Krabbeln im Orchestergraben
Opernbesucher sind zu 90 Prozent grauhaarig - wenn sie noch Haare haben. An der Erfurter Oper werden für die Nachwuchsförderung neue Wege ausprobiert: "Krabbelkonzerte" für Kleinkinder. Doch taugt Wilhelm Tell für Säuglinge?
Junge Mütter, ein paar Väter und etwa 50 Babys und Kleinkinder rollen in das helle, sonnendurchflutete Foyer der Erfurter Oper. Parken ihre Kinderwagen. Hinab geht es in den Zuschauerraum, dann hinauf auf die Bühne. 50 Musiker sitzen da, akkurat in Schwarz - wie immer. Für die Kinder gibt es Matten, zum Sitzen oder Krabbeln. Schnell sind die Reihen voll. Selbst die Mütter sind viel jünger als das normale Konzertpublikum.
Cornelia Schönherr: "Guten Morgen, liebes Publikum!"
Publikum: "Guten Morgen!"
Cornelia Schönherr ist Trompeterin und Museumspädagogin:
"Willkommen zum Konzert, heute zur Wilhelm-Tell-Ouvertüre. Heute eine unterhaltsame halbe Stunde. Und mein Philharmonisches Orchester ist wieder da, heute unter der Leitung von Juri Lebedev. Guten Morgen!"
Der Dirigent freut sich auf Rossinis Tell. Er habe ihn lange nicht gespielt. Und wie ist das, für Säuglinge zu spielen?
"Wenn die Kinder lachen, haben wir auch sehr gute Laune."
Juri Lebedev: "Nicht ganz einfach. Aber man spürt einfach diese freundliche Atmosphäre während dieses Auftrittes. Und wenn die Kinder lachen, haben wir auch sehr gute Laune."
Wühli: "Schön!"
Cornelia Schönherr: "Und wer natürlich nicht fehlen darf - das wisst ihr alle schon - ist: Wühli!"
Wühli ist eine Wühlmaus, eine Handpuppe, geführt von einer Schauspielerin. Cornelia Schönherr:
"Wühli, ich grüße dich! Gibst du mir einen Kuss?"
Wühli: "Und das ist die Conny Schönherr!"
Schönherr: "Kennen Sie Wilhelm Tell, den Schweizer Nationalhelden, dessen Lebensgeschichte Friedrich Schiller in seinem berühmten Schauspiel geschildert hat? Gioachino Rossini hat uns eine ganz zauberhafte Ouvertüre zu seiner Oper Wilhelm Tell geschenkt. Das Solo-Cello beginnt - und gleich darauf stimmen die vier anderen Celli in einen ganz zarten Begleitchor ein."
Die meisten laufen lieber rum
Cornelia Schönherr erklärt am Beispiel von Wühli, wie die Mütter, Großmütter und Väter ihre Kinder im Rhythmus streicheln sollen. Bei den Kleineren klappt das, die meisten aber laufen lieber rum.
Schönherr: "… um einfach ein Werkzeug zu haben, die Musik auf den Körper zu übertragen. Der hat einfach einen besseren Zugang, die Musik, wenn wir das mit einer körperlichen Aktion verbinden. Das ist gerade bei den ganz, ganz Kleinen sehr wichtig, dass man diese Sensorik anregt und dass man das Empfindsame erweckt und dass die Eltern mit den Kindern das gemeinsam tun. Dass sie einfach zur Musik - manchmal sogar im Rhythmus, im Takt! - diese Bewegung ihrem Kind schenken. Das ist was ganz Besonderes; das macht man ja zu Hause eigentlich nicht."
Das Ganze geht eine gute halbe Stunde. Die Kinder werden immer unruhiger, die Musiker reagieren ganz unterschiedlich: Es gibt den mütterlich-liebevollen Blick, wenn sich ein Kind der Tuba nähert, weil es sich darin spiegelt - den sorgenvollen, den genervten, den ignoranten. Die meisten Musiker aber machen ihren Job wie immer. Auch der Dirigent, Juri Lebedev:
"Ich glaube, jedes Konzert ist ernsthaft - egal, wer im Publikum sitzt - kleine Kinder oder ganz kleine Kinder -, aber sie kommen nicht allein, sie kommen auch mit den Eltern. Und ich glaube, nicht alle Eltern gehen immer zu unseren Sinfonischen Konzerten. Und wenn sie schon mal mit dem Kind einen solchen Auftritt erleben dürfen - ich glaube, das ist auch ein Erlebnis für größere Leute."
"Für mache faszinierend, für manche erschreckend"
Bei manchen klappt das Streicheln und Rhythmus-Klopfen, die Kinder sind dabei. Andere müssen schnell raus, wenn sich das Gewitter zusammenbraut, das über dem Vierwaldstädter See hängt, über den Wilhelm Tell fährt.
Die Reaktionen der Mütter:
"Also, die schönen, leisen Stücke waren wirklich sehr schön, aber, als es dann ein bisschen lauter wurde, war es einfach für ein sechs Monate altes Kind leider noch nichts. Ja, wir haben uns nur erschrocken, und da war eigentlich das ganze Konzert für uns gelaufen. Aber ansonsten war es schon sehr schön! Wenn er älter ist, werden wir es auf jeden Fall nochmal probieren!"
"Vor allem, wenn diese starken Töne so plötzlich einsetzen, ist es für manche faszinierend und für manche erschreckend."
"Für sie war's ganz toll, hat ganz aufmerksam zugehört; das war echt schön. Und mit diesen Bewegungen dazu, die die Dame uns gezeigt hat, das war auch sehr schön, und das hat sie gut mitgemacht. Ich find's auch toll, dass das ganze Orchester da ist, damit habe ich gar nicht gerechnet. Also, das ist wirklich eine tolle Sache, dass das Kinder auch mal so sehen - sehr schön!"
Spaß hatten alle
Eines konnte man auf jeden Fall lernen: Babys kommen locker über ein piano, über ein mezzoforte. Dem fortissimo aber mußten sich alle geschlagen geben. Aber Spaß hatten alle. Auch Cornelia Schönherr, die sich auf das gleich folgende Kinderkonzert vorbereitet:
"Es ist immer so eine besondere Situation, gerade bei der ganz jungen Klientel hier, weil der Geräuschpegel einfach sehr hoch ist. Und meistens - und gerade hier bei der Wilhelm-Tell-Ouvertüre - haben wir wirklich sehr anspruchsvolle Passagen dabei, wo die Musiker sich hart konzentrieren müssen. Und das ist schon ne Herausforderung für die Kollegen: Einfach bei ihrem Spiel zu bleiben und sich nicht ablenken zu lassen. Das ist auch sehr ungewöhnlich, das sind wir ja nicht gewohnt, zu spielen, wenn jemand redet oder so."
"Und es ist wirklich so: Wir arbeiten für unseren Nachwuchs! Wir wollen ausstrahlen und zeigen, was wir hier machen, und zeigen, dass das einfach wundervoll ist, dass wir hier Musik spielen dürfen im Orchester!"
Im Foyer verschwinden die Kinderwagen. Als nächstes kommen die Siebenjährigen. Dann, am Abend, werden hier wieder seriöse Menschen in Kleid und Anzug erscheinen. Und keiner wird sich direkt vor die Tuba stellen, um sich darin zu spiegeln. Schade eigentlich.