Musikalisches Stück über eine linke Aktivistin

Von Hartmut Krug |
Mit dem Leben, Lieben und Leiden von Rosa Luxemburg erzählt das Grips Theater eine neue "Linke Geschichte". Nicht historisch-kritisch, sondern politisch und emotional einfühlsam schreitet das Stück mit seiner Heldin durch deren Leben und damit durch die Geschichte der Sozialdemokratie und der deutschen Arbeiterbewegung.
In 30 Szenen geht es von Sozialistenkongress zu SPD-Parteitag, von Massenstreikdiskussion zu Kriegskrediten, vom Gefängnis zum Naturspaziergang mit Liebknecht. Wer da geschichtlich nicht firm ist in der sozialistischen, der sozialdemokratischen Bewegung, wer USPD, Spartakus, Räte und Sozialistenkongresse weder inhaltlich noch historisch einzuordnen weiß und wer all die auftretenden Personen wie Kautsky, Bebel, Zetkin, Liebknecht, Schoenlank, Levi, Mehring und Jogiches nicht kennt, für den bleibt immerhin das Bild einer so unbeugsamen wie lebensfroh kämpfenden politischen Denkerin.

Mit Kopf und Herz kämpft Rosa für die Emanzipation der Massen und kritisiert auch die großen Männer der Parteiführung, die ihr immer wieder ängstlich und verspießert gegenüberstehen und sich in diesem "Schauspiel mit Musik" die Angst vom Leibe singen: "Wir sind die letzten Linken / Und drohen zu ertrinken / im Sumpf der Reformisten / Wenn das Marx und Engels wüssten / Rosa mach die Linke stark / aber treib es nicht zu arg."

Es ist ein historisches Stück in historischen Kostümen, aber mit augenzwinkerndem Verweis auf die eigenen politischen Überzeugungen und Haltungen der studentischen 68er Bewegung, mit der sich Volker Ludwig auch schon so selbstkritisch wie standhaft in anderen Stücken auseinandergesetzt hat. Trotz all der historischen Kostüme, trotz all der Gehröcke, Backenbärte und bürgerlichen Versteifungen der Figuren besitzt die Inszenierung aber nichts Verstaubtes.

Erst im zweiten Teil ihrer vier Aufführungsstunden (so viel zu lang ist es wohl leider, weil zwei Autoren am Werk waren) wird die Inszenierung langatmig und langweilig, weil die Szenen nur mehr historische Fakten abzuliefern und abzuhaken scheinen. Lange aber besitzt die Aufführung einen schönen Schwung, eine Lebendigkeit und einen Witz, der einem deutlich animierten Ensemble zu verdanken ist. Wie Thomas Ahrens und Dietrich Lehmann nicht nur Kautsky und Bebel, sondern noch etliche andere Figuren zugleich vor- wie ausstellen, das hat eleganten und kabarettistischen Witz, den auch Michaela Hanser ihrer Clara Zetkin mitgibt.

Hier spielt jeder mehrere Rollen, nur Regine Seidler nicht. Die Schauspielerin zeigt eine Rosa als Identifikationsfigur, die sich großen privaten und politischen Gefühlen hingibt, aber immer wieder auch vom Konflikt zwischen ihnen zerrissen ist. Wunderbar, wie ihre Rosa sich der Liebe hingibt ("Nichtküssen ist konterrevolutionär") und wie selbstverständlich sie ihre Liebschaften mit jüngeren Männern eingeht. Regine Seidler verleiht ihrer Rosa beides, die oberflächliche Eindeutigkeit einer historischen Figur wie die emotionale Tiefe und Mehrdeutigkeit eines Menschen mit auch privaten Sehnsüchten. So zeigt die Schauspielerin sowohl die tiefe Menschlichkeit wie die enervierende Grundsätzlichkeit ihrer historischen Figur, zeigt in einem Augenblick deren (kleinbürgerliche?) Sehnsüchte nach Ehemann und eigener kleiner Wohnung und präsentiert im anderen Rosa als scharfzüngige Agitatorin.

So trägt Regina Seidlers tolles Spiel den Zuschauer selbst über die letzte zähe Stunde des munteren Abends hinweg, dessen viele Ensembleaufmärsche von Choreographin Romy Hochbaum und Regisseurin Franziska Steiof insgesamt so wunderbar in Bewegung und Beweglichkeit gebracht wurden, dass der Unterhaltungswert oft über den Informationswert siegt. Jan Schröders Bühne ist fast leer, bis auf einen verschiebbaren Laufsteg und zwei gegeneinander gestellte Treppengerüste auf Rollen, die als Karriereleitern dienen und in der Drehung vergitterte Zellen enthüllen. Wenn Rosa auf die eine Leiter humpelt und der SPD-Funktionär Ignaz Auer auf der anderen schon oben steht, und wenn sich beide endlich gegenüberstehen, dann gähnt deutlich der (politische) Abgrund zwischen ihnen.

Es gibt viele sinnlich so gelungener Szenen. Wenn Rosa von Warschau nach Zürich gegangen ist und hier auf drei polnische Exilanten trifft, die ("Polen oder Proletariat) nationalistisch statt internationalistisch denken, zugleich aber vor allem Hunger haben, dann macht die Regisseurin daraus eine urkomische chorische Kabarettszene. Vor allem überzeugen in diesem politischen Stationendrama gerade die Liebesszenen, bei denen die Körperlichkeit und das Aktenstudium, das Liebesspiel und die politische Diskussion für Rosa immer wieder in Konflikt geraten. Der wahre Revolutionär muss eben die Einheit von Denken, Fühlen und Handeln bewerkstelligen.

Dekonstruierungen oder Aktualisierungen gibt es in dieser Aufführung, die stark von authentischen Texten geprägt wird, nicht. Aber es gibt manch indirekten Kommentar, wenn Situationen ironisch ausgestellt werden. Mehr braucht es auch nicht, kann doch jeder wache Zuschauer (so ab 16 Jahre vielleicht, es ist eine Aufführung für den Abendspielplan) selbst Parallelen ziehen und sich seine Fragen stellen und beantworten. "Rosa" am Berliner Grips Theater: Das ist ein gelungenes Beispiel realistisch-kritischen Erzähltheaters mit hohem Unterhaltungswert.