Piratenradio 2.0?
Immer mehr Livestreams auf YouTube senden rund um die Uhr Musik, kuratiert von echten Menschen und nicht Algorithmen. Die "New York Times" meint: Auf der Plattform entstehe eine Art Piratenradio 2.0. Doch die Macher selbst sehen sich in einer ganz anderen Ecke.
Angenehme, träge Beats, viel Echo, langsamer, meist weiblicher Gesang. So klingen die 24-Stunden-Livestreams von "College Music".
Mit ihren Musikstreams hat sich College Music zur eigenen kleinen Marke auf YouTube entwickelt. Dahinter stecken zwei junge Briten, Luke Pritchard und Jonny Laxton. Vor zwei Jahren haben sie die Livestream-Funktion auf der Plattform entdeckt und dachten: Daraus lässt sich doch so etwas wie ein Radiosender machen, erklärt Jonny Laxton:
"Luke und mich verbindet die Liebe zu neuer, unbekannter Musik. Die Musik, die in den Charts ist oder im Radio gespielt wird, hat uns nie wirklich interessiert. Wir haben also angefangen, einen Ort zu schaffen, wo diese noch unentdeckte Musik, die wir in den Ecken des Internets gefunden haben, gehört werden kann."
Neue digitale Musikplattform
Mittlerweile betreiben die beiden drei Livestreams – rund um die Uhr. Dazu Spotify-Playlists, einen Snapchat-Kanal und mittlerweile auch ein eigenes Label. Ein Vollzeitjob. Pritchard hat sein Jura-Studium nach einem Jahr hingeschmissen.
Die beiden sagen, das Projekt bringt weniger Geld als man denken könnte, aber mehr als man bei einem durchschnittlichen Studentenjob verdient.
Was "College Music" genau macht, ist nicht so einfach zu beschreiben. Illegales Piratenradio, wie es kürzlich die "New York Times" geschrieben hat, passt jedenfalls nicht, findet Laxton:
"Wir waren total überrascht, mit Piratenradios verglichen zu werden. Dass wir Piratenradio machen, ist uns bislang gar nicht in den Sinn gekommen. Denn ich glaube, es ist nicht mal richtiges Radio. Es ist ein neues digitales Musikformat."
Ania Mauruschat, Radioforscherin an der Universität Basel, sieht es genauso:
"Ich finde, dass dieser Vergleich hinkt."
Es gebe allerdings Ähnlichkeiten mit dem Radio. Es wird rund um die Uhr "gesendet", und die Kanäle haben eine eigene Community entwickelt, die sich in Chats neben den Streams austauscht.
Ania Mauruschat: "Diese Mischung aus live und Gemeinschaft. Es ist das Gefühl, dass man gleichzeig etwas hört, mit vielen anderen. Aber deswegen ist es meiner Meinung nach noch lange nicht Radio, zumal es auch keine Moderatoren im klassischen Sinne bei diesen YouTube-Livestreams gibt."
Jugendkultur wandert ins Internet
Trotzdem sind Kanäle wie "College Music", von denen es Tausende im Netz gibt, ein kreativer Umgang mit den Möglichkeiten digitaler Plattformen. Um sie herum entstehen Musikkulturen, in denen junge Menschen das finden, was sie im traditionellen Radio vermissen: Einen Sound für ihren Alltag.
Ania Mauruschat: "Und es hat diese Verschiebung vom Radio zu YouTube und Spotify stattgefunden, weil da sicherlich noch mal Bands gespielt werden, die weniger bekannt sind, die noch kein Hitpotential haben, die deswegen auch ein gewisses Versprechen des Rebellischen oder Emanzipativen für junge Leute haben."
So revolutionär und mutig wie die Piratensender, die in den 70er- und 80er-Jahren Radiofrequenzen gekapert haben, sind YouTube-Musikstreams nicht. So lange alle Rechte geklärt sind, arbeiten sie vollkommen legal.
An ihnen lässt sich aber gut ablesen, wie die Jugend tickt. Sie hat keine Lust mehr, sich von Radiosendern vorschreiben zu lassen, was sie hören soll. Musikstreaming wird immer beliebter, Jugendkulturen wandern ins Netz.
Zwar betonen auch die beiden Nachwuchs-Intendanten von College Music, auch sie hören noch ab und zu traditionelles Radio, fragt sich bloß: Wie lange noch?