Muslimische Einwanderung

Was Moscheearchive über deutsche Geschichte erzählen

11:55 Minuten
Türkische Männer und Kinder stehen vor dem Freitagsgebet vor einer Moschee, in Essen 1983.
Vor dem Freitagsgebet einer Moschee in Essen 1983. Dokumente aus Moscheearchiven geben Einblick in die Lebenswelt muslimischer Einwanderer, sagt Religionswissenschaftler Ertuğrul Şahin. © Imago / Jochen Eckel
Ertuğrul Şahin im Gespräch mit Julia Ley |
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Seit etwa 100 Jahren gibt es Moscheen in Deutschland. Ihre Archive sind Zeugnisse der muslimischen Einwanderung. Der Religionswissenschaftler Ertuğrul Şahin fordert deshalb, sie als Kulturgüter zu schützen.
Julia Ley: Religiöse Bauwerke können Mahnmale sein, die an eine Geschichte der Vertreibung erinnern und diese lebendig halten. Sie können aber auch das genaue Gegenteil sein, nämlich Orte, die Geschichten über das Ankommen erzählen. Und über solche Orte, konkret über Moscheen in Deutschland, spreche ich jetzt mit Ertuğrul Şahin.
Er forscht als Religionswissenschaftler am Heidelberg Center for Cultural Heritage, also dem Zentrum für Kulturerbe an der Universität Heidelberg. Und er befasst sich dort unter anderem mit Moscheearchiven und der Frage, was sie uns über unsere Geschichte in Deutschland zu sagen haben.

Eine Geschichte von mindestens einem Jahrhundert

Herr Şahin, gehören Moscheen inzwischen zum deutschen Kulturgut?
Şahin: Meine Forschung ist in der Tat mit der Idee verbunden – und auch zugleich die Forderung, dass Moscheen nunmehr zum deutschen Kulturgut gezählt werden können und müssen.
Hierfür lassen sich mehrere Argumente nennen: Allein die Tatsache, dass diese Moscheen als Gebetsstätten eines Teils der deutschen Bevölkerung entstanden sind, müsste nach meinem Dafürhalten ausreichen, sie als deutsches Kulturgut zu betrachten.
Ich bin mir aber dessen bewusst, dass viele Menschen dieses Argument als zu kurz gegriffen betrachten werden. Insofern lässt sich noch hinzufügen: Die Geschichte der Muslime und ihrer Moscheen in Deutschland ist viel länger als die Migrationsgeschichte der sogenannten Gastarbeiter. Die ersten muslimischen Gemeinden und ihre funktionalen Moscheen sind zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden. Es ist also eine Geschichte von mindestens einem Jahrhundert.

Einblick in muslimische Lebenswelten

Ley: Also eine wirklich schon sehr lange Geschichte, auf die Sie da zurückblicken. Sie haben es ja gerade schon angesprochen. Nicht jeder wird es so sehen wie Sie. Und ich kann mir vorstellen, dass es auch viele Menschen gibt, die diese Feststellung – „Moscheen, das ist deutsches Kulturgut“ – erst mal ein bisschen provokant finden. Was würden Sie denn solchen Menschen entgegnen?
Şahin: Ja, es ist richtig, dass viele Menschen mit dieser Aussage vielleicht nicht so ganz einverstanden sind. Ich will aber hierfür etwas Fundamentales sagen: Was für ein Land ersehnen sich die Menschen?
Wünschen Sie sich ein Land, das sich modern, fortschrittlich, aufgeklärt, pluralistisch, tolerant und auch menschenrechtsfreundlich gibt? Dann müssten sie im Namen dieser Werte, gerade dieser Werte, bereit sein, die religiösen und kulturellen Minderheiten als Bestandteil dieses Landes anzusehen.

Werden die Muslime dieses Landes und ihre Religion für nicht dazugehörig erklärt, ist es eindeutig ein Verrat an den Errungenschaften der europäischen Moderne und an unserer Verfassung.

Ertuğrul Şahin, Religionswissenschaftler

Ley: Trotzdem noch mal zurück zu ihrer Forderung: Sie setzen sich ja dafür ein, dass Moscheearchive bewahrt und auch ausgewertet werden sollen, unter anderem von Forschern und Forscherinnen wie Ihnen. Warum genau sind diese Archive denn so wichtig? Was können wir daraus lernen?
Şahin: Die Moscheearchive beinhalten das Geschichtsgedächtnis der 100-jährigen muslimischen Präsenz in Deutschland – und der massenhaften muslimischen Einwanderung ab den 1960er-Jahren. Im Konkreten ermöglichen die Archive uns einen tieferen Einblick in Lebenswelten, in das Gemeindeleben, in die Alltagsrealität, in die individuelle und kollektive Religiosität, in die Religionspraxis, in das Selbstverständnis der Moscheegemeinden, in religiöse und weltanschauliche Gesinnungen, in die Institutionalisierungsprozesse und Selbstorganisation dieser Gemeinden und Gemeinschaften.

Nur wenige ordentliche Sammlungen

Ley: Wenn ich das mal so zusammenfassen darf: Quasi das muslimische Leben und wie es sich entwickelt hat in Deutschland, aber natürlich auch das Zusammenleben mit Nicht-Muslimen lässt sich da herauslesen. Wie ist denn heute der Status quo bei den Archiven: Kann man sagen, wie viele solcher Moscheearchive es in Deutschland gibt?
Şahin: In der Forschung geht man von institutionalisierten und strukturierten Sammlungen, von materiellen und immateriellen Gütern aus. In den meisten Fällen der Moscheearchive handelt es sich nicht um die strukturierten und institutionalisierten Sammlungen. Nur ganz wenige Moscheen können behaupten, dass sie ordentliche Sammlungen haben.
Wenn wir aber von archivierbaren Materialien ausgehen, die irgendwo lagern, die sortiert werden und strukturiert verwaltet werden müssten, dann haben fast alle Moscheen solche Bestände – vor allem Bestände von Akten, Dokumenten und Urkunden, die als Informationsquelle enorm wichtig sind.
Der Religionswissenschaftler Ertuğrul Şahin im grauen Sakko vor einer Bücherwand.
Der Religionswissenschaftler Ertuğrul Şahin sagt, fast alle Moscheen hätten archivierbare und wertvolle Bestände von Akten, Dokumenten und Urkunden. © privat
Ley: Sie haben sich ja viele solcher Moscheearchive angeschaut: Wie muss man sich die denn vorstellen? Also wo sind die in den Moscheen? Wie sieht es dort aus? Wie riecht es da? Wer verwaltet die?
Şahin: Vor 15, 20 Jahren hatte ich persönlich den Auftrag, geordnete Strukturen in Büros von Moscheevereinen zu schaffen. Ich konnte damals beobachten, welche Teile der Materialien aufbewahrt und einigermaßen sortiert sind und andere nicht. Die jüngere Generation in den Vorständen arbeitet jetzt etwas professioneller und kann Strukturen und Ordnung schaffen. Aber die alten Materialien der 1960er-, 70er-, 80er- und 90er-Jahre, die einen echten Archivblatt aufweisen, sind in Kisten, in Kellerräumen gelagert, sogar in Privathäusern der damaligen Vorstände, wenn sie uns nicht abhandengekommen sind. Und ich weiß, dass viele wertvolle Bestände aus unterschiedlichen Gründen leider nicht mehr verfügbar sind.
Wenn man solche Bestände in Kisten und Kellerräumen findet, riechen sie natürlich nach altem Papier, nach Staub, manchmal muffig und nach Schimmel. Dieser Geruch ist aber für die interessierten Forscher und Forscherinnen etwas Angenehmes, Schönes.

Mentalitätswechsel über drei Generationen

Ley: Man stellt sich das jetzt relativ chaotisch vor und trotzdem haben Sie es ja in Ihrer Forschung geschafft, zumindest in Bezug auf die türkischstämmigen Moscheegemeinden in Deutschland, daraus so eine Art Struktur herauszulesen, nämlich einen Prozess, wie sich dieses Ankommen von türkischstämmigen Muslimen in Deutschland gestaltet hat. Können Sie uns vielleicht einen kurzen Überblick geben? Was für verschiedene Phasen gab es da?
Şahin: Bei der ersten Generation sind wir bei einer Tradition der Mündlichkeit. Diese erste Generation hatte kaum Schreibfähigkeiten, keine Deutschkenntnisse. Türkisch war die Gemeindesprache. Diese Generation war weitgehend auf Hilfe und Unterstützung angewiesen. Sie hatte noch keine Archivkultur, deshalb konnte sie eben keine Struktur schaffen.
Aber jetzt, über die Jahrzehnte hinweg, haben die Moscheegemeinden sich geöffnet. Innerhalb der Muslime ist eine Öffnung zu beobachten, aber auch eine Öffnung in die Gesellschaft hinein. Die Sprache ändert sich und hat sich geändert. Die türkische Sprache war die eigentliche Verwaltungssprache, aber auch die Alltagssprache. Und diese Sprache ist Deutsch geworden. Die dritte und vierte Generation spricht deutlich mehr und besser Deutsch als Türkisch. Sie ist in der Mentalität drin.
Und diese Generation ist natürlich wie die anderen Jugendlichen in unserer Gesellschaft sehr effektiv in den elektronischen Medien, in digitalen Medien. Und dadurch ändert sich natürlich sehr vieles und es ähnelt dem, was man in Deutschland sieht und findet.

Auch Beispiele für Radikalisierung finden sich

Ley: Wenn in Deutschland in den letzten Jahren über Moscheen diskutiert wurde, dann geschah das ja sehr häufig, zumindest in den Medien, unter dem Stichwort Radikalisierung. Die Sorge ist häufig, dass in Moscheen demokratiefeindliche, vielleicht auch antisemitische oder homophobe Inhalte gepredigt werden. Stimmt diese Außenwahrnehmung von Moscheen denn mit dem, was Sie in den Archiven gefunden haben, überein? Also lässt sich das dort irgendwie ablesen, dass das tatsächlich so ist?
Şahin: Die äußere und innere Wahrnehmung sind schon etwas unterschiedlich. Das kann man mit großer Wahrscheinlichkeit sagen. Aber für einen Forscher gibt es natürlich diese Radikalisierungstendenzen, die sich an Archivbeständen ablesen lassen. An vielen Arten von Dokumenten wie, Sitzungsprotokollen zum Beispiel, an interreligiösen Dialogunternehmungen und Veranstaltungen, die in unterschiedlicher Art dokumentiert sind. Solche Tendenzen kann man aber auch an den Büchern, Zeitungen, Broschüren, Magazinen ablesen, die man in Moscheearchiven findet.
Ley: Können Sie da mal ein konkretes Beispiel nennen?
Şahin: Wir hatten ja die große Diskussion in den 1990er-Jahren über die Kaplan-Gemeinde zum Beispiel. Und die Broschüren, die Magazine von der Kaplan Gemeinde waren eindeutig.
Ley: Also eine türkeistämmige Gemeinde, die sich dann als Kalifat erklärt hat. In Deutschland war das.
Şahin: Genau. Und vor allem, das sollte ich vielleicht noch hinzufügen, dass man solche Tendenzen der Radikalisierung am besten an gehaltenen Predigten ablesen kann. Nur: Das Problem besteht natürlich darin, dass wir ausgehend von wenigen Beispielen leider etwas auf die ganze Moscheelandschaft als solche verallgemeinern, mit diesen homophoben, antisemitischen Gesinnungen. Das ist natürlich ein großes Problem.

Professionelle Hilfe bei Archivierung gewünscht

Ley: Lassen Sie uns doch zum Schluss noch einmal kurz in die Zukunft blicken. Sie setzen sich ja dafür ein, dass solche Moscheearchive geschützt und auch ausgewertet werden. Was bräuchte es denn aus ihrer Sicht, damit das in Zukunft auch ausreichend passieren kann?
Şahin: Ich glaube, es braucht zunächst einmal eine gewisse Entwicklung der Archivkultur, die da nicht so ganz vorhanden ist. Eine Hilfestellung in den Archivierungsarbeiten und dafür vielleicht eine gewisse Ausbildung von Fachleuten wäre nicht schlecht. Es wäre schön, wenn auch die akademische Forschung sich an dieser Arbeit beteiligen könnte. Es wäre schön, wenn vor allem die Zentralen der Dachverbände in Köln sich des Themas annehmen und durch eine professionelle Hilfe solche Strukturen schaffen könnten, die dann bis zur letzten Moschee in einem Dorf eindringt. Dass eben die Vorstände schon in gewisser Hinsicht geschult werden, wie sie ihre Materialien dokumentieren, archivieren, sammeln und so weiter.
Ley: Das sagt Şahin. Er ist Projektwissenschaftler am Heidelberg Center for Culture und sein Aufsatz über Moschee Archive, die türkische Einwanderer angelegt haben, erscheint demnächst auf Englisch im Journal of Moslems in Europa. Ganz herzlichen Dank für das Gespräch.

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