Hans Rusinek ist Redakteur beim "Transform Magazin", dem Magazin für das Gute Leben, und Unternehmensberater. Zusätzlich ist er Mitglied im thinktank30 des Club of Rome, wo er sich mit wirtschaftsethischen Fragen auseinandersetzt.
Für mehr "keine Ahnung"
Wann haben Sie das letzte Mal zugegeben, von etwas keine Ahnung zu haben? Der Unternehmensberater und Journalist Hans Rusinek findet, wir sollten das viel öfter tun.
Vor kurzem war ich in einer Ausstellung. Dort philosophierte meine Begleitung über den Übergang von Street Art zu Commercial Art, und erwähnte Shepard Fairey. "Ahja, Shepard Fairey, mhh", antwortete ich, obwohl ich in Wahrheit überhaupt keine Ahnung hatte, wer das sein sollte. In meinem Kopf erschien ein Schäferhund und eine Fee. Ich hatte wirklich keinen Plan. Aber ich ließ mir nichts anmerken. "Keine Ahnung" sagte ich nicht. Warum gehen diese zwei Worte so schwer über die Lippen?
Wir leben in einer Zeit, in der jeder kleine Schritt mit Unmengen von Wissen belastet ist. In der Komplexitätsgesellschaft gibt es für jede Handbewegung Kompetenzen, Forschungsergebnisse und Instanzen, die das Wissen darüber wahren und gewinnbringend verteilen.
Dadurch werden wir auf beinahe allen Gebieten zu Ahnungslosen, wir stümpern uns durch die Welt, auch durch unsere Freizeit.
In diesem Zusammenhang hat sich der Begriff FOMO etabliert: Das ist die "Fear of Missing out". FOMO beschreibt die besonders in Städten wie Berlin weitverbreitete Angst, etwas zu verpassen. Und sich für das falsche Event entschieden zu haben.
Es gibt einfach verdammt viel Ahnungslosigkeit bei all dem Wissen und all den Optionen. Sich das einzugestehen ist schmerzhaft, und somit auch die zwei Worte "Keine Ahnung".
Die verfaulte Konservenbüchse
Dabei steckt im Keine-Ahnung-haben eine große Kraft:
"Heute werfen wir uns allzu oft Begriffe und Sätze zu wie Konservendosen", sagt die Philosophin Natalie Knapp. "Wir öffnen sie nicht mehr, weil wir davon ausgehen zu wissen, was drinnen ist." Begriffe wie Innovation, Generation Y oder Work-Life-Balance – beispielsweise. Wir schmeißen uns die Dosen zu, ein jeder hat die "totale Ahnung" und keiner merkt, dass die Inhalte mittlerweile verfault sind. Meine Lieblings-Konservendose heißt übrigens Blockchain.
Man möge die Menschen, die von der Blockchain sprechen, doch einfach mal fragen: "Du, erklär mir doch mal wie das funktioniert... Ich habe nämlich keine Ahnung!" Ich bin gespannt, wie schnell dann das Thema gewechselt wird. Also: Wer nicht ab und zu keine Ahnung hat, der sorgt dafür, dass Kommunikation zu einem reinen Schauspiel wird.
Denn gerade in einer Zeit der Umbrüche, ist doch viel mehr der Unwissende, als der Wissende gebraucht, nicht der, der vermeintlich stabile Wissensgebäude bewohnt, sondern der, der Wissen immer neu zusammenstellt, immer neu dazulernen kann. Und das fängt eben meistens mit einem neugierigen "Keine Ahnung" an.
Zwei Versionen von "keine Ahnung"
"Keine Ahnung" gibt es übrigens in zwei Versionen. Wenn mich jemand fragt, warum sich die langjährigen Freunde Albert Camus und Jean-Paul Sartre so bitter zerstritten haben, dann ist das "Keine Ahnung", was ich darauf antworte ein ganz entschieden anderes, als wenn ich danach gefragt werde, wer 2014 Dschungelkönig bei RTL geworden ist.
Letzteres "Keine Ahnung" ist auch sehr wertvoll. Es ist das "ich muss nicht jeden Mist wissen"-Keine-Ahnung. So kann man sich diesen Strukturen bewusst entziehen. Denn die scheinbar harmlose Frage nach dem Dschungelkönig ist auch eine Unterwerfungsaufforderung in ein Wissens- und Relevanzsystem. Und ‚Keine Ahnung‘ die Verneinung dessen.
"Die Herausforderung besteht nicht darin zurechtzukommen, sondern nicht zurechtzukommen, d.h. jeden Weg allein zu gehen, jeden Maßstab selbst zu gewinnen, jeden Wert selbst zu erschaffen", das hat der schwer vermisste Roger Willemsen einmal geschrieben. Und dazu gehört es auch, eigene Maßstäbe zu entwickeln, wovon man eine Ahnung haben möchte und wovon ganz bestimmt nicht.
Denn vielleicht stimmt es doch nicht, dass die Komplexität in unserer Gesellschaft steigt. Vielleicht steigt nur unsere Angst vor der Komplexität, weil wir nicht gelernt haben, mit ihr richtig umzugehen. Vielleicht brauchen wir deshalb nicht weniger Komplexität, sondern vielmehr die Fähigkeit zu entscheiden, was wir wissen wollen - und was nicht. In diesem Sinne: Ich weiß kaum etwas über das Dschungelcamp, aber ich versuche, noch weniger zu wissen.
Übrigens, Shepard Fairey ist der mit dem "Obama Hope-Poster". Und warum Camus und Sartre sich zerstritten haben? Ganz ehrlich: keine Ahnung!