Mut zur Verletzlichkeit

Endlich wird Unrecht wieder zum Politikum

04:16 Minuten
Pia Klemp sitzt in der Kommandozentrale der Sea Watch.
Pia Klemp, Kapitänin des Rettungsschiffs Juventa, erzählte in einer Live-Sendung von Joko und Klaas vom europäischen Versagen im Mittelmeer. © Paul Lonis Wagner / Sea-Watch
Ein Kommentar von Jagoda Marinić · 05.06.2019
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Wie die Rettungsschiff-Kapitänin bei "Joko und Klaas" machen immer mehr Menschen von ihrem Mitspracherecht Gebrauch – indem sie sich verletzlich zeigen und erzählen, was falsch läuft. Nun müssten die Verantwortlichen handeln, meint Autorin Jagoda Marinić.
Hört dieser Frau zu. Sie heißt Pia Klemp und sitzt auf einem schlichten Stuhl inmitten der ausgeleuchteten Bühne. Hier erzählt sie von ihrer Zeit als Kapitänin auf dem Rettungsschiff Juventa im Mittelmeer. Das Setting, das Joko und Klaas zuletzt in ihrer Live-Sendung auf ProSieben aufgebaut haben, erinnerte eher an Theatermonologe als an das übliche Talktamtam; die beiden Unterhaltungskünstler zeigten in nur 15 Minuten etwas, das wir im deutschen Fernsehen zu oft vermissen: das nackte Leben selbst.
Plötzlich sprachen die Verletzlichen, jene, die unsere erfolgsvernarrte Gesellschaft lieber im Dunkeln lässt. Im sachlichen Tonfall erzählte die Kapitänin Pia Klemp, die wegen Menschrettung bestraft werden könnte, vom europäischen Versagen im Mittelmeer: "Tagelang fuhr ich mit einem toten zweijährige Jungen in der Tiefkühltruhe in internationalen Gewässern auf und ab, weil kein europäisches Land ihn retten wollte, als es noch möglich war, und sie uns dann einen sicheren Hafen verwehrten."
Es folgen zwei weitere Menschen mit Geschichten über Obdachlosigkeit und rechtsextremer Gewalt. Dann sind diese 15 Minuten Ausnahmefernsehen vorbei. Der Sendeanteil an diesem Abend lag bei 20 Prozent. Es scheint, als ob das deutsche Fernsehpublikum mehr Interessen hat als nur C- und D-Promis beim Tanzen zuzusehen.

Raum für Verletzlichkeit

Endlich wird Verletzlichkeit wieder Raum gegeben. Endlich wird Unrecht wieder zum Politikum. Verletzlichkeit, die hierzulande beinahe aus dem öffentlichen Diskurs verschwunden war. In Deutschland wurde die Einführung der Agenda 2010 nicht von so grellen Protesten begleitet wie in Frankreich. Jene, die es getroffen hat, blieben still. In Deutschland stiegen jahrelang die Mieten, erst jetzt, da wirklich kaum mehr jemand sie bezahlen kann, wird es laut.
Lange Zeit wurden lieber hohle Emotionen inszeniert. Doch allmählich kocht in Europa der Unmut hoch. Als Theresa May bei der Ankündigung ihres baldigen Rücktritts in Tränen ausbrach, fragten viele: "Tut Ihnen Theresa May leid?" Eine Antwort, die online viral ging, gab Owen Jones, ein junger Kolumnist des Guardian: "Ich habe kein Mitleid mit ihr, weil ich an jene Menschen denke, die sie grausam behandelt hat... Gefühle wie Mitleid sollten wir uns für jene Briten aufheben, die aus ihren Häusern geworfen wurden, keine medizinische Versorgung erhielten, aus ihrem Land deportiert wurden. Oder für die Kinder, die ihrer Politik wegen in der Armut gelandet sind."

Menschen erzählen von ihren Wunden

Die Mächtigen werden endlich wieder von Demokratinnen und Demokraten mit den Konsequenzen ihres Handelns konfrontiert. Das Einfangen der Unmut wird nicht mehr den Populisten überlassen. Immer mehr Menschen sind bereit, von den Wunden, die in diesen Zeiten geschlagen werden, zu erzählen - und immer mehr hören zu. Schließlich hat "Fridays for Future" die Lethargie einer Generation, der man stets das Unpolitischsein vorwarf, weggefegt.
In den letzten Wochen ist der Zusammenhalt in Europa von vielen beschworen worden. Es wurden Ängste geschürt, diese Wahl könnte zur Schicksalswahl werden. Das wurde sie, doch vor allem deshalb, weil es den Jungen gelungen ist, eine neue Agenda zu setzen. Die jüngeren Generationen wollen nicht länger dabei zusehen, wie politische Akteure die Verletzlichkeit der Erde – und somit der Menschheit an sich – bei ihren Entscheidungen ausblenden.
Verzögerungstaktiken als politisches Handeln verkaufen? Das ist in Anbetracht der Nöte unserer Zeit nicht mehr akzeptabel. Ihr wollt das Klima retten? Dann tut es! Ihr wollt Menschenrechte feiern? Dann setzt sie bitte um! Ihr wollt ein solidarisches Europa? Dann lasst die Jugend in Südeuropa nicht in Arbeitslosigkeit versinken! Wer etwas erreichen will, findet derzeit den Mut, von Verletzlichkeit zu erzählen. Die Verantwortlichen lautstark zur Rechenschaft zu ziehen. Nicht etwa, um zu jammern, sondern um Zukunft zu ermöglichen.

Jagoda Marinić studierte Germanistik, Politische Wissenschaft und Anglistik in Heidelberg und arbeitet heute als Schriftstellerin, Kulturmanagerin und Kolumnistin Heidelberg. Ihre Kolumnen erscheinen in der "Süddeutschen Zeitung", "taz" und in der "New York Times". Auf ihr preisgekröntes Debüt "Eigentlich ein Heiratsantrag" folgte 2005 der Erzählband "Russische Bücher", ausgezeichnet mit dem Grimmelshausen-Förderpreis. Es folgten u.a. "Restaurant Dalmatia" (Hoffmann und Campe), "Made in Germany. Was ist deutsch in Deutschland?" (Hoffmann und Campe) und zuletzt "Sheroes – neue Heldinnen braucht das Land" (S. Fischer).

Porträt der Publizistin und Schriftstellerin Jagoda Marinic
© Dorothee Piroelle
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