Muslime im Berlin der 1920er
Muslimisches Bürgertum trifft Lebensreform: Mitglieder der Deutsch-Moslemischen Gesellschaft auf einem Ausflug an den Wannsee. © Gerdien Jonker
Hungrig auf eine neue Zeit
15:44 Minuten
Die Geschichte des Islams in Deutschland setzt lange vor der Arbeitsmigration der 1960er-Jahre ein. In einer Berliner Moschee arbeiten um 1920 indische Muslime, jüdische Intellektuelle und spätere Nazis gemeinsam auf ein neues Deutschland hin.
Julia Ley: Gerdien Jonker ist Religionshistorikerin am Erlanger Zentrum für Islam und Recht in Europa und hat sich viel mit einem Teil deutscher Geschichte beschäftigt, von dem heute wahrscheinlich die meisten nichts oder sehr wenig wissen. Und zwar bildete sich im Berlin der 1920er- und 30er-Jahre ein Netzwerk von jüdischen und christlichen Intellektuellen, die enge Freundschaften zu indisch-muslimischen Migranten pflegten, sich für den Islam begeisterten, teilweise Muslime heirateten oder sogar selbst konvertierten.
Intensiver Austausch zwischen den Religionen
Über diese spannende Phase gelebter Interreligiosität und darüber, was passierte, als dann die Nazis an die Macht kamen, spreche ich jetzt mit Gerdien Jonker. Frau Jonker, viele fragen sich jetzt vielleicht: Juden und Muslime im Berlin der Weimarer Republik, was hat das alles mit mir zu tun, heute in Deutschland 2022? Ich würde deshalb gerne einmal ganz vorne anfangen, nämlich bei Ihnen. Wie sind Sie denn auf dieses Thema gestoßen? Und was hat Sie daran so sehr fasziniert, dass sie dem wirklich jahrelang nachgespürt haben?
Gerdien Jonker: Ich habe in den letzten 30 Jahren Muslime in Deutschland und in Europa erforscht. Immer haben wir die 1960er-Jahre als Ausgangspunkt genommen, nämlich als die türkischen und jugoslawischen Arbeitsmigranten kamen. Und irgendwann realisierte ich, dass das falsch war. Dass die Geschichte viel länger war und keine Arbeitsmigrationsgeschichte. Dass es Moscheen gegeben hatte und Gemeinden. Und dass der Zweite Weltkrieg da einen Bruch verursacht hatte, auch in unserer Wahrnehmung, und dass ich die aufarbeiten sollte.
Und das habe ich jemandem vorgetragen. Die sagte: Nein, niemals. Das gibt es nicht. Ich habe dann doch angefangen, vor zehn Jahren, indem ich mich der Moschee in Berlin-Wilmersdorf zuwandte, die da seit 1924 steht. Die wussten nicht so viel von ihrer Geschichte, aber sie ließen mich im Keller suchen, und da wurde ich sofort fündig. Später habe ich das ganze Moschee-Archiv gefunden: Hundert Jahre Gemeindeleben in Berlin, das befindet sich jetzt im Landesarchiv Berlin. Und in dem Moscheearchiv findet man die Spuren.
Muslimisches Leben nach dem Ersten Weltkrieg
Ley: Vielleicht können Sie uns da nochmal ein bisschen mitnehmen in die Vergangenheit. Es gab damals konkurrierende muslimische Organisationen in Berlin: Welche waren das? Wer hatte sie gegründet und warum?
Jonker: Es hatte gerade einen Krieg gegeben. Und der Erste Weltkrieg hatte sehr viele Muslime vor die Tore Berlins gespült, vor allem aus Russland, 18.000 Tataren, dazu Muslime aus Nordafrika, Indien, dem Mittleren Osten. Ein Teil davon blieb nach dem Krieg und stieß ein muslimisches Gemeindeleben an, das mal in eine politische Richtung ging, mal in eine religiöse Richtung, mal in eine künstlerische Richtung.
Und im Prinzip gab es in West-Berlin, in Wilmersdorf-Charlottenburg, vier große Organisationen. Davon war die Moschee eine. Das war die aufgeklärte, rationale, religiöse Richtung, die Wilmersdorfer Moschee. Es gab das Literaturhaus. Damals hieß es das Islam-Institut, in der Fasanenstraße, das war die politische Richtung. Da entwickelte sich ein Pan-Islamismus, der sich vor allem mit den Zionisten in Berlin auseinandersetzte. Es gab eine künstlerische Richtung der Sufi-Gemeinde Inayat Khan. Da wurde Musik gemacht und religiöses Erleben.
Ley: Sufis sind islamische Mystiker, sollte man vielleicht erwähnen …
Jonker: Mystiker, aber auch islamische Künstler und Inayat Khan war ein begnadeter Musiker. Und dann gab es eine politische Richtung aus Indien, oben am Halensee, wo Muslime und Hindus zusammenarbeiteten, um einen säkularen indischen Staat zu gründen.
Aufbruch einer jungen Generation
Bei all diesen Organisationen waren Deutsche willkommen, um mitzumachen. Und das machten sie gerne. Und das war vor allem die junge Generation, um 1900 geboren, die hungrig war auf was Neues. Es waren Lebensreformer. Sie wollten ihr eigenes Leben in die Hand nehmen, individuell gestalten, künstlerisch, im Heiratsmuster und eben auch in der Religion.
Ley: Kann man denn sagen, wie groß die muslimische Gemeinde damals war und vielleicht auch die deutschen Konvertiten, die sich dafür interessierten?
Jonker: Ja, gezählt haben wir viel. 300 dort, 500 da, 70 hier. Auch der Imam hat gezählt: ein fester Bestand von 200, dann 300, dann 500 Konvertiten und an die, wie er es nannte, 1500 „Freunde des Islams“. Das waren Deutsche, die sich nicht bekannten, aber sympathisierten.
Und da die Philosophie war: Man muss kein Moslem werden, um einer zu sein, man braucht sich nicht dazu zu bekennen – im Grunde genommen sind alle erleuchteten, rationalen, aufgeklärten, global denkenden Menschen schon Moslems –, fühlten alle sich wohl bei dieser Benennung. Es war eine Art Eingemeindung, ohne dass da zu sehr festgelegt wurde: Jetzt musst du dies machen oder das sein.
Indische Aristokraten und jüdische Intellektuelle
Ley: Sie haben jetzt schon den Blick ein bisschen gewandt auf eine dieser vier Institutionen, die Sie erwähnt haben, nämlich die Moschee der Ahmadiyya-Gemeinde. Und diese Moschee zog in den folgenden Jahren, also in den späten 20er- und frühen 30er-Jahren, ein Mischmasch sehr interessanter Persönlichkeiten an.
Ich habe mal versucht, das für mich grob zu ordnen und bin auf drei Gruppen gekommen. Zum einen, scheint es mir, waren es eben die aristokratischen indischen Migranten, die Sie angesprochen haben. Dann gab es auch einige preußische Militärs und Intellektuelle, die darunter waren. Und dann eben auch eine ganze Reihe jüdischer preußischer Intellektueller, die vielleicht auch in den letzten Jahren konvertiert waren, zum Christentum nämlich. Was verband denn all diese ganz unterschiedlichen Gruppen miteinander?
Jonker: Eigentlich nichts. Später sind sie auch vollkommen auseinandergegangen, als die Zeit fortschritt und der Krieg immer näher kam. Aber in dieser Zeit hatten alle eine gemeinsame Utopie. Man versuchte, über das eigene Nest hinauszugucken, die Welt größer zu sehen als Deutschland.
Nackt baden und spazieren im Mondschein
Die meisten verband ein Hass auf den Militarismus. Deutschland war ein durch und durch militarisiertes Land. Diese junge Generation, Leute von 22, 23 Jahren, die wollten einfach aus diesem Korsett raus. Die Frauen wollten ihr Korsett ablegen und die Männer wollten auch mal homosexuell sein und es sagen dürfen. Und sie wollten anders essen, sie wollten auf dem Boden leben, weil das natürlicher war, und sie wollten nackt baden und im Mondschein spazieren gehen.
Ley: Eine der Familien, um die es in einem Ihrer Bücher geht, ist die Familie Oettinger. Und das ist eine ganz interessante Familie, die sich irgendwie zwischen allen drei Religionen und manchmal auch keiner Religion bewegt: zwischen Christentum, Judentum und Islam. Und die eben auch im Umfeld dieser Moschee eine wichtige Rolle spielte. Vielleicht können Sie uns diese Familie, oder die entscheidenden Personen zu dieser Zeit, einmal kurz skizzieren?
Jonker: Die Oettingers waren preußische Juden. Sie kamen aus Westpreußen, aus der Verwaltungsstadt Marienwerder. Dort waren sie Handwerker. Sie hatten eine Klöppel-Manufaktur, es ging um Spitzen. Später tauchten die Koffer nach dem Krieg auf, die Koffer voller Spitzen.
Und der Sohn, der diesem Milieu entflüchtete, Louis, ging nach Berlin. Er wollte keine Spitzen mehr, er wollte Art-déco-Glas. Die Enkelinnen – wir müssen diesen Sprung mal kurz machen – die Enkelinnen Lisa und Susanna, kurz nach 1900 geboren, gehörten zu dieser Generation, die machen durften, was sie wollten.
Eine deutsch-muslimische Wandergruppe
Ley: Und die beiden sind recht früh schon mit der Moschee in Kontakt gekommen.
Jonker: Ja, ihre Mutter war Mitbegründerin der Deutsch-Moslemischen Gesellschaft: Emilia, eine Opernsängerin, eine Schubert-Interpretin. Und Mutter Oettinger begegnete dem Imam, damals ein junger Mann, Scheich Abdullah. Sie befreundeten sich, die Töchter freundeten sich auch an, die waren da noch recht jung, 17 und 20, und sie gehörten zum Kern der Gemeinde.
Sie sorgten für die Themen-Tage, und Mutter Oettinger organisierte auch die Wandergruppe. Und die Töchter fanden interessante indische Männer. Sie experimentierten.
Ley: Also auch das war kein Tabu, tatsächlich auch ausländische, indische, muslimische Männer zu heiraten?
Jonker: Nein. Das einzige Kind, das dabei rumkam, Anisa, 1933 geboren, war ein uneheliches Kind. Man zog es mit durch. Anisa hatte richtig Pech. Das war nun eine Generation, die nicht mehr alle Freiheiten hatte. Sie hatte einen großen, dunklen Lockenkopf, dunkle Augen – ob das nun indisch war oder jüdisch –, alle Leute drehten den Kopf nach ihr um.
Auf der Suche nach neuen Lebensformen
Ley: Ich würde gerne gleich auf die Machtergreifung der Nazis und das, was danach kam, zu sprechen kommen. Aber vorher habe ich noch eine Frage, und zwar haben wir heute so ein Bild von Muslimen und Musliminnen im Kopf, dass die Frauen Kopftuch tragen, die Männer haben einen langen Bart, es wird viel Tee getrunken, fünfmal am Tag gebetet und im Ramadan gefastet.
So in etwa ist, sage ich mal, das sehr holzschnittartige Klischee. Sahen diese Muslime und Musliminnen damals so aus, wie man sich das heute vorstellt?
Jonker: Absolut nicht. Die Muslime, die hier zum Studieren herkamen, das war die Elite. Das war das Bürgertum, weswegen es auch so gut klappte in der Begegnung mit den Lebensreformern. Es waren alles junge Leute, die sich eine andere Zukunft wünschten. Hungrig waren sie.
Hier ist das Foto der Gründungsmitglieder der Deutsch-Moslemischen Gesellschaft 1933. Da sieht man Emilia mit Hütchen, Hugo Marcus, den Vordenker der Moschee, seines Zeichens aktiv in der Homosexuellenbewegung.
Streit über Schuhe in der liberalen Moschee
Ley: Aber was auffällt: Die Frauen sehen eigentlich genauso aus, wie man so es auch kennt von den Bildern Berlins in den 1920er-Jahren: mit Pagenschnitt teilweise, und Hütchen, sehr elegant, modern. Gab es denn auch Muslime in Berlin, die das kritisch sahen?
Jonker: Aber wie. Vor allem im Islam-Institut, dem heutigen Literaturhaus.
Ley: Das vertrat die etwas konservativere Richtung?
Jonker: Der Pan-Islamismus bestand auf Orthodoxie. Und die Freiheit, die da in dieser Moschee herrschte – zum Beispiel: Wenn sie miteinander sprachen, dann kamen Stühle in die Moschee, und die Leute kamen mit ihren Schuhen rein. Man sieht es auch auf den Fotos.
Der Imam sagte: Das ist zwar nicht üblich, und wir müssen hinterher saubermachen, aber Hauptsache wir sehen uns und wir reden miteinander. Das ist wichtiger. – Darüber wurde gegiftet in der arabischen und auch in der indischen Presse.
Ley: Darüber reden wir gleich noch. Ich würde gern noch eine Frage vorher stellen: Und zwar ist es interessant, dass ja viele der Familien, auch die Oettingers zum Beispiel, eben einen jüdischen Hintergrund haben. Und das überrascht eigentlich ein wenig, denn man könnte doch annehmen, dass die damals sehr bemüht waren, so deutsch wie irgend möglich aufzutreten in der Öffentlichkeit.
Jonker: Ja, so hieß es auch: „Das einzige, was wir sein wollen, ist deutsch.“ Aber zum Deutsch-Sein gehörte für diese junge Generation: sich freimachen, die Individualisierung der Lebensreform, sich dieses Militarismus entledigen.
Experimente einer intellektuellen Oberschicht
Natürlich gab es einen sehr, sehr großen, viel größeren Teil der deutschen Bevölkerung, der eben den Militarismus wieder umarmte. Aber es gab auch diesen Teil. Das ist vor allem die intellektuelle Oberschicht gewesen, die experimentierte. Und obwohl die jüdische Bevölkerung verschwindend klein war in der deutschen Bevölkerung, waren sie überproportional hier vertreten.
Ley: Was passierte dann, als 1933 die Nazis an die Macht kamen in Deutschland?
Jonker: Der Imam versuchte, neutral zu bleiben, soweit das ging. Ein muslimisches, säkulares Gemeindeleben hochzuhalten. Das Wort „säkular“ muss hier einmal fallen. Für sie war das die Trennung zwischen Politik und Religion und die Ausgestaltung des eigenen Lebens nach eigenem Gutdünken und ein paar Regeln aus der islamischen Tradition, die nützlichen.
Und sie sind auch von der Gestapo heimgesucht worden. Es gab viele Hausdurchsuchungen. Alle Juden, die dann noch in der Gemeinde waren, sind wahnsinnig unter Druck gesetzt worden. Irgendwann ist Hugo Marcus, der Präsident, ins Konzentrationslager gekommen. Er konnte ausgekauft werden.
Ambivalente Haltung im Nationalsozialismus
All diese Väter konnten ausgekauft werden. Die Familien konnten das machen, wenn sie Ausreisetickets für die ganze Familie hatten, und Visa und Geld. Nun hatte er keine Familie, Hugo. Wer ist gekommen? Der Imam ist gekommen – mit Visa für Indien und Albanien und Geld aus der Gemeinde. Es hat zwei Monate gedauert, bevor sie alles zusammenhatten. Sie haben ihn ausgekauft, er ist nicht gegangen.
Ley: Aber, ich glaube, man muss es der Fairness halber auch sagen: Es gab auch die in der Moscheegemeinde, die mit den Nazis sympathisierten und auch diese Ideologie unterstützten. Und die dominierten dann irgendwann auch das Gemeindeleben.
Jonker: Ich habe das beschrieben, klar, vor allem die älteren Wissenschaftler, die Orientalisten, Iranisten, Turkologen. Die hielten da auch Vorträge und hatten diese verquere Auffassung, der dann auch vom Nazi-Regime gehuldigt wurde: Islam, das ist eine militärische Religion, Dschihad – wo die Muslime sie anguckten und nur mit dem Kopf schüttelten.
Bürgerliche Hochzeit und muslimische Totenruhe
Ley: Was ist denn heute von alldem geblieben?
Jonker: Es gibt den säkularen Islam, da wird zu wenig drüber geredet. Die Leute sagen: Natürlich bin ich ein Moslem, ich bin ein Kultur-Moslem und ich esse kein Schweinefleisch und ich trinke wenn's geht auch keinen Wein, aber komm mir nicht mit diesen Regeln.
Das sind Menschen, die eventuell bürgerlich heiraten, nicht muslimisch, aber sterben schon. Wenn es ans Sterben geht, sagen sie: Nee, lieber in geweihte Erde, und die liegen auch auf dem islamischen Friedhof. Und darin sind sie wenig anders als viele Christen.
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