Expansiv und entschlackt
Gipfeltreffen der Orchester: Das Musikfest Berlin bringt im September die bedeutendsten Klangkörper in die Hauptstadt. Heute der Beitrag des einheimischen Rundfunksinfonieorchesters - Welten prallen darin aufeinander. Drei Werke aus derselben Zeit um 1910 - das Rundfunksinfonieorchester Berlin spielt unter Marek Janowski Gustav Mahlers Vermächtnis, Arnold Schönbergs dänischstes Lied und die dritte Sinfonie des Dänen Carl Nielsen beim Musikfest Berlin, das in diesem Jahr genau jene drei Komponisten zum Thema gemacht hat.
Alljährlich werden zum Saisonauftakt in Berlin die orchestralen Kräfte gebündelt: Die Berliner Festspiele und die Berliner Philharmonie richten das Musikfest Berlin aus, das in dieser Form – als Nachfolgerin der Berliner Festwochen – nun zum 11. Mal stattfindet. Hier treffen die Klangkörper der Hauptstadt auf die führenden Orchester der internationalen Szene. Doch geht es nicht in erster Linie um eine sinfonische Leistungsschau, sondern um Konzepte. Im Gegensatz zu vielen anderen Festivals dieser Größenordnung setzt Programmchef Winrich Hopp auf klare dramaturgische Linien, vertritt konsequent das Erbe der Moderne und stellt überraschende Querbezüge her.
In diesem Jahr wird ein nordisches Jubiläum gefeiert: Der 150. Geburtstag des dänischen Komponisten Carl Nielsen prägt Teile des Programms. Die naheliegende Parallele zum Finnen Jean Sibelius, an dessen 150. Geburtstag im Dezember dieses Jahres erinnert wird, verfolgt das Programm jedoch überhaupt nicht. Stattdessen wird Nielsen mit Arnold Schönberg ein etwas jüngerer Zeitgenosse gegenübergestellt – beide Komponisten kannten und schätzten einander. Zugleich verdeutlicht diese Kombination, wie extrem unterschiedlich in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts, am Ausgang der langen romantischen Epoche, komponiert werden konnte. Eine geradlinige Entwicklung zur Moderne – und damit eine Grundidee der ästhetischen Debatte der Nachkriegszeit – lässt sich umso weniger erkennen, je mehr man die musikalischen Stränge des 20. Jahrhunderts verfolgt. Schönberg wiederum wird im Festivalprogramm eine dritte Persönlichkeit zur Seite gestellt, die seit jeher ein Lieblingskomponist nicht nur des Musikfestes Berlin ist: Gustav Mahler, ein Visionär der musikalischen Moderne. Als Medienpartner dokumentiert Deutschlandradio Kultur das Musikfest Berlin in lockerer Folge mit der Übertragung von acht Sinfoniekonzerten, vier Kammerkonzerten und dem „Quartett der Kritiker".
Man würde sie also nicht in einem Atemzug nennen - diese drei Komponisten: Mahler, Schönberg und Nielsen. Die drei Werke des Abends sind um 1910 entstanden, in einer Zeit als, die spätromantische Epoche mit mehr oder weniger großem Knall endete. Dieses Programm lässt aus unterschiedlichen Perspektiven auf ein Musikdenken blicken, das Partituren entstehen ließ, die schier aus den Nähten platzten. Genauso zeigt der Abend das Umdenken, die ästhetische Entschlackung, die radikale Schlankheitskur, die in jenen Jahren einsetzte.
Aus Schönbergs überbordend besetzten "Gurreliedern" gibt es das "Lied der Waldtaube" in einer kammermusikalischen Fassung, die Arnold Schönberg selbst angefertigt hat. Auch Gustav Mahlers Adagio aus seiner unvollendeten zehnten Sinfonie wirkt im üppigen sinfonischen Umfeld eher fragil, fast "verletzt"– hier spürt man aber noch die üppige Geste. Nur Carl Nielsen kontert mit demonstrativer Unerschütterlichkeit. Er bläst geradezu lebensbejahende Energie in den Äther, so, als wolle er sich dieser "Götterdämmerung der Sinfonik" entgegenstellen, die im egozentrischen Wien ausgerufen wurde. Hemmungslos und ungebrochen wirkt seine "Sinfonia espansiva".
Musikfest Berlin
Philharmonie Berlin
Aufzeichnung vom 16. September 2015
Gustav Mahler
Adagio aus der Sinfonie Nr. 10 Fis-Dur
Arnold Schönberg
Lied der Waldtaube aus "Gurrelieder"
Fassung für Kammerorchester von Arnold Schönberg
Carl Nielsen
Sinfonie Nr. 3 op. 27 ("Sinfonia espansiva")
Karen Cargill, Mezzosopran
Sabine Puhlmann, Sopran
Young Wook Kim, Bass
Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin
Leitung: Marek Janowski