dem Autor erzählt, was gefallen könnte.  
Mario Arkumanis ist Diplom-Sportlehrer, Sportwissenschaftler, Tanz- und Musiktrainer und zählt zu den besten und engagiertesten seines Fachs. Er schult europaweit Trainerinnen und Übungsleiter unter anderem in tänzerischer Gymnastik und in Rhythmik.
Er sagt:

Du hast zwei, drei Playlisten. Die Leute müssen die Musik kennen, der Wiedererkennungswert spiegelt sich dann in der Musik wider. In dem Bereich, in dem mehr Übungen eingeübt werden, da sollte eine Hintergrundmusik laufen. Also wenn ich das morgens mache, habe ich die ältere Klientel - die möchten lieber Swing- oder Hintergrundmusik haben. Wenn dann die anderen ab 17 Uhr kommen - die möchten dann mit einem höheren Beat gepusht werden. Tendenziell sollte es im Sportbereich eine taktorientierte Musik sein.

Sportwissenschaftler Mario Arkumanis

Welche Übungen passen zu welcher Musik und zu welcher Zielgruppe am besten? Und wie finde und nutze ich Rhythmus und Takt?
Gleichzeitig macht Mario Arkumanis deutlich verständliche Ansagen und verwendet dabei eine lebendige Bildsprache, um nicht nur den Körper, sondern auch die Fantasie der Teilnehmer, sprich die Hirnaktivität, anzuregen. 

„Die Visualisierung ist wichtig, da ich damit Erinnerungen aufrechterhalten kann und zweitens habe ich einen Alltagsbezug. Blätter im Wind, die sehe ich, Tiere kann ich mir vorstellen.“

Musiktherapie auch in der Seniorenpflege

Auch Musiktherapeuten, vor allem solche, die in der Seniorenpflege arbeiten, die sogenannten Musikgeragogen, nutzen Bildsprache, Musik und Geräusche standardmäßig. Beliebt sind hier vor allem alte Hits und Klänge mit Gongs, Klangschalen, Triangeln, Klanghölzern, Trommeln, Tambourinen und anderen Rhythmusinstrumenten, um Menschen mehr in Bewegung zu bringen.
Die Körper- und Bewegungstherapeutin Carla Wischmann de Dios sagt:

„Man merkt schon, wo die Musikgeragogik mehr arbeitet. Oft passiert es, dass ich ein Stichwort nenne. Da geht es um Theo. Und dann fängt die Gruppe an, das Lied „Der Theodor, der Theodor, der steht bei uns im Fußalltor“ aus vollem Hals zu singen.“
Bewegungstherapeutin Carla Wischmann
Bewegungstherapeutin Carla Wischmann de Dios weiß, wie Musik erkrankten Menschen helfen kann. © Peter Kolakowski

Selbst depressive Heimbewohner werden aktiv

Musik als Rezept für mehr Bewegung - ganz ohne schädliche Nebenwirkungen. Selbst für Hochbetagte oder Gebrechliche, die eher keinen Sport treiben oder sich generell wenig bewegen. Die Ergebnisse: erstaunlich! Erklärt die Körper- und Bewegungstherapeutin Carla Wischmann de Dios, die im Mülheimer Seniorenheim Ruhrgarten schlummernde Lebenskräfte wieder erweckt.
Heimbewohner, die an Depressionen, an einer Demenz oder auch an körperlichen Einschränkungen leiden und nicht selten in sich zusammengesunken den Tag an sich vorbeiziehen lassen, werden plötzlich höchst aktiv. Wiegen sich im Rhythmus, wedeln mit den Armen, wackeln mit dem Kopf, klatschen, stampfen, singen aus voller Kehle, schwelgen in Erinnerungen, lachen und weinen - vor Glück!

Wirkung auch bei Parkinson-Patienten

Auch Markus Schulze-Schrage, Sportwissenschaftler und Therapeut auch für neurologische Erkrankungen, lobt die Musik „in den höchsten Tönen“.

„Ich habe einen Parkinson-Patienten kennengelernt, entweder war der eingefroren, also konnte sich gar nicht mehr bewegen oder hat einen extrem starken Tremor gehabt, Zitteranfall, der konnte keine Tasse ruhig halten. Und sobald die Musik angegangen ist, hat sich quasi ein Schalter umgelegt. Der hat sich eine Therapeutin geschnappt und hat eine heiße Sohle aufs Parkett gelegt. Wie der sich plötzlich bewegt hat und im Prinzip hat man nichts mehr von diesem Parkinson-Syndrom gesehen.“
Musik zieht Bewegung nämlich förmlich an. Schon das kurze Hören lauter rhythmischer Stücke verbessert die Beweglichkeit enorm. Musiktherapeuten sprechen hier von der „audio-motorischen Synchronisation“, also die enge Verbindung von akustischem Rhythmus und motorischem Nervensystem.
„Musik bei Parkinson - fast so gut wie ein Medikament!“ jubelt auch die Deutsche Musiktherapeutische Gesellschaft. Denn gleichzeitig wird beim Lauschen auch ein Extraportion Dopamin ausgeschüttet. Ein Hormon, das Konzentration und Antrieb pusht und bei Parkinson-Patienten in ausreichender Menge fehlt. Extra für sie haben die Beelitz-Heilstätten bei Berlin ein Gymnastikprogramm für zu Hause mit passender Begleitung entwickelt – die Beelitzer Musikgymnastik. 

Die Wirkung auf Körper und Geist

Ende des 19. Jahrhunderts begann der Schweizer Komponist und Musikpädagoge Emil Jaques-Dalcroze, die Wirkung von Bewegung bei rhythmischer Musik auf Körper und Geist genauer zu untersuchen und entwickelt daraus die Rhythmik – die musikalische Bewegungserziehung.

Es handelt sich darum, die verschiedenen Teile des Organismus in Beziehung zu stellen: Gehirn, Rückenmark, figürliche Bewegungen, überlegte Bewegungen, ungewollte Bewegungen, Automatismen, und dann darum, die schlechten Automatismen zu zerstören. Dafür habe ich den Beitrag der Musik, die sowohl regulierend als auch stimulierend ist.

Musikpädagoge Emil Jaques-Dalcroze

Jaques-Dalcroze, der unter anderem in Dresden-Hellerau lehrte, stellte fest, dass rhythmisches Empfinden und Bewegen nicht nur für den Körper gut sind - unter anderem die Konzentration verbessert und alltägliche Bewegungen wie das Gehen harmonisiert - sondern auch für die Erziehung und das soziale Miteinander.

Wie Rhythmus Halt und Struktur gibt

Rhythmus gliedert Bewegungen. Rhythmus gibt Struktur und Halt. In Seniorensportkursen, die nach der Methode Dalcroze arbeiten, konnte das Sturzrisiko der Teilnehmer halbiert werden.
Ballspiele der Seniorensportgruppe des Turnvereins Refrath
Verschiedene Seniorensportkurse arbeiten nach der Methode Dalcroze.© Peter Kolakowski
Schließlich sind Stürze im Alter die Hauptursache für Pflegebedürftigkeit und die Einweisung ins Heim. Auch spastisch gelähmte Kinder entwickeln in Bewegungstherapien mit musikalisch-rhythmischem Schwerpunkt bemerkenswerte koordinative Fertigkeiten.  

Lehrkonzepte zur ganzheitlichen Organgymnastik

Der Gymnastiklehrer Hinrich Medau ergänzte und verfeinerte ab 1950 die Lehrkonzepte Jaques-Dalcrozes und Rudolf Bodes hin zur sogenannten ganzheitlichen Organgymnastik. Die in vielen Schulen aber auch in Kurorten wie Bad Reichenhall regen Anklang fand. 
Ziel war, wie bei Bode: Gymnastiktreibende sollten sich in vorgegebenen Grundstrukturen und vom Klang und Rhythmus inspiriert, frei bewegen, ihrer Kreativität freien Lauf lassen und so auch eigene gymnastische Figuren und Elemente ausprobieren.

Professor Jochen Medau, Sportmediziner, Internist, Sohn von Hinrich Medau und langjähriger Leiter der Medau-Schule in Coburg, an der Sport- und Gymnastiklehrer, Physiotherapeuten und Motopäden ausgebildet werden: 

„Unsere Schüler müssen, wenn sie können, Klavier spielen. Wenn sie es nicht können, dann müssen sie andere instrumentelle Begleitungen für die Bewegungsarbeit leisten können. Da gibt es einen Extraraum dafür. Als Lehrkräfte in den Schulen haben wir gehört, von den Direktoren, den Schulmitarbeitern, wie gut es den Kindern getan hat, musikalisch-rhythmisch-dynamisch körperlich zu arbeiten.“

Als Schulen auf Gymnastiklehrer verzichteten

Doch Mitte der 1970er-Jahre wurden alle an den Schulen tätigen Gymnastiklehrer, mangels akademischer Ausbildung, von den Kultusministern vor die Tür gesetzt. Den Ton gaben von nun an die Sportlehrer vor: Mit Leistungsdenken und Drill statt mit Hinwendung zum eigenen Körper und seinem natürlichen Rhythmus wie dem Atemrhythmus und der Atemgymnastik, die im Studium der Sportpädagogik immer noch keine Rolle spielen.
Die meisten heute tätigen Sportlehrer haben von der musikalischen Bewegungserziehung nach Jaques-Dalcroze, Bode oder Medau noch nie gehört. Ihre wertvollen Erkenntnisse sind heute fast verstummt. Finden daher weder im Sportunterricht, in Kursen der Sportvereine, noch in der Geriatrie oder der Kinderheilkunde offene Ohren.
Aktuelle neurophysiologische Untersuchungen der Diplom-Rhythmikerin und Neurowissenschaftlerin Ida Küttner-Funke zeigen hingegen, dass rhythmisches Bewegen mit Musik auch Denken und Konzentration erheblich steigert und die Neubildung von Nervenverbindungen anregt.
In ihrem Institut in Mönchengladbach bietet Küttner-Funke Rhythmus-Kurse für Erzieher, Lehrer als auch für Manager, Pflegekräfte und Ärzte an. Und hat dazu unlängst auch ein Buch herausgegeben unter dem Titel: „Stark, körperbewusst und kreativ durch Rhythmik“.  

Das Wunderbare ist, wir müssen gar nicht so viel dabei denken. Wir dürfen einfach hören und uns dabei bewegen. Wenn wir Musik hören, dringt sie sofort ins innere, ins limbische System zum Hirnstamm hinein. Deshalb reagieren wir mit Gefühlen - und noch schöner mit Bewegung. Wir können also sofort gestalten, wir können leben.

Ida Küttner-Funke, Diplom-Rhythmikerin und Neurowissenschaftlerin

Pilates-Gymnastik ohne Musikbegleitung

Was kaum jemand weiß: Mönchengladbach ist auch der Geburtsort eines Bewegungsexperten, der Geschichte geschrieben hat. Und das ganz ohne Musik: Josef Pilates. Seine Gymnastik verzichtet bewusst auf Musikbegleitung. Ihm ging es hauptsächlich um die vollkommene Körperwahrnehmung.
Ähnlich wie beim autogenen Training, Yoga, oder der progressiven Muskelentspannung: Hier ist es immer ein „In sich Hineinhören“, den Puls und Herzschlag und Atem, also den Körper in seinem Rhythmus ganz zu spüren. Und so auch im eigenen Rhythmus Ruhe, Kraft und Entspannung zu finden.

Josef Pilates: „Lassen Sie den Text auf Ihr Unterbewusstsein einwirken. Ich schließe die Augen und lasse mich durch nichts ablenken. Kein Geräusch berührt mich, nichts kann stören.“   

Schließlich gehört nach dem Einschalten des Lieblingshits auch das Abschalten von allem - im richtigen Rhythmus!
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