Mutkultur

Zukunftsgestaltung beginnt bei uns selbst

03:58 Minuten
Eine Junge springt ins Meer.
Ein dynamisches Selbstbild gibt Menschen die Möglichkeit, sich konstruktiv der Zukunft zu stellen, meint Jörg Bernardy. © imago / fStop images / Dominik Gigler
Überlegungen von Jörg Bernardy · 08.11.2021
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Wetterextreme, Artensterben, politische Krisen, wirtschaftliche Ungleichheit. Angesichts dieser vielen großen Herausforderungen empfiehlt der Philosoph Jörg Bernardy uns vor allem eines: raus aus der Kultur der Angst und hin zum Mut zur Veränderung.
Wer heute die Zukunft von morgen gestalten will, muss zunächst einmal einsehen, dass unsere moralischen und rechtlichen Maßstäbe von Natur und Zukunft veraltet sind. Die Bürgerinitiative "Unser Wasser" aus Lüneburg hinterfragt in genau diesem Sinne unseren Umgang mit Grundwasser: Wem gehört es eigentlich? Zu welchem Preis dürfen Großkonzerne das Grundwasser kaufen und inwieweit haben auch zukünftige Generationen ein Anrecht darauf?

Tragische Fehleinschätzungen hinterfragen

Sowohl der Verkaufspreis von Wasser als auch unser rechtlich-ethischer Maßstab im Umgang mit natürlichen Ressourcen sind nicht mehr zeitgemäß. All das stammt aus einer Zeit, in der wir noch allzu blind dem neoliberalen Glauben an Fortschritt, endlosem Wachstum und an die Selbstregulierung der Märkte unserer Demokratien anhingen.
Diese Vorstellungen sind tragische Fehleinschätzungen und verleiten noch immer zu der hartnäckigen Illusion, der Klimawandel sei keine ernst zu nehmende Gefahr. Um die derzeitige Lage der Welt realistischer einschätzen zu können, brauchen wir nicht mehr Fakten und mehr Wissen, das naturgemäß komplexer wird, je mehr wir davon haben. Es mangelt vor allem an der Übersetzung der bekannten Fakten und komplexen Zusammenhänge in unserem Alltag.

Veränderung setzt ein dynamisches Selbstbild voraus

Mehr denn je benötigen wir neue gesellschaftliche Praktiken zur Prävention und Abschwächung der Folgen heraufziehender Hunger-, Wirtschafts- und Klimakrisen. Dafür müssen wir raus aus unserer gegenwärtigen Angst- und Fehlerkultur. Wir brauchen eine Mutkultur. Wir brauchen den Willen zur Veränderung und die Fähigkeit, kollektive Fehler und Illusionen der Vergangenheit zu erkennen.
Anfangen müssen wir bei uns selbst: Wir brauchen ein dynamisches Selbstbild. Das heißt, wir betrachten unsere Persönlichkeit und Gewohnheiten als etwas, das prinzipiell und ein Leben lang veränderlich ist, und sehen Fehler und Rückschläge tendenziell als Möglichkeit, etwas Neues auszuprobieren und uns weiterzuentwickeln.

Untätigkeit vergrößert die Risiken

Erst ein dynamisches Selbstbild gibt uns die nötige Kraft und Resilienz, uns konstruktiv der Zukunft zu stellen. Zu diesem Prozess dynamischer und ehrlicher Selbsterkenntnis gehört auch die Einsicht, dass nicht zu handeln im Zweifelsfall bedeutet, die Risiken und das Ausmaß der eigenen Fehler zu vergrößern. Und der Fehler, nicht genug zu unternehmen und zu lange zu warten, wäre in Zukunft nicht nur wirtschaftlich teurer.
Die Mutkultur erfordert Zuversicht und die Erfahrung von Selbstwirksamkeit, bei der man spürt: Ich kann etwas verändern und mit mir verändert sich etwas. Aber eben auch: Wir können gemeinsam etwas verändern.

Zukunft entsteht durch gemeinsames Handeln in der Welt

Zukunft entsteht nicht nur durch Wissen und Informationen. Sie entsteht vor allem durch gemeinsames Handeln in der Welt, wie die Philosophin Hannah Arendt prägnant formulierte.
In diesem Sinne sollten wir überall in der Gesellschaft Menschen dazu befähigen, sich ein dynamisches Selbstbild anzueignen, von der Grundschule bis zum Gymnasium, von der Kita bis zum Senior:innenheim, von der Wirtschaft über den öffentlichen Dienst bis zur Zivilgesellschaft.
Erst dann können wir unsere Ressourcen und Kräfte miteinander verbinden und etwas erreichen. Denn wir haben bereits effektive Mittel, Lösungen und Technologien zur Bewältigung gegenwärtiger Krisen, wir müssen sie nur effizient einsetzen.
Wenn wir als Gesellschaft die Energie, die wir in Meinungsverschiedenheiten, persönliche Befindlichkeiten und soziale Grabenkämpfe stecken, für die Lösung unserer Probleme und Herausforderungen einsetzten, wäre unsere Welt schon sehr bald eine andere. Auf geht’s.

Jörg Bernardy, geboren 1982, ist promovierter Philosoph, Autor, Experte für emotionale Intelligenz und die Generation Z. In seinen Büchern macht er philosophische Fragen, psychologische Themen und aktuelle Gesellschaftsthemen für den Alltag zugänglich. Zuletzt erschienen seine Sachbücher "Ich glaube, es hackt! Leben in Zeiten von Tabubrüchen" und "Der kleine Alltagsstoiker - 10 Gelassenheitsregeln fürs Lebensglück".

© Martina Klein
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