Im Klanghagelschauer
55:21 Minuten
Seine musikalischen Ideen waren visionär. Zum 20. Todestag von Iannis Xenakis am 4. Februar erinnern wir an den griechischen Komponisten.
Als am 14. Juni 1978 die ersten Besucher der Pressevorführung das rote Zelt betraten, das vor dem Pariser Centre Pompidou aufgestellt war, konnte eines der originellsten Kunstwerke des vergangenen Jahrhunderts nach vielen technischen Problemen und Verzögerungen endlich der Öffentlichkeit präsentiert werden.
Synthese der Künste
Der Komponist Iannis Xenakis hatte zur Einweihung des "Centre Pompidou" ein multimediales Werk entworfen, das einen Meilenstein in seinem Schaffen darstellt und zugleich ein überzeugendes Beispiel für die Synthese verschiedener Künste liefert: den so genannten "Diatope". Es handelte sich um eine zeltartige Konstruktion mit gekrümmten Flächen, die von einer roten, lichtdurchlässigen Polyestermembran überzogen war. Der Diatope umfasste Musik, Licht, Architektur und philosophische Texte und stellte eine Art Quintessenz aller Ideen und Konzepte dar, die Xenakis bereits in den 25 Jahren davor zum Thema Raum entwickelt hatte.
Will man die Ausgangspunkte dieser Entwicklung finden, so muss man in der Biographie des Komponisten weit zurückgehen. Iannis Xenakis, als Grieche 1922 in Rumänien geboren, hatte zu Beginn des Zweiten Weltkriegs in Athen ein Ingenieursstudium begonnen und sich eher nebenbei mit Musik beschäftigt.
Nach dem Einmarsch der Deutschen, 1941, schloss er sich dem Widerstand an und konnte unter diesen Bedingungen nur mit Mühe sein Studium abschließen. Ab 1944 kämpfte er im Bürgerkrieg auch gegen die britischen Besatzer. Bei einer Straßenschlacht wurde er schwer im Gesicht verletzt und verlor ein Auge. Dabei haben die traumatisierenden Ereignisse jedoch auch Eindrücke hinterlassen, die ihn später künstlerisch beschäftigten.
Iannis Xenakis, den man in Athen wegen seiner Widerstandsaktivitäten zum Tode verurteilt hatte, konnte 1947 nach Frankreich fliehen. Per Zufall erhielt er Arbeit als Ingenieur: im Büro des Stararchitekten Le Corbusier. In seiner Freizeit begann er zu komponieren. Er nahm Kontakt mit Olivier Messiaen auf und besuchte dessen Kompositionsklasse. Messiaen war es auch, der ihn ermutigte, an seinen Ideen festzuhalten.
Organische Proportionen
Im Architekturbüro bestand Xenakis’ Aufgabe hauptsächlich darin, Berechnungen anzustellen. Auf seine Bitte hin übertrug ihm Le Corbusier 1954 große Teile der Gestaltung eines neuen Projektes: des Dominikanerklosters "La Tourette" in Evreux sur L’Arbresle westlich von Lyon. Bei dieser Arbeit setzte Xenakis den Modulor ein, ein von Le Corbusier entwickeltes System zur organischen Proportionierung von Räumen.
Er besteht aus zwei Reihen von so genannten Fibonacci-Zahlen, die sich dem idealen Zahlenverhältnis des Goldenen Schnittes annähern. Bereits bei diesem Entwurf verwirklichte Xenakis einen eigenen Stil: Die Klosterkirche zeigt einen virtuosen Umgang mit dem Licht. Der eher dämmrige Raum wird zu verschiedenen Tages- und Jahreszeiten durch verschiedenartige Fenster und Öffnungen beleuchtet. Dadurch werden spezielle Effekte erzeugt, die durch die farbige Gestaltung der Innenwände noch unterstrichen werden. So verändert der Raum stets seinen Charakter, er wird variabel.
Gewelltes Glas
Die zweite Erfindung, die Xenakis in "La Tourette" umsetzte, waren die so genannten "pans de verre ondulatoires", also wellenförmige Glasscheiben. Damit gestaltete er ganze Fensterfronten, die in ihrem Aussehen sich ausbreitenden Schallwellen ähneln, weil die vertikalen Fugen ständig ihren Abstand ändern.
Scharen von Glissandi
Im selben Jahr, 1954, beendete Xenakis seine erste vollgültige Komposition: "Metastaseis" für Orchester. In diesem Stück verwendet er verschiedene kompositorische Mittel. So sind die Rahmenteile hier tatsächlich nach dem Modulor bzw. den Regeln des Goldenen Schnitts proportioniert worden. Im Mittelteil klingen serielle Kompositionstechniken an.
Durch den Raum wandernde Klänge
Als Iannis Xenakis 1965 einen Kompositionsauftrag des Festivals für zeitgenössische Kunst im französischen Royan erhielt, konnte er seine Raum-Experimente wesentlich ausweiten. "Terretektorh" für großes Orchester mit 88 Musikern weist gleich mehrere revolutionäre Neuerungen auf: Die Spieler sitzen nicht mehr auf der Bühne, sondern im Saal zwischen den Zuhörern verteilt.
Mit dieser Aufstellung konnte Xenakis Klänge durch den gesamten Aufführungsraum wandern lassen, wie zum Beispiel am Beginn des Stückes, wo ein einzelner Ton der außen sitzenden Streichern mehrfach durch den Raum kreist und dabei entsprechend logarithmischer oder hyperbolischer Spiralen ständig seine Geschwindigkeit ändert.
Komponierte Landschaften
Mit weiteren Projekten machte Xenakis einen Schritt hinaus in die freie Natur: 1971 in Persepolis im heutigen Iran und noch einmal 1978 im griechischen Mykene gestaltete er eine antike Landschaft mit einem "Polytope" aus. Es handelte sich jeweils um gewaltige abendfüllende Spektakel, in die sogar Prozessionen von Kindern mit brennenden Kerzen und Ziegenherden einbezogen waren.
Künstliche Polarlichter und andere Utopien
Was bleibt von den musikalischen Räumen, die Iannis Xenakis über mehrere Jahrzehnte hinweg entworfen hat? Der "Diatope" ging nicht, wie geplant, auf Welttournée: Nach sechs Monaten in Paris war er nur noch ein halbes Jahr in Bonn zu sehen, bevor er trotz zahlreicher Versuche zur "Rettung" schließlich verschrottet wurde.
So war und ist das wesentliche Merkmal aller musikalischen Räume von Iannis Xenakis gerade ihre Vergänglichkeit. Sie verwandeln eine bestimmte Umgebung jeweils nur für eine genau definierte Zeit und ermöglichen dem Hörer ein neues Raumerlebnis. Diese Konzeption bleibt bis heute faszinierend.