Wer ist hier eigentlich fremd?
Das Musiktheaterstück "Die Fremden" schreibt Albert Camus "Der Fremde" fort. Es lässt den Bruder des darin ermordeten Arabers sprechen und gibt ihm einen Namen. Ein zutiefst humanes Stück über kulturelle Identität im Post-Kolonialismus, über Flucht und Integration.
Der Raum erzählt (fast) die ganze Geschichte. Intendant Johan Simons hat der Ruhrtriennale einen neuen Schauplatz erobert, die Kohlenmischhalle der Zeche Auguste Viktoria in Marl. Vor einem Jahr noch ratterte die riesige Maschine, die eine tonnengewölbte Halle dominiert: haushoch, wohl an die 30 Meter breit, Treppen führen hinauf, rußige Schächte kippten einmal die Kohle aus. Und die liegt noch feinverteilt als schwarzer Staub auf dem Hallenboden, wird in dünnen Schleiern aufgewirbelt, glitzert in magischer Schwärze im Scheinwerferlicht.
Fünf hochkonzentrierte Schauspieler
In dieser unwirtlichen Mondlandschaft sind Menschen ganz von selbst "Die Fremden". So heißt die Adaption des Romans "Der Fall Meursault" von Kamel Daoud, der sich seinerseits mit Albert Camus Jahrhundertroman "Der Fremde" auseinandersetzt. Der grundlose, unerklärliche Mordfall aus Camus existentialistischer Parabel wird hier von der Gegenseite aufgerollt: der Bruder des arabischen Opfers geht der Frage nach, warum der Mörder aus der Rasse der Kolonialherren dem Toten nicht einmal seinen Namen gelassen hat.
Rassismus, Gewaltherrschaft und die gewaltsamen Reaktionen darauf, die Frage nach Gott in einer gottverlassenen Welt – all das bringt ein Ensemble von fünf hochkonzentrierten Schauspielern zur Sprache in einer Collage aus Daouds Roman. In Johan Simons Sicht auf das Problem hat der Fremde eben nicht einmal eine Identität. Sein Leben löst sich auf in Rollen, die andere ihm aufzwingen.
Präzise, perfekte Klangwelt
In einem eingespielten Film von Arnout Mik werden ähnliche Fragen dann ganz konkret mit Bildern aus einer Flüchtlingsunterkunft gestellt. Simons weicht der aktuellen Brisanz des Themas nicht aus. Aber sein Fokus liegt doch auf der philosophisch-existentiellen Ebene.
Eine helle Insel in der abgründigen Schwärze der Kohlenhalle ist das Orchester: das Asko-Schönberg musiziert mit seinem Gründer Reinbert de Leeuw in gewohnter Präzision und Perfektion. Mauricio Kagel, György Ligeti und Claude Vivier eröffnen Klangwelten, die es in ihrer Radikalität aufnehmen können mit der Mondlandschaft, die sie umgibt.
Und während eines musikalischen Zwischenspiels, während die Schauspieler däumlinggroß ganz weit in der Tiefe der Halle auftauchen, wird einem vielleicht der wichtigste Gedanke dieses skeptischen und doch zutiefst humanen Abends klar: Wie lange wollen wir uns in all unserer existentiellen Unbehaustheit eigentlich noch leisten, andere Menschen als "Fremde" zurückzuweisen?