Konservativer Islam gegen den Werteverfall
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Die Ahmadiyya sind eine der muslimischen Gemeinschaften in Deutschland . Ihr Kalif Mirza Masroor Ahmad erklärt im Gespräch, wieso er moralische Werte bedroht sieht, und warum den Ahmadiyya-Gemeinden Geschlechtertrennung wichtig ist.
Anne Françoise Weber: Vor Kurzem war in Berlin ein Würdenträger zu Besuch, der sich als "der islamische Kalif" bezeichnet. Allerdings vertritt er eine bestimmte Strömung des Islam, die von den meisten anderen Muslimen nicht anerkannt wird – die Ahmadiyya. Ihr Name geht auf den Religionsgründer Mirza Ghulam Ahmad zurück. Er lebte Ende des 19. Jahrhunderts in Nordindien und sah sich in der Nachfolge Mohammeds als Prophet und als der verheißene Messias. Seine Nachfolger nennen sich Kalifen.
Seit 2003 hat dieses Amt Mirza Masroor Ahmad inne, ein Urenkel des Gründers. Er wuchs in Pakistan auf, lebt seit seinem Amtsantritt in London und wirbt weltweit um die Anerkennung seines Zweigs der Ahmadiyya, also der Ahmadiyya Muslim Jamaat, wie sie offiziell heißt. Weltweit sollen der Gemeinschaft mehrere Zehnmillionen Gläubige angehören, in Deutschland zwischen 30.000 und 50.000.
Wertkonservative Reformmuslime
Die Ahmaddiyya bezeichnen sich als Reformmuslime, ihr Motto lautet: "Liebe für alle, Hass für keinen". Sie betonen hierzulande ihre Loyalität zu Deutschland und gelten der Politik als verlässliche und offene Ansprechpartner. In den Bundesländern Hessen und Hamburg sind sie als erste islamische Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt. Damit haben sie einen Status, der weit über ihren geringen Anteil von geschätzt etwa zwei Prozent der muslimischen Bevölkerung in Deutschland hinausgeht.
Gleichzeitig zeichnen sich die Ahmadiyya durch große Missionsbestrebungen aus. Sie sehen sich selbst als wertkonservativ, von Außenstehenden werden sie aber bisweilen auch als religiös fundamentalistisch bezeichnet, besonders wegen der in ihrer Gemeinschaft gelebten Geschlechterrollen. Da lohnt es sich doch, einmal das Oberhaupt selbst zu befragen.
Atheismus als Gefahr
Ende Oktober hielt der Kalif Mirza Masroor Ahmad vor Bundestagsabgeordneten und Vertretern der Zivilgesellschaft in Berlin eine Rede zum Thema "Islam und Europa". Bei diesem Besuch konnte ich den 69-jährigen mit dem weißen Turban für ein kurzes Interview treffen. Meine erste Frage zielte auf einen Kernpunkt seiner Berliner Rede.
Weber: Sie haben gesagt, der rasche Anstieg des Atheismus sei eine weitaus größere Bedrohung für Europa als der Islam. Und Sie haben Ihre Zuhörer aufgefordert, Menschen zurück zum Glauben zu bringen, sei es nun der Islam, das Judentum, das Christentum oder eine andere Religion. Warum sehen Sie moralische Werte bedroht, wenn Menschen nicht mehr religiös sind?
Mirza Masroor Ahmad: Alle religiösen Schriften, die Bibel und der Koran, erwähnen moralische Werte. Diese werden heute nicht mehr bewahrt. Zum Beispiel werden Eltern nicht mehr so respektiert wie früher oder wie es uns die Lehren sagen – und vieles mehr wird nicht richtig verehrt. Für die Details ist hier keine Zeit. Aber wie Sie selbst feststellen können, gibt es einige moralische Werte in den religiösen Schriften.
Man kann täglich in der Zeitung lesen, dass Kinder sagen, ihre Eltern würden sie schlecht behandeln, während Eltern einen anderen Standpunkt haben. Sie beginnen nun zu sagen, dass Kinder nicht so viel Freiheit haben sollten. Deswegen sage ich, dass moralische Werte nicht so respektiert werden, wie in den heiligen Schriften verlangt.
Die Religionsfreiheit ermöglicht es, den Glauben zu verbreiten
Weber: In Ihrer Rede haben Sie die Notwendigkeit der Religionsfreiheit sehr betont und über die Verse im Koran gesprochen, die zur Toleranz aufrufen. Nun ist in manchen muslimisch geprägten Ländern die Toleranz gegenüber Minderheiten nicht so groß - diese Erfahrung machen Sie ja auch als Ahmadiyya. Gibt die in Europa verbriefte Religionsfreiheit Ihrer Gemeinschaft die Möglichkeit, weiter zu wachsen?
Ahmad: Hier wenigstens haben Sie einen positiven Punkt - Sie haben Religionsfreiheit und Meinungsfreiheit. Was immer man glaubt, kann man bekennen, ausdrücken und praktizieren. In manchen muslimischen Ländern wird dieses Recht verwehrt. Der Koran sagt: Es gibt keinen Zwang in der Religion. Daran glauben wir auch.
Gleichzeitig gilt: Wir predigen und bekennen, was wir glauben, und wenn die Botschaft gut ist, dann mögen es die Menschen auch. Dann hoffe ich, dass die Menschen hier mit ihrem hohen Bildungsniveau merken, dass die islamischen Lehren gut für ihr spirituelles Vorankommen und ihre Rückkehr zur Religion sind. Deswegen hoffen wir, dass der Islam sich hier ausbreiten wird - vorausgesetzt, Menschen interessieren sich für Religion.
Bireligiöse Ehen könnten Probleme bringen
Weber: Soweit ich weiß, dürfen Ahmadiyya-Muslime nicht außerhalb ihrer Gemeinschaft heiraten. Wie passt das mit der Religionsfreiheit zusammen? Gibt es da keine Wahlfreiheit?
Ahmad: Das stimmt nicht ganz. Sehen Sie, Mädchen werden manchmal von Männern beeinflusst. Deswegen sagen wir: Wenn ein Ahmadiyya-Mädchen außerhalb der Gemeinschaft heiratet, können äußere Einflüsse oder der Mann sie und ihre Kinder beeinflussen. Außerdem haben wir die Erfahrung gemacht, dass bei unterschiedlicher Religionszugehörigkeit in der Ehe nach einer gewissen Zeit eine Kluft entsteht und das Probleme im Haushalt mit sich bringt.
Aber es gibt einige Mädchen, die mich um Erlaubnis bitten, außerhalb der Gemeinschaft zu heiraten, und ich gestatte es ihnen. Und es gibt eine beträchtliche Zahl Ahmadi-Männer, die christliche Frauen oder Frauen anderer Religionszugehörigkeit geheiratet haben. Aber wir denken, dass ein gläubiger Muslim eine Person heiraten sollte, die an einen Gott glaubt und keine Götzen verehrt.
Frauen sind für das Haus zuständig
Weber: Ich habe gelesen, dass der erste Ort für Ahmadiyya-Frauen das Heim ist. Ist das Ihre Lehre, oder ist es ein Vorurteil?
Ahmad: Der Islam hat die Pflichten verteilt. Männer sollten Geld verdienen und den Haushalt finanzieren, und Frauen sich um das Heim und die Erziehung der Kinder kümmern. Gleichzeitig verweigern wir Frauen nicht das Recht, Bildung zu erlangen. Es gibt Frauen, die Ingenieurinnen sind, Ärztinnen, Rechtsanwältinnen, Lehrerinnen oder so etwas.
Sie gehen nach draußen und machen ihre Arbeit. Aber wenn sie nach Hause kommen, müssen sie sich um den Haushalt kümmern. Das ist die Arbeitsteilung: Männer draußen, Frauen drinnen. Wenn eine Frau die Fähigkeiten hat, kann sie außer Haus arbeiten, aber sie muss auch ihren häuslichen Pflichten nachkommen. Das heißt nicht, dass Frauen nicht nach draußen gehen dürfen. Wir haben eine sehr aktive Frauenorganisation. Bei unseren großen Versammlungen organisieren die Frauen viel, sie sind sehr aktiv in unseren Gemeinden. Sie haben ihre getrennten Treffen.
Männer könnten Frauen in den Schatten stellen
Weber: Aber warum getrennt? Das fragen sich viele Menschen in Deutschland.
Ahmad: Weil wir glauben, dass Frauen besser blühen können, wenn sie nicht im Schatten von Männern stehen. Wenn sie allein sind, können sie frei wachsen. Wenn man eine Blume in den Schatten eines Baumes pflanzt, kann sie nicht wachsen. Wir glauben, dass Frauen besser wachsen können, wenn sie in einem offenen Feld stehen und nicht im Schatten eines Mannes.
Aber zugleich haben sie die gleichen Rechte wie Männer, das Recht sich scheiden zu lassen, zu erben und so weiter. Frauen haben Rechte, die noch vor ein paar Jahrzehnten hier im Westen den Frauen verwehrt wurden. Wenn Sie jetzt diese Rechte hier haben, können Sie sich nicht als Pioniere aufführen – es war der Islam, der den Frauen zuerst diese Rechte gegeben hat.
Die Frau erbt weniger, aber nur für sich
Weber: Aber nach islamischem Recht erben Frauen nur die Hälfte dessen, was Männer erben.
Ahmad: Ja, dahinter steht eine Logik: Wie ich Ihnen vorhin gesagt habe, ist der Mann der Verdiener. Er ist verantwortlich für den Haushalt, nicht die Frau. Was sie verdient, ist für sie, sie muss es nicht für Haushalt, Mann oder Kinder ausgeben, sondern die Männer müssen Kinder und Haushalt versorgen. Was der Mann verdient, davon muss er einen Teil für seine Frau und die Kinder ausgeben - das ist die Logik dahinter.
Weber: 1989, zum 100. Geburtstag der Ahmadiyya-Gemeinschaft, kündigte Ihr Vorgänger an, 100 Moscheen in Deutschland zu bauen. Gilt das immer noch, zählen Sie jetzt die Moscheen hierzulande?
Ahmad: Das war die ursprüngliche Vorgabe für die deutsche Ahmadiyya-Gemeinde. Das heißt nicht, dass sie nach der 100. Moschee aufhören sollten. Wir sollten auch dann weiter hier in Deutschland Moscheen bauen. Aber bisher ist das Ziel noch nicht erreicht, deswegen konzentrieren wir uns jetzt darauf. Danach werde ich, oder wer immer mein Nachfolger ist, ein neues Ziel ausgeben.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.