Lieder über eine Heilige mit Bart
Das Bild der heiligen Kümmernis irritiert: eine Frau mit Bart am Kreuz. Der Musiker Jens Düppe hat gemeinsam mit dem Autor Peter Schanz einen musikalische "Anrufung" der Heiligen in Köln uraufgeführt: "Oh heilige Kümmernis!".
Chor: "Was ist denn das? Was soll das sein? Kann das denn, darf das überhaupt?"
Das Bild von der Heiligen Wilgefortis, die den Beinamen "Kümmernis" trägt, hängt großformatig an der Wand des Saales und wird in kleinen Heftchen in Form von Heiligenbildern im Publikum verteilt. Jeder, der sie noch nicht kennt, kann die ungewöhnliche Heilige genau betrachten und darüber staunen. Peter Schanz und Jens Düppe haben ihrer Komposition die unweigerlich aufkommenden Fragen und Emotionen zugrunde gelegt.
Gekreuzigte mit Brust und Taille
Peter Schanz: "Es ist eben nach wie vor nicht normal, dass eine Frau am Kreuz hängt, es ist doppelt nicht normal, dass eine Frau einen Bart hat, es ist die nächste Frage: Wer hat sie angebetet, und warum war es wem nicht recht, dass sie angebetet wurde?"
Jens Düppe: "Sie war offiziell im Märtyrer-Katalog der katholischen Kirche und wurde gestrichen - was ist da los?"
Peter Schanz: "Warum zieht es dem Menschen, der die anguckt, was zusammen, wenn er eine gekreuzigte Gestalt sieht, die eine Brust hat, die eine Taille hat, die schöne Kleider hat?"
"Das kann doch nur ein Missverständnis sein. Muss das denn wirklich? Müssen die Frauen wirklich jetzt auch noch unbedingt am Kreuze hängen?"
Wilgefortis hatte um himmlischen Beistand gebeten, weil ihr Vater sie gegen ihren Willen mit einem Nichtchristen verheiraten wollte Die Hilfe kam über Nacht in Form eines Vollbartes. Die Hochzeit platzte, aber der Zorn des Brautvaters war so groß, dass er seine Tochter ans Kreuz schlagen ließ.
Komponist Jens Düppe und Texter Peter Schanz haben die drei scheinbar inkompatiblen Elemente - die Frau, den Bart, das Kreuz - in ihrem Musikstück verwoben.
"Ich bin nicht nur sowohl als auch"
Unter dem Untertitel "Eine musikalische Anrufung" führen Texter und Komponist drei verschiedene Haltungen gegenüber der Heiligen auf. Zunächst wird die Frau am Kreuz in Worten angefleht, in einem zweiten Kapitel wird sie hinterfragt, aber auch in ihrer Gestalt und ihrem Geschlecht von Festlegungen befreit.
"Die Kümmernis sagt: Ich bin nicht dieses oder das. Sie sagt: Ich bin nicht nur sowohl als auch. Ich bin das, was ich bin, und das ist mehr als beides."
Peter Schanz: "Und die dritte Anrufung ist eine, die unter ganz viel Benutzung des Hohen Liedes in die Bibel, in die Kirchennähe zurückgeht, aber letzten Endes eine klare Liebeserklärung an die Kümmernis dann bringt."
Jens Düppe, Komponist und an der Aufführung als Schlagzeuger beteiligt, hat die Themen und Haltungen der Anrufung in Musik umgesetzt.
Jens Düppe: "Die Geschichte, die Gestalt, das Bild, das irritiert, das Fragezeichen aufwirft, das ist der Überbau, der Rote Faden, an dem wir uns beide, jeder für sich, entlanggehangelt haben."
Ein Chor aus Männern und Frauen mit Stirnlampen belebt und beleuchtet die Bühne. Der Gesang kommt - wie aus der Tiefe eines Klosters - immer näher an die Hörer heran. Aus der Menge löst sich eine Tänzerin, die sich auf einem kreuzförmigen Untergrund aus Polsterwolle und durchsichtiger Gaze bewegt, sich in die Stoffe erst kleidet, dann verheddert und verstrickt. Ihr Tanz erzählt von ideologischer Gefangenschaft - und am Ende von Befreiung.
Kirchenlieder, Bach und Trommeln
Peter Schanz: "Aber es ist eine Tänzerin, es ist keine Kümmernisfigur, die Tänzerin wird keinen Bart haben, die Tänzerin wird kein Brautkleid anhaben, die Tänzerin wird keine Wundmale an den Händen haben."
Unterdessen schälen sich aus den zunächst amorphen Gesängen bekannte Melodien heraus.
Jens Düppe: "Ich hab mir rausgesucht, zu arbeiten mit dem 'Hit' aus dem Gesangbuch 'Oh Haupt voll Blut und Wunden', hab ich selber viele Male gesungen, damit wollte ich arbeiten für die Haltung Nummer eins, die aus Fragen entstand."
Dass Jens Düppe einem Geiger wichtige, solistische Einlagen zuschreibt, ist kein Zufall. Die Geschichte vom kleinen Geiger ist eine Folge-Legende der Heiligen Kümmernis, zu finden unter anderem bei den Brüdern Grimm. In der Performance wird sie von einer Kinderstimme erzählt.
"Nun geschah es, dass ein armer Spielmann in die Kirche kam, wo ihr Bildnis stand, und kniete nieder. Das freute die Heilige, dass der arme Geiger ihre Unschuld anerkannte."
Der mittellose Geiger betet zur Heiligen Kümmernis um Hilfe, und sie schenkt ihm einen ihrer goldenen Schuhe. Sein plötzlicher Reichtum macht ihn allerdings des Diebstahls verdächtig, sodass er zum Tode verurteilt wird. Erst als die Kümmernis dem armen Mann vor den Augen der Henker ihren zweiten Schuh vom Kreuz herab wirft, ist der Geiger gerettet.
In der musikalischen Anrufung an die Heilige Wilgefortis kommen Gewalt, Verzweiflung und Zwangsverheiratung zur Sprache. "Holz auf Holz" nennen Schanz und Düppe den Dialog zwischen der Trommel und von Choristen geschlagenen Holzblöcken.
Jens Düppe: "Der letzte Teil, also die Liebeserklärung, das Verständnis siegt, könnte man sagen, weil es halt ganz am Schluss steht. Und da hab ich mir überlegt, mit dem Kreuzigungsthema B-A-C-H von J.S. Bach - also sein Nachname, den er selber auch bearbeitet hat, den viele Komponisten nach ihm bearbeitet haben, - die hab ich mir auch rausgesucht und hoffe, dass das Thema triumphierend zum Schluss sich präsentiert."