Müssen Alben wirklich so lang sein?
Beyoncés "Lemonade", Drakes "Views", "Blond" von Frank Ocean, und so weiter: Die wichtigsten Alben aus dem vergangenen Jahr hatten alle ein Problem. Sie waren viel zu lang. Daher lautet eine Bitte für 2017, lasst das musikalische Oversharing!
81 Minuten Länge, 40 Executive Producers, Dutzende Autoren, zwei Jahre Produktionszeit. Geht's hier noch um eine Platte oder reden wir hier von einem Hollywood-Blockbuster-Movie? Gemeint ist "Views" – das 2016er Album vom kanadischen Rap- und R'n'B Superstar Drake. Die Platte ist so etwas wie der "Ben Hur" der Popmusik. Und so wie man den Sandalen-Klassiker mit Charlton Heston natürlich hätte flotter erzählen können, so hätte Drake nicht alle 20 Song-Episoden auf sein Album draufschmalzen müssen.
Aber vielleicht hat er ja aus lauter Höflichkeit und Rücksichtnahme auf jeden einzelnen seiner vielen Songwriter und Hitfabrikarbeiter getan? Was spricht auch dagegen? – Zeitliche Limitierung im Digital-Zeitalter scheidet praktisch aus. Und die zumeist jugendliche Kundschaft ist geduldiger und aufmerksamer als man denkt. Oder haben Sie das hier etwa schon vergessen?!
Die Nyan Nyan Katze, die in Dauerschleife auf einem Regenbogen durch ein verpixeltes C64-Computerspiel-Weltall reitet. 10 Stunden lang am Stück. Immerhin 59 Millionen Mal auf YouTube geklickt. Und mehrere ebenfalls hunderttausend- und millionenfach geklickte Videos junger Leute, die sich filmen, wie sie 10 Stunden lang die Nyan Nyan Katze auf YouTube anschauen. Merke: Wer sich sowas reinzieht, der hört auch mühelos 81 Minuten Drake am Stück weg. Und dann gibt's da aber noch weitere Gründe für all die XXL-Alben der letzten Zeit.
Die einstige Formel für ein kurz gehaltenes Hit-Album "Nur Killer, keine Füller" zählt nicht mehr, seit der Verband der amerikanische Plattenindustrie im Februar 2016 eine ganz neue Formel ausgegeben hat: Um die Zugriffszahlen von Streaming- und Videoplattformen für die Chartberechnung stärker zu berücksichtigen, gilt neuerdings: 1500 Streams zählen so viel wie zehn verkaufte Songs oder ein verkauftes Album. Logisch, dass Künstler und ihre Labels sich animiert fühlen, auch das potentielle Resterampe-Material aufs Album zu klatschen. Mehr Tracks bringen tendenziell mehr Klicks und damit höhere Chartplatzierungen im größten Musikmarkt der Welt.
Die technische Limitierung fehlt
Wobei ein wichtiger Label-Boss hinter vorgehaltener Hand spottete: "Wenn 100 Leute in ihrer Mittagspause in einem Buchladen ein Kapitel eines Romans durchblättern - gilt das dann auch schon als verkauftes Buch?" Da ist was dran. Im neuen Jahresreport der amerikanischen Musikindustrie jedenfalls ist Drake "Artist of the year" und auch Rapper Kanye West ist mit seinem Einstünder-Album "Life Of Pablo" gut dabei.
West hat sein Album immer wieder überarbeitet, um damit weitere Streaming Klicks zu generieren. Ein sogenanntes "Work in Progress"-Album. "Normale" Alben spielen scheinbar eine immer geringere Rolle. Technische Limitierungen bei Vinyl auf 54 Minuten bzw. auf 74 Minuten bei der CD fallen in der Streaming-Ära weg und eine völlige Verflüssigung der Formate setzt ein, so beobachtet es Jens Balzer, Autor des Buchs: "Pop: Ein Panorama der Gegenwart":
"Der Siegeszug des Streaming bedeutet vor allem eines: Eine völlige Verflüssigung der Formate. Das Album als Leitmodell der Popmusik der späten 60er-Jahre spielt endgültig keine Rolle mehr. Das kann auf der einen Seite zu großer Kunst führen wie bei Beyoncé oder andererseits zu konfusem Verhalten wie bei Kanye West oder zum Revival eines pseudoromantisch genial sich in seinem Schaffen verlierenden Künstlers wie bei Frank Ocean. Vielleicht könnte man sagen, sein Album 'Blonde' ist 'Der Mann ohne Eigenschaften' des aktuellen Pop und er ist sein Robert Musil."
So gesehen ist Beyoncé dann die Frau mit dem Mann ohne Treue-Eigenschaften. Ihr Album "Lemonade" kommt als emanzipierte Abrechnung mit Ehemann Jay-Z als 65 minütiges Musikvideo daher. Lemonade ist für neun Grammy Awards nominiert. "Nur" neun muss man sagen. Beyoncé wollte buchstäblich das letzte Tröpfchen aus der Limonade rausholen und mit diesem Stück namens "Daddy Lesson" auch noch die Grammy-Nominierung in der Kategorie "Best Country Song". Klappte aber nicht, das Komitee lehnte ab: Beyoncé, lass den anderen auch noch was übrig.
Steckt in den vielen Songs von "Lemonade", also möglicherweise das Kalkül dahinter, mit möglichst verschiedenen Geschmacks- und Klangrichtungen möglichst viele Auszeichnungen zu bekommen? Schade eigentlich, dass vor einigen Jahren die Kategorie "Best Polka" bei den Grammys abgeschafft wurde. Beyoncé hätte da sicher auch noch eine Nominierung rausgeholt:
"All the polka ladies, all the polka ladies..." (über den Song "Single Ladies" drübersingend)
Platz für viele Superlative
Nun hat die Popgeschichte natürlich auch schon früher Songs und Alben epischen Ausmaßes hervorgebracht. Die Flamings Lips aus Oaklahoma zum Beispiel haben vor fünf Jahren einen 24 Stunden dauernden Song veröffentlicht. Erst als Stream, dann als kleine formatübliche Häppchen auf LP und CD. Von einer progressiven, nicht unbedingt mainstream-orientierten Band wie den Flaming Lips mit Grenzen auslotenden Bühnenshows zwischen Konfetti, Kunstblut und Kakophonie irgendwo auch erwartbar.
Welche Grenzen bleiben also noch übrig: das kürzeste Album? Gähn. Das work-in-progressigste? Maybe. Das instagrammigste vielleicht. Keine Ahnung, wie das dann klingt oder aussieht, aber die Fans, denen Lifestyle wichtiger ist als Musik, werden es kaufen, streamen oder instagrammen. Das Verhältnis von Distribution und Produktion ist so offen wie seit 50 Jahren nicht mehr, sagt Pop-Literat Jens Balzer:
"Da haben wir in Zukunft einerseits viel Quatsch zu erwarten, aber andererseits einen Pop, der so multimedial offen in alle Richtung ist, wie nichts, das wir vorher kannten."