Musiktheater im Revier

Wahrheit, Verzweiflung und Wunder

Blick auf die Fassade eines quaderförmigen Gebäudes mit vielen großen Fensterflächen.
Das Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen © dpa / picture alliance / Marius Becker
Von Ulrike Gondorf |
Eine beeindruckende Komposition ist die Oper "Nahod Simon" von Isidora Zebeljan. Die serbische Geschichte eines verachteten Waisenjungen und liebevollen Außenseiters, den dasselbe Schicksal wie Ödipus trifft, wurde in Gelsenkirchen mit großem Erfolg uraufgeführt.
In Serbien soll die Geschichte so bekannt sein wie bei uns Goethes "Faust", ein nationales Kulturerbe sozusagen. Es ist eine seltsame Geschichte, die in Verbindung zu ganz großen Mythen steht, zu Oedipus und Moses, und schließlich in einer christusähnlichen Apotheose endet.
Simon ist das Kind einer inzestuösen Liebe. Die verzweifelte Mutter weiß sich keinen anderen Rat, als das Baby in einem Körbchen den Fluten eines Flusses anzuvertrauen. Der trägt das Kind zu einem Kloster, wo es von Mönchen aufgezogen wird. Aber von Anfang an wird der fremde Junge mit Misstrauen und Kälte behandelt. Simon macht sich auf die Wanderschaft, kann an keinem Ort lange bleiben. Überall trifft er auf Verachtung, auf offene Gewalt gegen den Außenseiter. Aber Simon geht durch dieses schwere Leben wie ein Gerechter: voller Mitgefühl, Hilfsbereitschaft, Wärme und Zuwendung für die anderen. So trifft er eines Tages auf seine Mutter, die ihr Gefühl für den Wiedergefundenen missdeutet und seine Geliebte wird. Von der Erkenntnis der schrecklichen Wahrheit zur Verzweiflung getrieben, geht Simon ins Gebirge, wird zum Eremiten, dem es gegeben wird, Wunderheilungen zu vollbringen.
Verwurzelt in der Volksmusik des Balkans
Für ein Bühnenwerk aus dem Jahr 2015 ist es sicher eine überraschende Stoffwahl, die die Komponistin Isidora Žebeljan da getroffen hat. Sie bietet ihr aber Gelegenheit, eine große Stärke auszuspielen: das Talent zu beeindruckender Vielstimmigkeit. "Nahod Simon" ist eine Kreuzung zwischen Heiligenlegende, Road Movie und Psychodrama. Isidora Žebeljan (geboren 1967) hat Kompositionsaufträge von renommierten Orchestern wie der Academy of St. Martin in the Fields erhalten und von Festivals wie der Musikbiennale in Venedig. Sie ist vernetzt in einer globalen Szene der zeitgenössischen Musik, aber sie hat nie einen Hehl aus ihrer Verwurzelung der der Volksmusik ihrer Heimat gemacht.
Sie zitiert orthodoxe Kirchenmusik und Balkanfolklore. Eine fünfköpfige Banda mit Akkordeon, Kontrabass, Trommeln und Blasinstrumenten bringt dieses Element direkt auf die Bühne. Aber es ist nur ein Stilmittel neben vielen anderen, manchmal nur eine Art ironischer Kommentar. Žebeljan macht Anleihen bei der Filmmusik, wenn sie Geräusche wie Gewitter oder Hundegebell ganz naturalistisch einsetzt oder eine Riege von Bäckergesellen zu chaplinesken Stummfilmklängen auf die Rattenjagd schickt. Aber sie wagt auch sehr ausdrucksintensive, manchmal geradezu expressionistisch anmutende große Momente, etwa in der Tradition eines Leoš Janáček. Sie sind vor allem der Begegnung von Mutter und Sohn und der Erkenntnis der schrecklichen Wahrheit vorbehalten. Man erlebt echte große Oper bei Žebeljan und zugleich eine vielfältige Brechung von Stilen und Traditionen – beides mit unbestreitbarem kompositorischem Können umgesetzt.
Atmosphäre von Traum und Märchen
Die Inszenierung der Uraufführung von "Nahod Simon" in Gelsenkirchen lag in den Händen von Michiel Dijkema. Er hat klug darauf verzichtet, Balkanromantik zu produzieren. Er montiert die vielen kurzen Sequenzen des Stücks wie Filmbilder. Man sieht einen sparsam angedeuteten Raum: das Kloster vertreten nur durch drei goldene Kirchenkuppeln, die im Bühnenhimmel schweben; die Stationen von Simons Reise eher schäbig und arm als romantisch. Kostüme, Schminke und Frisuren überschreiten diesen minimalistischen Realismus, sie überhöhen die Figuren theatralisch, heben damit die ganze Geschichte in eine Traum- und Märchenatmosphäre. Die fünf Musiker der Balkan-Banda etwa bewegen sich durch das Stück wie surreale Erscheinungen, karnevalistisch-klischeehaft als Balkanmädchen mit Plisseeröcken, bestickten Schürzen und üppigen Blumenkränzen im Haar gewandet, aber alle fünf sind Männer. Das ergibt eine schlüssige Erzählweise, die die Brüche des Stücks aufnimmt. Der Preis für diese filmische Umsetzung mit vielen Schauplätzen ist, dass ziemlich laute Umbauten die komponierten Zwischenspiele leider sehr stören.
Aber das ist eigentlich der einzige Schwachpunkt dieses überzeugenden Abends im Musiktheater im Revier. Das große Ensemble mit Piotr Prochera und Gudrun Pelker in den Hauptrollen überzeugt musikalisch wie darstellerisch, die Neue Philharmonie Westfalen unter der Leitung von Valtteri Rauhalammi bringt die ganze Palette der Farben und Stimmungen dieser Partitur zum Klingen. Gegen Ende verliert das Stück etwas an Fokus und Kontur, aber "Nahod Simon" könnte das Musiktheater bereichern um eine Geschichte, die zugleich ein bewegendes Außenseiterdrama und eine fremdartige, durchaus märchenhafte Oper ist. Vielleicht würden sich dafür auch Zuschauer interessieren, die sonst ins Kino gehen oder ins Musical. Das Publikum in Gelsenkirchen bedankte sich mit viel Beifall.
Informationen des Musiktheaters im Revier zur Inszenierung von "Nahod Simon"