Gegen patriarchale Unterdrückung und Antisemitismus
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Gleich zwei Projekte in einem Duisburger Jugendzentrum richten sich an jugendliche Migranten. Sie könnten zu Vorbildern werden im Kampf gegen patriarchale Unterdrückung und Antisemitismus. Beides wird oft religiös legitimiert.
Das Jugendzentrum "Zitrone" im armen Norden Duisburgs. Susanne Lohaus arbeitet hier seit 24 Jahren. Immer wieder wird die Sozial- und Erziehungswissenschaftlerin mit den Folgen der "Ehrenkultur" unter Migranten konfrontiert: Jungs unterdrückten oft ihre Schwestern, erzählt Lohaus. Aber sie würden manchmal auch selbst Opfer patriarchaler Verhaltensmuster.
Küssen verboten - im Namen der Ehre
Dabei seien es nicht nur muslimische, nicht einmal unbedingt religiöse Familien, die ihren Kindern vorschreiben, wie ein "richtiger Mann" oder eine "richtige Frau" zu sein habe, um die "Familienehre" zu schützen, sagt Lohaus:
"Das ist nicht unmittelbar mit Religion verbunden. Es geht erst mal um eine uralte Tradition, die es schon lange vor monotheistischer Zeit gab. Und natürlich wird das ganz häufig einfach über Religion legitimiert, nicht nur über den Islam. Es kann auch Menschen geben, denen Religion gar nicht so wichtig ist, die aber diese Tradition von Ehre einfach unheimlich hoch halten."
Wer Gedichte schreibt, gilt als unmännlich
Das gelte zum Beispiel für koptische Christen oder orthodoxe Juden, die ebenfalls die Sexualität ihrer Töchter kontrollieren, aber in Deutschland nicht so sichtbar seien wie Muslime. Viele der Jugendlichen, mit denen Susanne Lohaus zu tun hat, stammen aus autoritären Familien.
Sie wollen Gedichte schreiben oder malen, ohne dass die Familie ihnen vorwirft, sie seien unmännlich. Sie wollen sich der Mehrheitsgesellschaft anpassen, die sie aber nicht als richtige Deutsche betrachte, sondern als Ausländer, Muslime, Araber oder Türken.
"Ich sage es mal in den Worten, in denen sie es auch formulieren würden", erklärt Lohaus. "Sie sind total – Entschuldigung – 'angepisst' darüber, wie sie wahrgenommen werden von der Mehrheitsbevölkerung – und zwar als die ‚frauenunterdrückenden Gewalttäter‘. Und sie sagen: 'Ich bin so nicht, ich weiß, dass es dieses Problem in unserer Community gibt, und ich möchte jetzt aufstehen und dagegen was machen'."
"Lokalhelden" hinterfragen Familienehre und Sexualmoral
Lohaus wollte Jungs mit Migrationshintergrund bei ihrem Widerstand gegen die Fremdsteuerung und Diskriminierung stärken. Daher gründete sie in Duisburg 2011 nach einem Berliner Vorbild das Projekt "HeRoes - Gegen Unterdrückung im Namen der Ehre". 70 Jugendliche haben die Ausbildung absolviert, und diese "Lokalhelden" wirken als Multiplikatoren in Schulen. Der 26-jährige Student Abdul Kader Chahin zum Beispiel.
Der Sohn palästinensischer Flüchtlinge aus dem Libanon schloss sich mit 18 Jahren der ersten Gruppe der Duisburger "Heroes" an, weil, wie er sagt, "sich das Projekt mit ehrenkulturellen Milieus befasst und ich so in meinem Freundes- oder Familienkreis nie über diese Thematik sprechen konnte. Der Begriff ‚Ehre‘ war ein wichtiges Wort, definitiv. Was aber ‚Ehre‘ genau ist, das hätte ich zu dem Zeitpunkt nie definieren können".
Bei "HeRoes" konnte Abdul Kader Chahin auf Augenhöhe über Sexualität diskutieren, über Diskriminierung, Homophobie und Antisemitismus. Manche Väter waren erbost, dass ihre Autorität in Frage gestellt wurde, aber das waren Einzelfälle, in denen die Projektleiterin Susanne Lohaus erfolgreich vermittelte.
Junge Muslime studieren die NS-Zeit
Mehr Widerstand rief das Projekt "Junge Muslime in Auschwitz" hervor, an dem manche "Heroes" mitarbeiten. Der Projektgründer, der 31-jährige muslimische Lehrer Burak Yilmaz wuchs genau in dem Duisburger Stadtteil auf, wo heute das Jugendzentrum "Zitrone" liegt. Seine Freunde erzählten ihm vom Judenhass, den sie in der Koranschule mitbekamen. 2009 erlebte er, wie muslimische Jugendliche, die von einer Anti-Israel Demonstration kamen, sein Jugendzentrum überfielen und "Heil Hitler" brüllten.
Mit dem Projekt "Junge Muslime in Auschwitz" verfolgt Yilmaz zwei Ziele. "Mir war es wichtig, Geschichte in der Migrationsgesellschaft lebendig zu gestalten", sagt er. "Wir hatten so einen Schlüsselmoment, wo wir Jugendliche bei uns im Projekt hatten, die auf der einen Seite gesagt haben, der Geschichtsunterricht holt uns nicht ab dadurch, dass wir familiengeschichtlich kaum etwas mit der NS-Zeit zu tun haben. Und auf der anderen Seite habe ich schon damals mit vielen muslimischen Jugendlichen gearbeitet und habe gemerkt, dass nicht nur in der Mehrheitsgesellschaft ein Problem mit Antisemitismus herrscht, sondern eben auch in der muslimischen Gesellschaft."
Bewegender Besuch in Auschwitz
Das Projekt bietet den Jugendlichen die Möglichkeit, ihre Familiengeschichten zu thematisieren. An drei Wochenenden lernen sie etwas über die Nazizeit in Duisburg, den Nahostkonflikt und islamistische Propaganda. Sie reisen nach Auschwitz, sprechen mit einem ehemaligen Häftling und führen Tagebuch über ihre Eindrücke. Diese verarbeiten sie später in einem Theaterprojekt, das sogar in der Jüdischen Gemeinde Duisburg aufgeführt wird.
Abdul Kader Chahin interessierte sich schon früh für die NS-Zeit und reiste 2012 mit der ersten Gruppe nach Auschwitz, wo die Duisburger Jugendlichen an einer Gedenkveranstaltung mit israelischen Schülern teilnahmen.
Nahost-Konflikt belastet den Blick in die Geschichte
"Ich hatte wirklich so einen Gewissenskonflikt, weil ich nicht wusste, was ich empfinden soll", erinnert sich Chahin. "Warum? Auf der einen Seite hat man natürlich die Juden, die im Zweiten Weltkrieg nicht nur verfolgt, sondern systematisch ermordet wurden. Das ist eine Sache, da hat man die Empathie als Mensch nun mal. Und dann hat man wiederum auf der anderen Seite natürlich die eigene Biografie der Familie, die dann resultierend daraus, was in Europa passiert ist, dann auch noch mal Leid erfahren hat im Nahen Osten."
"Dazu muss man wiederum aber auch sagen, wenn man das rationalisiert, dass auch die Israelis kein einfaches Leben haben", sagt Chahin. "Ich habe Traurigkeit empfunden, ich habe Hass empfunden – Hass, weil ich die Fahnen gesehen habe, da waren Israel-Fahnen und das war das erste Mal, dass ich so was hautnah gesehen habe. Und dann kam meine Erziehung von früher hoch. Ich habe aber auch im selben Atemzug gewusst, das ist nicht richtig, das jetzt zu empfinden. Ich war emotional komplett durcheinander."
Freundschaft mit Israelis galt in der Familie als "Verrat"
Letztlich sei es gut gewesen, als Deutscher mit palästinensischen Wurzeln an dieser Zeremonie mit den Israelis in Auschwitz teilzunehmen, urteilt Abdul Kader Chahin heute. Er kehrte 2014 nach Auschwitz als Gruppenleiter zurück und erlebte ähnliche Situationen diesmal "ganz cool", wie er sagt. Er konnte sogar die angesichts der Israelfahnen aufgebrachten arabischstämmigen Jugendlichen beruhigen. Im entsprechenden Fernsehfilm sagt Chahin, er wollte bei der Zeremonie mit seinem Freund lieber Deutsch als Arabisch sprechen:
"Als ich dann nach Hause gegangen bin, hat eine Riesendiskussion angefangen. Da hieß es: Guck mal, wie ihr dargestellt werdet usw. Mein Papa hat gesagt: Du siehst aus wie ein Verräter in diesem Beitrag. Und was sollen die Leute von dir denken? Du wurdest total instrumentalisiert!"
Die gesamte Gesellschaft muss sich gegen Judenhass stellen
Inzwischen akzeptiert der palästinensische Vater Chahins Freundschaft mit Israelis. Durch seine Erfahrungen ist Chahin inzwischen klar geworden, dass die gesamte deutsche Gesellschaft gefordert ist, wenn es darum geht, muslimischem Judenhass hierzulande entgegen zu wirken:
"Wenn diese Jugendliche als Deutsche akzeptiert und anerkannt werden in der Hinsicht und vor allem das Gefühl bekommen, dass sie zu der Gesellschaft gehören, kommt dann auch im selben Atemzug die Verantwortung der Gesellschaft dazu, ob das geschichtliche Aufarbeitung ist oder Solidarisierung mit den Juden aufgrund der Geschichte hier in diesem Land. Aber wenn ich einem Jugendlichen das Gefühl nicht gebe, dass er zu dieser Gesellschaft gehört, wird er auch nicht die Verantwortung dieser Gesellschaft auf sich nehmen, beispielsweise sich gegen Antisemitismus einzusetzen."
Was er bei den "HeRoes" tut. Für Burak Yilmaz ist allerdings eins wichtig: Dass muslimische Jugendliche unter Rassismus leiden, sei noch lange keine Legitimation für Antisemitismus. Darüber spricht er auch mit den jungen Muslimen, die er nach Auschwitz mitnimmt.