Beistand hinter Gittern
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Seelsorge für muslimische Gefangene soll Straftäter auf die Zeit nach der Haft vorbereiten und das Risiko senken, dass sie weitere Taten begehen. Niedersachsen bildet professionelle Begleiter aus, kombiniert mit einem Forschungsprojekt.
Mitte Februar 2020. Das Osnabrücker Institut für Islamische Theologie und das Niedersächsische Justizministerium starten offiziell ein gemeinsames Forschungsprojekt, um die muslimische Gefängnisseelsorge landesweit zu professionalisieren. Für Esnaf Begić ein ganz besonderer Tag.
Man habe Pionierarbeit geleistet mit diesem einjährigen Pilotprojekt, sagt der Theologe vom Osnabrücker Islaminstitut ein Jahr später. Nicht nur, weil es Theorie und Praxis verbinde.
"Mir ist bekannt, dass es in anderen Bundesländern einzelne Personen gibt, die als Gefängnisseelsorger eingestellt worden sind, in Hessen, Rheinland-Pfalz, Bayern", sagt Begić. "Hier in Niedersachsen geht es um etwas ganz anderes: dass man versucht hat, von Grund auf diese Seelsorge den gültigen Standards, wie sie auch bei den Kirchen vorhanden sind, entsprechend anzupassen und auch theoretisch zu erarbeiten."
Orientierung an den Erfahrungen christlicher Seelsorge
Denn muslimische Gefängnisseelsorger und -seelsorgerinnen sollen später einmal auf Augenhöhe mit ihren christlichen Kollegen arbeiten können. Knapp 1000 Muslime sind unter den rund 4400 Inhaftierten in Niedersachsen. Bisher kümmern sich elf muslimische Seelsorger auf Honorarbasis und zehn ehrenamtliche Seelsorgehelfer um die Gefangenen.
Begić erklärt: "Professionalisierung bedeutet im Bereich der Ausbildung: Wie bilden wir überhaupt aus? Mit wem tun wir das? Ich bin der Meinung, dass wir das ohne Rückgriff auf die Ausbildungserfahrungen der christlichen Kirchen nicht machen können und auch nicht machen sollen."
Vier junge muslimische Theologen haben sich im Laufe des Jahres wissenschaftlich mit dem Thema auseinandergesetzt und gleichzeitig eine praktische Ausbildung zum Gefängnisseelsorger begonnen. Einer von ihnen ist der 28 Jahre alte Cengiz Ayar aus Hannover.
Er hat beobachtet: "Das Freitagsgebet wird sehr erwünscht, aber auch die seelsorgerliche Betreuung, das heißt, jemanden zu haben, der nicht urteilt und versucht, den Gefangenen zu verstehen, eine Empathie aufbaut und ihm seine Zeit widmet. Das ist ein sehr wichtiger Faktor, weil sie sich oft alleingelassen fühlen."
Beistand auf dem Weg zu sich selbst
So ging es auch Karim. Drei Jahre saß der junge Mann mit afghanischem Pass wegen schwerer Körperverletzung im Gefängnis. Inzwischen ist er wieder draußen, lebt bei einer Schwester und ihrer Familie in der Nähe von Hannover. Vor allem die Gespräche mit dem muslimischen Gefängnisseelsorger hätten ihm sehr geholfen, sagt Karim.
"Ich bin sehr froh darüber, dass er mir so viel Beistand geleistet hat, dass ich lernte, die Haft nicht mehr als Strafe zu sehen, sondern als Gnade, als Geschenk Gottes, wo ich tatsächlich auch wieder zu mir gekommen bin, wo ich meinen Weg und mich selber wiedergefunden habe."
Karim fing an, sich auch mit seiner Gewaltbereitschaft und seiner Schuld auseinanderzusetzen. "Es ist zum Teil sehr schwer", sagt er. "Es ist eine Last, die man ständig mit sich tragen muss. Ich kann es nicht ändern. Für manche Dinge werde ich mich vielleicht ein Leben lang hassen. Aber das bin ich, und ich versuche, mich zu ändern."
Professionelle Gesprächsführung ist wichtig
Cengiz Ayar ist überzeugt: Er kann etwas bewirken als Seelsorger hinter Gittern. Seine wissenschaftliche Arbeit hat er über die unterschiedlichen Erwartungen an muslimische Gefängnisseelsorger geschrieben. Ein Fazit formuliert er so: "Der Staat ist sich dessen bewusst, dass die muslimische Seelsorge einen präventiven Effekt hat. Und der Seelsorger, auch wenn er sich das nicht als Ziel vorgenommen hat, kann in diesem Bereich viel mehr leisten als andere Dienste."
Rückblick. Mitte Juli 2020 in einem Tagungshaus der evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers in der Nähe von Uelzen. Der muslimische Theologe Esnaf Begić ist zu Gast als Referent im landesweit ersten muslimischen Seelsorgekurs für den Strafvollzug in Niedersachsen. Begić spricht mit Cengiz Ayar und den anderen zehn Kursteilnehmern über den Umgang mit Schuld und Vergebung im Islam. Auch wichtig: Erfahrungsaustausch.
"Die meisten sind sich gar nicht bewusst, was überhaupt Sünden sind", sagt ein Teilnehmer. "Für die ist eine schlechte familiäre Entwicklung – kalt in der Familie, mit Schlägereien – Normalität. Das ist bedrückend nach einer Zeit."
Islamverband, Kirche und Justiz kooperieren
Das Kurskonzept haben der Islamverband Schura Niedersachsen, christliche Gefängnisseelsorger und Vertreter des Niedersächsischen Justizministeriums gemeinsam entwickelt.
Andreas Kunze-Harper, evangelischer Pastor und Gefängnisseelsorger in der JVA Uelzen, leitet das Ausbildungsangebot zusammen mit einem Kollegen. "Die christliche Seelsorge wird der muslimischen Seelsorge im Inhalt nichts geben können", meint er. "Aber darauf zu achten, wie die Kommunikation verläuft, dafür möchten wir sensibilisieren."
Denn nicht nur theologisches Wissen ist gefragt, um Inhaftierte bei Glaubens- und Lebensfragen gut zu begleiten, auch Empathie und eine professionelle Gesprächsführung. Esnaf Begić hat viele Jahre als Imam in einer bosnischen Gemeinde gearbeitet.
Das christliche Seelsorgekonzept lasse sich gut mit dem Islam verbinden, sagt Begić: "Ich glaube nicht, dass eine christliche Seele eine außerordentliche Situation im Leben anders erlebt als eine muslimische Seele. Insofern würde ich das Ganze nicht als christlich anschauen, sondern einfach als menschlich. Mit welchen Zugängen wir herangehen, hängt von denjenigen ab, die vor uns als Seelsorger sitzen."
Corona verzögert Ausbildung und Stellenschaffung
Vier Workshops von jeweils drei Tagen waren eingeplant. Doch der Ausbildungskurs musste wegen der Coronapandemie unterbrochen werden.
Auch Recep Bilgen, der Vorsitzende des Islamverbandes Schura Niedersachsen, hofft, dass es bald weitergeht: "Diese jungen Menschen, überwiegend hier geboren und sozialisiert, sind sehr engagiert und machen das mit Herzblut, darüber bin ich sehr froh."
Nur das Forschungsprojekt zur Professionalisierung muslimischer Gefängnisseelsorge konnte Ende 2020 abgeschlossen werden. Christina Kayales, evangelische Pastorin mit dem Schwerpunkt interreligiöse und kultursensible Seelsorge, hat das Projekt wissenschaftlich beraten und die vier jungen muslimischen Theologen als Supervisorin betreut.
Kayales ist beeindruckt, was die vier geleistet haben in dem Jahr: "Es bedeutete einen großen Spagat: Ich mache eine Seelsorge-Ausbildung. Ich versuche, eine Forschungsarbeit in einem Bereich zu machen, wo es sehr wenig Forschungsmaterial gibt. Dazu kommt noch, sie waren ja auch in den Gefängnissen fremd. Das heißt, sie mussten sich auch dort erst einmal integrieren und zeigen: Was will muslimische Seelsorge?"
Eine Chance für das Leben nach der Haft
Die Resonanz von Inhaftierten und Kollegen in den Justizvollzugsanstalten sei sehr positiv, heißt es aus dem Niedersächsischen Justizministerium. Ursprünglich war geplant, in diesem Jahr Stellen für muslimische Gefängnisseelsorger auszuschreiben. Doch davon ist nun nicht mehr die Rede. Ein Grund: Sparmaßnahmen wegen der Coronakrise.
Es ist also noch ein langer Weg, bis die muslimische Gefängnisseelsorge der christlichen gleichgestellt ist. Cengiz Ayar will trotzdem weiter als Seelsorger für die Inhaftierten da sein – auch auf Honorarbasis.
"Damit sie die Haftsituation besser überbrücken können und mit einer anderen Vision in die Zukunft, in das neue Leben nach der Haft, gehen können", betont er. "Das ist sehr wichtig, und ich würde auf jeden Fall gerne dort noch weitermachen."