Mut zum musikalischen Risiko

Von Volker Michael |
In Berlin ist am Sonntag das 4. Internationale Festival für neue Musik zu Ende gegangen. Mehr als 10.000 Besucher kamen zu den 30 Konzerten und Aufführungen. Der Mut zur Offenheit, den die MaerzMusik predigt, geht einher mit der Lust am Risiko.
Beinahe verzweifelt sucht die Neue Musik Anschluss an die aktuellen Trends in der Club- und Tanzszene. Vor zwei Jahre spielte die renommierte London Sinfonietta erstmals gemeinsam mit Künstlern des britischen WARP-Labels, das in der elektronischen und multimedialen Musikwelt tonangebend ist. In London kam dieses Programm nicht gut an, in Rom wohl schon eher. Jetzt bei der deutschen Premiere im Rahmen der MaerzMusik ließ es viele Zuhörer ratlos mit den Schultern zucken. Festivalleiter Mathias Osterwold wollte mit der lautstarken und Stress fördernden Londoner Doppelpackung einmal mehr neue Zuhörer anlocken:

Gestern Abend zeigte bei der MaerzMusik dann die beste deutsche Avantgardeformation – das "ensemble modern", dass es keine Angst vor Grenzüberschreitungen hat. Doch wieder kam der Urheber neuer Klangkunst aus Großbritannien: Der Komponist und Bildkünstler Benedict Mason erfindet permanent eigenartige Instrumente von der glockenhellen Metallröhre bis zur dumpfwummernden Kalebasse. 600 von diesen selbstgebauten Klangkörpern spielten die Musikerinnen und Musiker aus Frankfurt/Main, die von ihrer eigenen Akademie und der Jungen Deutschen Philharmonie unterstützt wurden, statt ihrer eigenen konventionellen Instrumente. Seine Klänge nennt Mason "visuell-aural-akustisch-skulpturelle Musik". Bei den letzten Musiktagen in Donaueschingen hatte Mason damit noch Aufsehen erregt.

Die MaerzMusik ließ ihn nun in einer ausgeräumten Fabrikhalle des Kabelwerk Oberspree im Berliner Stadtteil Oberschöneweide spielen. Eine große Enttäuschung! Es gab zu viele Nebengeräusche, die zirka 60 Ausführenden spielten uninspiriert, wirkten wie unglückliche Marionetten. Der Komponist verzichtet zudem darauf, seine fantasievollen Klangideen wirklich zu entwickeln. Ständig blieben die rotierenden Flächen und schnarrenden röhrenden Klangwellen im Anfangsstadium stecken, versteinerten sie zu leblosen Skulpturen, ehe sie zu Musik heranwachsen konnten.

Begnügte sich Benedict Mason noch mit einer riesigen Fabrikhalle, schrieb der Mannheimer Komponist Claus-Steffen Mahnkopf seine Hommage an den US-amerikanischen Kultautor Thomas Pynchon eigentlich für unendlich weite Räume und Zeiten. Für seine auf sieben Stunden eingedampfte Konzertinstallation hat sich Mahnkopf vollständig in Pynchons Werk versenkt.

Bei all seiner Faszination für paranoide Deutungen blieb dem Komponisten verborgen, dass er an seinen Zuhörern vorbeischreiben und -spielen würde: Gerade mal eine Stunde hielten es die Zuhörer inmitten der nervös-gleichförmigen Musik aus. Allein der konzertante Anfang des Werks machte neugierig. Später kehrten die klanglichen Aggressionen regelmäßig wieder und ermüdeten so. Claus-Steffen Mahnkopf scheint seine Liebe zu paranoiden Deutungen entweder kokett zu inszenieren oder sich innerlich wirklich von der Welt zu isolieren.

Zum Glück hatte die MaerzMusik noch zwei andere viel versprechende Schwerpunkte, nämlich die menschliche Stimme und das Musikland Brasilien. Gerade in Brasilien haben experimentelle und engagierte Musiker immer wieder den Kontakt zur populären Musik gesucht. Andererseits liegen die Wurzeln so bekannnter Stile wie des Bossa Nova und des Tropicalismo in der klassischen Moderne. Der abwechselnd in Brasilien und Deutschland lebende Komponist Chico Mello hat eine eigene Musiktheaterform kreiert. In ihnen verbindet er die für alle Brasilianer so wichtigen Fernsehserien, die "Telenovellas" mit Bossa Nova. Das Ergebnis nennt er TELEBOSSA. Sein Stück mit dem Titel "Destino das Oito/Schicksal um Acht" wurde in einer wunderbar leichten und ironisch-fantasievollen Inszenierung von Christina Tappe bei der Berliner MaerzMusik uraufgeführt.

Die dramatische Vorlage fand Mello bei der britischen Autorin Caryl Churchill. Bei seinem eigenen Sohn entdeckte Chico Mello hingegen, wie wichtig Wiederholungen beim Erzählen von Geschichten sind. Herrlich leicht und ironisch konnte Mello deshalb mit den stupiden und zugleich abgründigen Alltagsritualen umgehen, die die Fernsehsoaps permanent servieren. Musikalisch knüpfte Mello an die unterkühlte Sinnlichkeit des Bossa Nova an. Den Sängern und Musikern gestattete er nur die Verwendung ganz bestimmter Töne und Rhythmen. Das Klangergebnis pendelte sich so auf der goldenen Mitte zwischen Alban Berg und Joao Gilberto ein. Selten bietet zeitgenössisches Musiktheater so wie Chico Mellos DESTINO DAS OITO – ohne in Zynismus zu verfallen – so viel Grund zum Lachen und auch Nachdenken.

Seine indischen und deutschen Wurzeln verfolgt der Komponist Sandeep Bhagwati, wenn er Komposition und Improvisation miteinander zu versöhnen versucht. Bei der MAERZMUSIK führte der Posaunist Mike Svoboda Bhagwatis Konzertinstallation "Inside a Native Land" auf, ein verkapptes Posaunenkonzert – denn hier ist der Solist auch Dirigent, der virtuos agieren kann und die begleitenden Musiker anregt und anleitet. Die Uraufführung in einer Konzertkirche wurde trotz mancher Längen zum ästhetischen Erlebnis, schon weil ein Solist wie Svoboda stets imstande ist, aus allem, aus Stille, Fließen und Lärm Musik zu machen. Die Dominanz des Solisten störte den Komponisten keineswegs:

Die diesjährige MaerzMusik überzeugte am meisten mit ihren kleineren, auf einzelne Interpreten und musikalische Techniken und Themen zugeschnittenen Projekten. Hier wurde – wie bei den unzähligen Veranstaltungen zum Thema Stimme und den Workshops mit großen Stimmartisten an etwas ganz Fasslichem und Dinglichem gearbeitet. Die großen, in zeitliche und räumliche Unendlichkeit expandierenden Werke dagegen enttäuschten.

Aber der Mut zur Offenheit, den die MaerzMusik predigt, geht einher mit der Lust am Risiko. Eine sichere Bank ist die Schlussveranstaltung, bei der heute Abend der Komponist Dieter Schnebel anlässlich seines 75. Geburtstages geehrt wurde. Sehr aufwändig waren schon die Vorbereitungen zur Uraufführung zu der auf drei Stunden Dauer erweiterten Sinfonie X. Schnebel hat offen zugegeben, mit seiner opulenten Sinfonie für Live-Elektronik, Solisten, Chor und Großes Orchester in die Fußstapfen Beethovens und Mahlers treten zu wollen.

Natürlich haben alle Beobachter das Stück als eine Art persönliches und künstlerisches Resümee gehört. Dem Altmeister, der so viele jüngere Kollegen beeinflusst hat, fallen immer noch viele erstaunliche Klänge und Themen ein. Doch die Textauswahl für diese Sinfonie und die musikalische Grundstimmung deuten doch auf etwas hin, was die einen Altersweisheit, die anderen Resignation nennen, inmitten eines mächtigen und beliebigen Mainstream….