Mustafa Khalifa: "Das Schneckenhaus"
Aus dem Arabischen und mit einem Nachwort von Larissa Bender
Weidle Verlag, Bonn 2019
309 Seiten, 23 Euro
Erfahrungsbericht aus der Hölle
06:28 Minuten
Der syrische Autor Mustafa Khalifa beschreibt in seinem Roman "Das Schneckenhaus" die Hölle des Gefängnis. Durch die schlichte Sprache wirken die Gräueltaten monströs. Ein eindrucksvolles Werken, meint unser Kritiker.
Der Begriff "lazarenische Literatur" stammt vom französischen Autor und Resistance-Mitglied Jean Cayrol, der die Haft im Konzentrationslager Mauthausen überlebte. Programmatisch plädierte Cayrol 1950 für eine Literatur im Zeichen der biblischen Figur des Lazarus, der vom Tod ins Leben zurückkehrt.
Horst Bienek griff in Deutschland diesen Ansatz in seinem autobiographischen Roman "Die Zelle" auf. Lazarenische Literatur, das ist Gefängnisliteratur, Zeugnis überstandener Torturen, Erfahrungsbericht aus der Hölle.
Wegen einer Bemerkung zu Assad verhaftet
"Das Schneckenhaus" des syrischen Juristen und Autors Mustafa Khalifa, 2007 auf Französisch, ein Jahr später auf Arabisch und nun auf Deutsch veröffentlicht, gehört sicherlich zu den eindrucksvollsten Werken der lazarenischen Literatur und ist heute eines der bekanntesten der syrischen Gegenwartsliteratur.
Khalifa beschreibt den Albtraum seines namenlosen Protagonisten, der als Absolvent der Pariser Filmhochschule in die Heimat zurückkehrt.
Bereits am Flughafen wird der junge Syrer verhaftet, ins Gefängnis verfrachtet und gefoltert. Es gibt keine Anklage, kein Vergehen, dessen man ihn bezichtigt. Erst am Ende des Buches erfährt er, dass seine Verhaftung auf eine Bemerkung zurückgeht, die er auf einer Studentenparty über den syrischen Diktator Assad gemacht haben soll.
Verschleppt in das Wüstengefängnis Tadmor
Dazwischen liegen zwölf Jahre, von denen er die meisten im berüchtigten "Wüstengefängnis" Tadmor zubringt. In der Gemeinschaftszelle hält man ihn für einen Spion, er versucht zu überleben, indem er sich unsichtbar macht. Der junge Mann spricht kaum, zieht eine Decke über seinen Kopf und lebt isoliert wie in einem Schneckenhaus. Im Kopf schreibt er das Buch, das hier vorliegt.
Mustafa Khalifa hat auf Erfahrungen seiner eigenen Haftzeit zurückgegriffen. Gleichwohl ist "Das Schneckenhaus" keine Autobiografie. Die Sprache ist schlicht – und gerade das lässt die geschilderten Exzesse der Rohheit und extremen Dehumanisierung so monströs wirken.
"Das Schneckenhaus" ist Protokoll eines schier unvorstellbaren Gefängnisalltags. Ein sachlicher, auch mit der Wiedergabe von Dialogen und kursiv abgesetzten kurzen Reflexionen ergänzter Zeugenbericht.
Der Erzählton ist warm, die Haltung fassungslos. Der Icherzähler zeichnet detailliert auf, wie Häftlinge wahllos von den Wächtern und Geheimpolizisten umgebracht, gefoltert, entmenschlicht werden, wie die hygienischen Verhältnisse und die Beziehungen der Gefangenen zueinander sind.
Ein Buch ohne ideologische Färbung
Auch sich selbst macht er zum Objekt der Betrachtung. Er notiert Angst und Verzweiflung, das Auseinanderfallen seiner Identität. Anfangs hadert er mit seinem Schicksal, dann werden Sadismus, Angst, Krankheit und Tod zu Realitäten, mit denen er umzugehen lernt.
Neben der Zerstörungswut des Menschen und seiner Unfähigkeit, nach der Folter wieder heimisch in der Welt zu werden, beschreibt Khalifa auch winzige Gesten des Humanen, berichtet von Liebe und Solidarität, Würde und Kraft des Glaubens.
Sein Buch hat keine ideologische Färbung. Und kein Happy End, auch wenn der Icherzähler nach zwölf Jahren das Gefängnis verlassen darf. Er sieht die Welt zwangsläufig mit anderen Augen. Wie auch der Leser – sollte er den Erzähler tatsächlich bis ans Ende des Buches auf seiner Höllenreise begleiten.