Gymp-Pop, Polit-Core und Schönmösenpunk
Das "ORWOhaus" in Berlin-Marzahn ist nach eigenem Bekunden das "größte selbst verwaltete Musikerhaus in Europa, vielleicht sogar weltweit" - und eine Oase der Kreativität in einem Stadtviertel, das mit einem schlechten Image zu kämpfen hat.
Und es steht nicht in London oder New York City, auch nicht in den Szenekiezen Berlins, sondern in Marzahn, am äußersten Rand der Stadt. Marzahn gilt dabei nicht als der attraktivste Ort, ist verschrien als hässliche Plattenbausiedlung. Und genau da, zwischen Bahnschienen, sechsspuriger Hauptstraße und grauen Wohnblöcken, mitten im Berliner Industriegebiet gelegen, können über 200 Bands im „ORWOhaus" ungestört ihrer Musik nachkommen. war in der „lautesten Platte" und hat ihren Klängen gelauscht.
Auf der sechsten – der höchsten Etage des grauen Gebäudes – übt die Rock-Pop-Formation "Angry & Fork" mit zwei Gitarristen und einem Schlagzeuger ihren Song. Der Proberaum sieht aufgeräumt, gemütlich aus. Dunkles Laminat, eine Couch-Ecke mit Teppich und Tisch.
Er ist so groß, dass gleich zwei Schlagzeug-Sets drin stehen, mehrere Gitarrenverstärker, eine Gesangsanlage, ein paar leere Bierkästen. Neun Personen teilen sich die 30-Quadratmeter-Fläche, 380 Euro warm kostet insgesamt der Raum im Monat. Verhältnismäßig günstig für Berlin.
Auch Anne Wolf sitzt im Raum und hört zu. Ihre Jeans steckt in ihren schnurlosen schwarzen Boots, ihre dunklen Haare hat sie zum Zopf gebunden. Ohne die Diplombetriebswirtin und Wirtschaftsinformatikerin geht hier nichts. Die 30-Jährige organisiert Veranstaltungen und Konzerte rund ums ORWO-Haus. Oder wie sie es sagen würde:
"Ich bin hier Kultur-Bla! Wir sind ja nicht nur ein Proberaum-Haus und haben so um die 100 Proberäume, wo irgendwelche Leute sich einmieten können und 24 Stunden Krach machen können. Wir möchten ja auch dafür sorgen, dass die Leute auf irgendeine Bühne kommen und ihre innerste Sache nach draußen stolpern können."
Rund 800 Musiker gehen im ORWO-Haus ein und aus
Sie rückt ihre schwarze Brille zurecht, holt ihren Tabak aus der Tasche und dreht sich eine Zigarette. Sie kennt nicht alle, aber viele der rund 800 Musizierenden im Haus. Dazu gehören auch die Jungs von "Angry & Fork". Die wollen heute eine Akustikversion ihres Liedes "Hier in Berlin" aufnehmen. Doch dazu müssen die Nachbarn leise sein. Der Sänger Tobias Zornig geht gemeinsam mit Anne Wolf rüber.
Tobias: "Schöne Musik macht ihr da!"
Anne: "Könnt ihr kurz fünf Minuten Pause machen? Dankeschön! Nicht Schnauze-Voll! Weiter-Covern! Bloß fünf Minuten! Weiter machen. Dankeschön!"
Tobias: "Ich kenne die Leute nicht persönlich, aber da treffen schon Generationen aufeinander im Haus."
Anne: "Yep, ist doch cool! Sonst würde man sich so auch gar nicht übern Weg laufen. Aber sind halt alles Mucker! Ist schon geil!"
Tobias: "Das macht den Charme aus, denke ich auch. Die haben Erfahrung, die kann man auch fragen, wenn man Fragen hat im Haus. Ist schon cool, eigene Gemeinschaft hier!"
Tobias Zornig und der zweite Gitarrist Erik Gabelin nutzen die kurze Stille, um ihren Song aufzunehmen.
"Wir bleiben wach, auch wenn alle schlafen gehen...In dieser Stadt wird die Nacht erst zum Tag, das ist Berlin ... Hier in Berlin ..."
Aus dem Fenster sieht man Plattenbauten dicht an dicht
Tobias Zornig schaut aus der breiten Fensterfront raus. Graue Plattenbauten dicht an dicht, dazwischen Grünflächen, Bahnschienen, Strommasten. Für ihn ein gewohnter Blick. Er ist im Bezirk Marzahn-Hellersdorf aufgewachsen. Für Außenstehende ist dies nicht gerade der attraktivste Fleck Berlins. Verschrien als Stadtteil mit vielen Arbeitslosen, kaum Jugendlichen und mit Neonazis.
"Man kennt auch diese Alltagssituationen auch in der Schule, man wird gerne damit aufgezogen, wenn welche aus einem anderen Bezirk kommen, dass man aus Marzahn kommt und dass es ja so ein schlimmer Bezirk ist und alles Platte ist. Aber im Endeffekt bin ich hier groß geworden und mir geht's gut."
Anne Wolf nickt. Diejenigen, die Marzahn nicht kennen, sehen anonyme, gigantische Plattenbauten. Für die gebürtige Marzahnerin und ORWO-Managerin fühlt sich der Randbezirk wie ein Dorf an, persönlicher als in der Stadtmitte.
"Man darf auch nicht vergessen, dass die Leute sich hier noch tatsächlich noch in die Augen schauen, wenn sie sich auf der Straße begegnen. Es ist ja irgendwo im Zentralen, da wirste ja eher umgerannt von Leuten, die ihr Handy in der Hand tragen und eigentlich nicht schauen, wo sie langlaufen."
Die Gänge des alten Industriegebäudes sind angenehm kühl. Trotz der schweren Feuerschutztüren der Räume hallt die Musik durch die dunklen Flure. Jemand hat mit viel Mühe einen bunten Drachen auf die grauen Betonwände gemalt. An anderen Stellen hat sich jemand mit Sprühdose und offenbar verbundenen Augen ausgetobt.
Im heutigen Musikzentrum produzierten zu DDR-Zeiten die Mitarbeiter des Filmherstellers ORWO vor allem Zusatzstoffe für die Filmentwicklung. Die Abkürzung "ORWO" stand damals für "Original Wolfen" und bezog sich auf den Gründungsort Wolfen in Sachsen-Anhalt.
"Der Schriftzug, der war halt damals noch dran, als wir es gekriegt haben und, naja, warum denn auch nicht? Und ich mein, ORWO-Haus, also ORWO war damals ja auch eine große Nummer, also im Osten."
Die Musiker sollten raus - besetzten dann aber das Gebäude
Nach dem Fall der Mauer stand das Gebäude jahrelang leer, bis Ende der 1990er Jahre die ersten Bands einzogen. Doch die damals zuständige Treuhandliegenschaftsgesellschaft - kurz TLG - kündigte die bestehenden Mietverträge.
Die Musiker protestierten dagegen und besetzten sogar das Gebäude. Mit Erfolg: Sie verhinderten die Schließung, gründeten 2004 den "ORWOhaus e.V." und kauften schließlich das Grundstück. Mit einer Million Euro der Lotto-Stiftung konnten sie die nötigen Brandschutzauflagen erfüllen.
Heute gehört das Grundstück komplett ihnen, sie verwalten alles selbst und refinanzieren sich über die monatlichen Mieten.
Im ersten Stock, neben dem schwarzen Brett mit vielen "Gitarristin gesucht"-Aushängen und Konzertankündigungen, schließt Anne Wolf ihr Büro auf.
Yucca-Palmen schmücken die Mitte des Raumes, auf dem Teppichboden liegen Plakate und ORWO-Flyer, in der Ecke dröhnt der Computer-Server, daneben stehen Couch und Kochzeile.
An den Wänden hängen grüne Poster von vergangenen ORWO-Haus-Festivals, an der Tür ein Frank Zappa-Poster. Anne und Co durften die Straße am Haus sogar in Frank-Zappa-Straße offiziell umbenennen. Silber glitzernde, selbst gebastelte Schallplatten hängen an der Wand. Fake-Platin als Auszeichnung für die Bands und ihre ganz eigenen Stile.
"Power-Party-Pock, Gymp-Pop, Jazz-Funk-Rock, Polit-Core, Schönmösenpunkrock, Experimental Down-Tempo ..."
So unterschiedlich und etwas verrückt diese selbsternannten Musikrichtungen klingen, sie passen ins ORWO-Haus. Genauso wie die wandelbare, vielfältige Anne Wolf. Sie selbst spielt Bass in vier verschiedenen Bands. Von etwas kraftvollerem Technical Deathmetal bis hin zur braveren Pop-Rock-Cover-Band und sogar Blues- und Swing-Formation. Ihr Leben verbindet sie mit der Musik und seit zehn Jahren auch mit dem ORWO-Haus.
"Ins ORWO-Haus bin ich deshalb gekommen, weil ich schon ganz lange Musik mache und das in Berlin schon seit jeher schwierig war, irgendwelche Proberäume zu finden. Nach langen Autofahrten, Suchen nach irgendwelchen alten leerstehenden Schulen und versuchter Kontaktaufnahmen mit dem zuständigen Hausmeister, bin ich dann ins ORWO gekommen und habe einen richtigen Proberaum gefunden."
Das Telefon klingelt, Anne Wolf ist gefragt. Die 30-Jährige sorgt neben zwei weiteren Festangestellten und vielen Ehrenamtlichen dafür, dass alles läuft. Ein Veranstalter fragt, ob er sich heute noch den Konzertraum anschauen könnte, spontan wird ein Termin vereinbart.
Nachwuchs-Schmiede für die Berliner Musikszene
Das ORWO-Haus versteht sich als Nachwuchs-Schmiede für die Berliner Musikszene und gilt als eines der letzten selbstverwalteten Kulturprojekte der Hauptstadt, das nicht durch private Übernahme oder Kündigung gefährdet ist. Auf rund 10.000 Quadratmetern bietet das Gelände mit Garten genug Platz. Ein Paradies für die knapp 800 Musizierenden.
Zudem können sie in den drei Tonstudios ihre Songs professionell aufnehmen, bei der Gitarrenwerkstatt ihre Saiteninstrumente inspizieren lassen, sich für die eigene Konzert-Tour einen Bus mieten. Wer ganz groß raus kommen will, wendet sich ans "Band-Büro", das für die Musikerkarriere Tipps gibt. Alles da, an einem Fleck. Selbst eine hauseigene Kneipe gibt es, in der sich die meisten selbsternannten ORWO-Häuslerinnen treffen und vernetzen.
"Passend zum Musiker, Backstage. Das ist unsere Kneipe hier. Hier ist so der Rückzugsort, wenn man so um halb zwölf mit dem Proben endlich fertig ist, kann man noch seinen Absacker trinken. Und der Müller ist der schnellste Bar-Mann der Welt. Haha."
An der Theke sitzen fünf Leute um die zwanzig, sie unterhalten sich über Beziehungen, über neue Gitarrenmodelle, eine Band trinkt schon einmal Bier, bis ihr verspäteter Drummer endlich kommt, ein anderer tupft eine Bockwurst in Senf und stopft sie sich in den Mund. Hier trifft sich die ORWO-Familie, sagt Anne Wolf.
"Viele wissen nicht so zwangsläufig, dass es hier so familiär ist. Ich glaube, die meisten Leute suchen tatsächlich einen Proberaum, weil der Bedarf halt einfach noch sehr groß ist so. In Berlin, in ganz Berlin. Und dann stellt man fest: Huch! Hier gucken sich die Leute an! Huch! Hier interessieren sich die Leute füreinander! Huch, hier kann ja gemeinsam total kreativ werden. Und dann, dann wird's geil!"
Schnell einen Schnaps - dann geht es weiter zur nächsten Band
Nachdem Anne einen Schnaps getrunken hat, stattet sie der nächsten Band einen Besuch ab.
"Wir sind jetzt in der 4. Etage, direkt neben den Duschen, links rum B6BBO, wie du siehst Schnaps, Schnaps, Schnaps, Schnaps, Schnaps, jetzt, klopfen, klopfen ..."
Musik B6BBO: "Dann gib mir Geld, Bitch! Damit wir feiern gehen, Bitch!"
Sänger Arne der Band B6BBO möchte Missverständnisse beim Text vermeiden:
"Bei dem Song 'Gib mir Geld' geht es eigentlich darum, dass gewöhnliche Männer sich dadurch profilieren, dass sie Frauen alkoholische Getränke in Clubs ausgeben und damit denken, sie könnten sich die Frauen damit irgendwie gefügig machen. Und wir einfach sagen: 'Hey, wir drehen den Spieß um. Hier ist die Frau am Drücker.' Die Frau sagt: 'Hier Junge, hast'n Fünfer, hol uns beiden mal 'n Bierchen und dann haben wir einen schönen Abend zusammen!'"
Im L-förmigen Raum der siebenköpfigen Band riecht es nach Schweiß, Zigarettenrauch liegt in der Luft. Eine Sofa-Ecke lädt zum Faulenzen ein, auf dem Boden liegen Flaschendeckel, in der Mitte stehen zwei kleine Holztische übereinander, auf denen sich leere Bierflaschen stapeln.
Der Akkordeonspieler kann sich gerade so um seine eigene Achse drehen. Drumherum, dicht an dicht neben Verstärkerboxen, quetschen sich die anderen sechs mit ihren Instrumenten: Posaune, Trompete, Bass, Schlagzeug, Gitarre.
Die sieben Jungs kennen sich schon seit der Schule. Aus dieser Zeit stammt auch der Name B6BBO, den sie bei einer Kursfahrt gefunden haben.
"Wir haben uns halt, als die Jungs, die zusammen im Bungalow 6 damals im brandenburgischen Bukow gehaust haben auf dieser Orchester-Fahrt, eine Balkan-Nummer ausgedacht, und deswegen waren wir damals das Bungalow 6 Balkan Beats Orchestra."
Dabei spielen sie gar kein Balkan, wie sie selbst sagen, sondern "Power-Polka".
"Powerpolka, das ist eigentlich ganz einfach: Das ist kraftvoll, eingängig und treibend.. Mehr muss man dazu eigentlich nicht sagen."
Im Haus können die Bands auch Aufnahmen machen
Die Berliner Musiker vom B6BBO haben ihr erstes Studioalbum im Tonstudio des ORWO-Hauses aufgenommen und proben jetzt für Konzerte.
Nach dem Lied machen es sich alle Bandmitglieder gemütlich: Der Bassist sitzt auf der Box, Arne dreht sich auf dem Ledersofa eine Zigarette und gönnt sich zur schwülen Frühabendluft ein Bier.
Das Fenster steht offen. Die sieben Musiker genießen den Blick über Marzahn, in der Abenddämmerung steigt der fast volle Mond über den Dächern der Plattenbauten hoch. Nur von Weitem sieht es schön aus, findet der Trompeter Bruno. Auf dem Weg zur Probe sitzt er lange in der S-Bahn. Genug Zeit, um Marzahn an sich vorbei ziehen zu lassen.
"Ich genieße es immer nach Marzahn zu fahren, weißte. Mit der S7 raus, ich meine, es gibt wenige S-Bahn Stationen, die so einladend sind in Berlin. Wenn man gedacht hat: Oh, jetzt kommt erstmal nichts mehr außer Poelchaustraße, dann kommste ins ORWO-Haus und dann fühlt man sich auch wieder wohl."
Manchmal fällt ein Witz über die Plattenbauten. Hässlich seien sie. Aber die Musiker machen sich abseits ihres spaßigen Power-Polkas auch Gedanken über das ORWO-Haus und die Bedeutung für den Bezirk.
Die Mitglieder vom B6BBO kommen nur zum Proben nach Marzahn. Der Sänger Arne findet das schade, sagt aber auch:
"Es ist eine Anarchie-Insel sozusagen im Rahmen dieses Plattenbaugemäuers hier, in dem wir uns ausleben können. Die nächste zivilisierte Gegend sozusagen ist mindestens 700 Meter weit weg, wo die nächsten Wohnhäuser stehen. Und einfach: Die Durchschnittsbevölkerung in Marzahn interessiert sich leider herzlich wenig für das, was hier passiert."
Das schlechte Image von Marzahn beruht auch auf Vorurteilen
Anne Wolf dagegen lebt als Marzahnerin die Verbindung zwischen ihrem Musik-Paradies ORWO und Plattensiedlung Marzahn. Das schlechte Image beruht für sie auf Vorurteilen von Menschen, die noch nie hier waren. Sie wirkt genervt von der Diskussion.
"Am Ende lebt man ja nicht in der Blase und kriegt von seiner Außenwelt nichts mit. Also am Ende lebt man genau in der Welt, in der man lebt und man kann genau in der Welt, in der man lebt, irgendetwas verändern oder es einfach schlucken. Wenn wir jetzt alle Künstler sind, dann will ich am besten genau die erreichen, die es hören wollen oder die es nötig haben und dann grenze ich gar keinen aus."
Trotzdem. Für den 22-jährigen Arne, der Stadtplanung studiert, bleibt das ORWO-Haus eine Insel der Glückseligen, abgeschieden vom Rest.
"Das ist ein großes Defizit, dass diese Verbindung zwischen ORWO-Haus und Marzahn nicht stattgefunden hat, noch nicht stattgefunden hat. Wo, glaube ich, noch viel viel Arbeit einfach auch geleistet werden muss, gerade auch vom Bezirk und anderen Kultureinrichtungen im Bezirk, dieses ORWO-Haus auch wirklich als Kristallisationspunkt für kreative Energie und auch als positives Images des Bezirks zu sehen."
In Marzahn-Hellersdorf, einem von zwölf Bezirken Berlins, leben über 250.000 Menschen. Viele Künstlerinnen und Künstler landen hier, weil sie aus dem Zentrum an den Rand der Stadt verdrängt werden.
Die Hauptgründe: Immer mehr wollen ins hippe Berlin, Wohn- und Arbeitsräume sind knapp, Mieten für Kunstschaffende unbezahlbar.
Julia Witt von den Linken ist Stadträtin in Marzahn-Hellersdorf, unter anderem für Kultur und Jugend. Sie kennt das Verdrängungsproblem, eine fast schon unabwendbare Entwicklung in Großstädten. Sie sieht aber gerade darin eine Chance für ihren Bezirk:
"Ich glaube, dass Marzahn für die nächsten Jahre ein Ort ist, in dem sich eine Menge bewegen wird. In dem wir einen Bevölkerungsaustausch haben werden, wo einfach durch die frei werdenden Wohnungen im Ernstfall auch für junge Leute eine gute Chance ist. Ich freue mich natürlich auch, dass eine Reihe von Jugendlichen, die jetzt nach dem Studium, nach den ersten Berufsjahren, nach einer Zeit im Ausland, jetzt wieder in den Bezirk kommen, jetzt hier wieder Fuß fassen."
Die Kunst- und Kulturproduktion könne sich hier weiter etablieren. Dabei hofft die Politikerin der Linken, dass die Marzahner das in Zukunft besser annehmen.
"Es geht um ein Umfeld, um eine Toleranz natürlich auch, das auch die Nachbarn und alle signalisieren: Junge Leute, Kreative, Klasse! Aktive Leute - die nachts um eins noch auf dem Balkon sitzen, sind willkommen."
Der Altersschnitt im Viertel ist hoch, junge Leute ziehen weg
Dennoch hat Marzahn mit Problemen wie der relativ hohen Arbeitslosenquote und seinem schlechten Ruf zu kämpfen. Zudem wohnen vergleichsweise mehr ältere Menschen in Marzahn, die Jungen ziehen woanders hin oder bleiben gleich ganz weg.
Vor allem Demonstrationen gegen die Unterbringung von Flüchtlingen prägen nach wie vor die öffentliche Meinung über den Bezirk. Kulturstadträtin Julia Witt leugnet auch nicht, dass es ein gewisses Neonazi-Problem gibt:
"Ja, das ist Teil der Marzahner Lebensrealität, dass es hier auch im Bezirk Rassisten gibt, das ist richtig. Es gibt aber auch Menschen, die sich jeden Montag – und ich gehöre auch dazu – genau dagegen auf die Straße gehen."
Für mehr Akzeptanz will auch das ORWO-Haus sorgen. Auf die Wand direkt neben dem Eingang hat jemand mit schwarzer Farbe den Spruch "Refugees Welcome" gesprüht. Annes Team lädt Flüchtlinge ein, um mit ihnen gemeinsam zu jammen, sie veranstaltet Festivals mit bekannten Musikern wie Peter Fox und lädt wie heute zum Tag der offenen Tür ein.
Anne führt zwei ältere Herren aus Marzahn durchs Haus. Sie hat die Gäste in der Backstage-Bar angesprochen und gibt ihnen eine musikalische Kennenlern-Tour inklusive Ohrenstöpsel.
"Können wir kurz rein?"
Anschließend läuft das Trio aufs Dach des Hauses.
"Aber bitte nicht so nah ... Kein Geländer!"
Hier prangt ein ORWO-Graffiti in rot-weißer Schrift, das die benachbarten Plattenbauten und leerstehenden Häuser anlächelt und irgendwo am Horizont den Fernsehturm am Alexanderplatz grüßt.
Udo Lehmann – Jeanshose, Jeansweste und Cap, dazu braune Sandalen – zeigt mit einem zufriedenen Lächeln auf seinen Plattenbau gegenüber.
"Viel Grün, Ruhe, ja, ne jute Anbindung, man kann in Ruhe Fahrrad fahren, is ... janz jut hier."
Seit mehr als 15 Jahren lebt er neben dem ORWO-Haus. Heute hat er es zum ersten Mal betreten.
"Meine Frau kommt noch. Na ich wollte dit auch mal kennenlernen, ist top hier. Und wenn so viel Andrang ist hier, ist doch jut. Dann stimmt auch das Preis-Leistungs-Verhältnis."
Heinz Woyhode, mit Schnurrbart und Mütze, war schon einmal hier. Er kommt wegen der Rockmusik, will schauen, was die jungen Leute so treiben. Dabei könnten es viel mehr sein in Marzahn, findet er.
"Gerade für die jungen Leute müsste man, sollte man noch ein bisschen mehr tun. Außer die Mieten preisgünstig zu haben, vielleicht auch andere Dinge. Für junge Leute und auch Leute, die so aus höher gestellten Milieu kommen, also alles was studiert ist – mit Sicherheit: Der Bezirk hätte viel zu bieten."
Heinz Woyhode wirkt interessiert, stellt Fragen zum Haus. Er ist einer der wenigen, die heute gekommen sind, die offen sind für die Berliner Musikszene "Made in Marzahn". Das überrascht ihn aber nicht wirklich.
"Ich glaube nicht, wenn ich bei mir im Umfeld fragen würde: ORWO-Haus, wat it da los? Ich geh mal davon aus, dass die meisten Leute nicht wissen, worum es sich handelt. Aber ob dit Haus unbedingt auch bei Meyer, Müller da hinten in Marzahn-Hellersdorf bekannt sein muss, der sich für Musik nicht interessiert? Weiß ick nicht, ob dit notwendig ist."
Anne: "Wir haben jedes Jahr ein Festival und du hast bestimmt schon mal was von uns im Briefkasten gehabt. Ne? Naja, dann guck ich nächste Woche nochmal, wa', dann komme ich bei Euch zu Hause vorbei und schmeiß es euch in den Briefkasten oder ich gebe es Euch gleich mit. Ja!"
Handgefertigte Schlagzeug-Sets aus Edelstahl
Ganz am Ende des Flures, im letzten Winkel des Hauses im ersten Stock, hat Udo Masshoff seine ganz eigene Werkstatt. Er baut Schlagzeuge, nicht wie üblicherweise Massenware aus Holz, sondern handgefertigte Unikate aus Edelstahl.
In seinem kleinen Werkraum stapeln sich die noch unbehandelten glänzenden Edelstahl-Kessel, am Fenster eine Holzbank mit Schrauben und Hammern. Daneben schiebt Udo Masshoff – im Mundwinkel eine Kippe – ganz langsam und vorsichtig eine Trommel unter den Standbohrer.
"Ich weiß ja nie, wie die Schlagzeuge werden, weil ich fertige ja nur Unikate. Und oftmals bin ich mir dann nicht sicher, dann steht auch mal eine Trommel halbfertig, also nur vom Finish her halbfertig, ein halbes Jahr, weil ich es mir nicht traue. Ich denke: Kannst du das bringen, ist das nicht zu radikal, zu verrostet? Aber das ist dann eigentlich das Beste. Wenn's zu radikal ist, wenn ich anfange zu zweifeln, dann ist es genau richtig."
Hier im ORWO-Haus verbindet er Kunst mit Trommelbau, verkupfert, vergoldet, verleiht den Schlaginstrumenten einen Rost-Look. Er formt nicht nur Einzelstücke für Bands wie die Rolling Stones, sondern erfindet auch die passenden Geschichten dazu.
"Diese Trommel hier zum Beispiel ist nach dem Zweiten Weltkrieg Kampfflugzeug-gefertigt mit Einschusslöchern. Es ist die Tiger-Shark-Snare-Drum. Eine normale Standard-Trommel hat 180 Teile, die haben 824."
Im Mittelraum riecht es nach Lackfarbe, er streicht sanft über einen gold-schimmernden Kessel, der direkt neben seiner geparkten Harley und Rennrad trocknet.
"Hier haben wir zum Beispiel einen Kessel, der ist im goldenen Keramik gebacken. Das heißt, du kannst diesen Trommelkessel draußen im Garten eingraben und jemand würde den in 18.000 Jahren rausholen und wischt ihn ab und er sieht genauso aus. Der kann nicht rosten, da kann keine Säure was anhaben, kannst Bier drauf schütten, der ist bis 1.200 Grad hitzebeständig. Alles Dinge, die man bei einer Trommel nicht braucht, die aber geil sind."
Und die ihren Preis haben. Eine Trommel kostet um die 1.000 Euro, ein ganzes Set sogar acht bis 12.000. Luxus für Drummer, handgemacht im ORWO-Haus. Er zeigt auf ein von ihm gebautes Set, mit dem Iggy Pop auf Tour war. Seine grünen Augen glänzen, er ist sichtlich stolz auf seine Arbeit. Der langjährige Schlagzeuger setzt seiner Kreativität dabei keine Grenzen.
"Das wird jetzt ganz speziell nach einer Douglas DC3-Rosinenbomber gebaut. Das heißt, ich hab jetzt schon Originalteile von einer Douglas DC3 gekauft, die ich in dieses Schlagzeug einarbeiten werde. So was wie Luftdruckanzeigen und so ein Zeug."
"Man wächst mit dem Haus zusammen"
Wenn er nicht gerade Kessel lackiert oder an ihnen bohrt, zieht er sich in seine liebevoll eingerichtete Wohlfühl-Oase zurück. Er zündet Räucherstäbchen an, die Sofas und Teppiche sind farblich auf Rot-Braun abgestimmt, auf einer antiken Holzablage stehen Figuren von Elvis, seinem Idol. In der Ecke des Raumes hat er sich sogar eine kleine Bühne eingerichtet, auf der er ein altes Schlagzeug aufgebaut hat.
"Ich hab heute morgen wieder bis vier gespielt. Ich kann nicht aufhören. Ich tippe das Set an und sofort geht's los. Jedes Mal komme ich nachts hierher und denke mir: Komm, machste Lichter aus, gehste ins Bett. Und was passiert? Einmal tippe ich drauf. Bum-Zack! Zwei Stunden später sitze ich immer noch da. Wenn ich lange arbeite, dann wohne, schlafe ich hier auch. Ich habe ein fertig eingerichtetes Schlafzimmer hier auch. Also, es ist kein Blues, es ist äußerst angenehm hier zu sein für mich."
Angenehm, so empfinden die meisten das ORWO-Haus. Seine Menschen, all die bunten und kreativen Köpfe, verbindet vor allem die Leidenschaft zur Musik.
"Man wächst halt hier mit dem Haus zusammen, kann man schon so sagen. Ich hab auch noch kein anderes Probe-Haus in Berlin erlebt, was so eine Gemeinschaft mit sich bringt unter den Musikern. Das ist schon viel Wert, ich bin gerne hier. Ich war zwischenzeitlich mal woanders, hab woanders geprobt und kam dann wieder her, genau aus dem Grund: dass man hier Anhang findet, dass man hier Menschen hat, mit denen man auf einer Wellenlänge ist."
... sagt Tobias Zornig von "Angry & Fork". "Das größte selbstverwaltete Musikerhaus in Europa, vielleicht sogar weltweit", "die lauteste Platte" – so bezeichnet sich das ORWO-Haus. Und es steht nicht in London oder New York City, auch nicht in den Szenekiezen Berlins, sondern in Marzahn, am Ende, am Rande der Stadt.
"... Hier in Berlin! Marzaaaaaahn!"