Eine Bewährungsprobe für unser Miteinander
Nach dem mutmaßlichen Anschlag auf den Weihnachtsmarkt an der Berliner Gedächtniskirche mahnt Stephan Detjen zur Besonnenheit. Schnelle Forderungen nach harten Konsequenzen seien die Früchte der Terrors.
Wir waren vorbereitet. Seit Jahren haben uns wechselnde Innenminister immer wieder aufs Neue bestätigt: Deutschland ist im Fadenkreuz des internationalen Terrorismus. Geheimdienstmitarbeiter, Strafverfolger und Polizisten wurden zuweilen deutlicher: Es stelle sich nicht die Frage, ob es auch in Deutschland Anschläge geben könne, wie wir sie in anderen europäischen Städten erlebt haben, erklärten die Experten - die Frage sei allein, wann es zu einem Anschlag komme.
Mehrmals wurden Sprengstoffanschläge mit wahrscheinlich katastrophalen Folgen verhindert. Ein zwölfjähriger Junge, als mutmaßlicher Täter von der islamistischen Terrorgruppe IS benutzt, soll vor wenigen Tagen zwei Mal versucht haben, eine Nagelbombe auf dem Weihnachtsmarkt von Ludwigshafen zu deponieren. Im Sommer gab es die Anschläge von Ansbach und Würzburg. Im März 2011 erschoss ein aus dem Kosovo stammender Islamist zwei amerikanische Soldaten auf dem Frankfurter Flughafen und verletzte zwei weitere schwer. Der Frankfurter Mordanschlag war nicht der erste Terrorakt in Deutschland, aber der erste, der sich in den weltweiten Feldzug mörderischer Islamisten einreihte.
Professionelle und besonnene Behördenreaktionen
Der eine oder die andere mag dennoch den Eindruck gehabt haben, Deutschland sei bislang eher glimpflich davongekommen. Das war dadurch begründet, dass der blutige Horizont des Denkbaren und zu Erwartenden in New York, London, Madrid, Nizza und Paris auf so fürchterliche Weise erweitert wurde. Die Nachrichten und Bilder vom Berliner Breitscheidplatz fügten sich gestern auf beklemmende Weise in dieses Panorama ein. Auf den ersten Blick scheint die Tat dem Muster von Nizza zu folgen, wo am 14. Juli dieses Jahres 86 Menschen von einem Lastwagenfahrer in den Tod gerissen und mehr als 300 verletzt wurden.
Deutschland war darauf vorbereitet, dass sich ähnliches hier wiederholen könnte. Dafür sprachen gestern Abend die professionell und besonnen wirkenden Reaktionen von Einsatzkräften, Polizeisprechern und auch der verantwortlichen Politiker. Verantwortlich jedenfalls haben diejenigen gehandelt, die sich nicht zu Kurzschlüssen hinreißen ließen, den Begriff Terror zunächst nur mit dem Verweis auf ausstehende Ermittlungen verwendeten.
Andere bis hin Donald Trump in den USA waren schneller dabei, ihre politisches Geschäft mit dem Anschlag von Berlin zu betreiben. Auch das folgt einem Muster, das von Tätern und Krisenprofiteuren des Terrorismus Hand in Hand gezeichnet wird. Den einen wie den anderen geht es darum, friedliche und liberale Gesellschaften auseinanderzutreiben. Die einen schlagen den Spaltkeil blutig ins Fleisch der Gesellschaft, die Trumps, LePens und ihre deutschen Nachahmungstäter treiben ihn politisch weiter bis ins Mark.
Die Illusion vom starken Staat
Die schnellen Forderungen, am Morgen nach einer solchen Nacht müsse sich alles ändern – die Politik, das Recht, das Denken – sind Früchte des Terrors. Um zu gedeihen, benötigen sie ein Klima der Verdächtigungen und Mutmaßungen, des Argwohns und der Verängstigung, aber auch der Illusionen und Verdrängungen: Der Illusion, dass ein starker Staat und seine Führer ihren Bürger umfassende Sicherheitsgarantien geben können und der Verdrängung, dass jedenfalls dieser Staat seit Jahren auch auf Terroranschläge vorbereitet ist. Durch die Ausweitung von Sicherheitsgesetzen, Überwachungsmaßnahmen, internationale Zusammenarbeit und Datenaustausch - nicht zuletzt aber auch durch das Bewusstsein der eigenen Verletzlichkeit.
Ihr Maß ist stets das Ergebnis einer Abwägung zwischen Sicherheitsinteressen und dem Wunsch nach einem liberalen, weltoffenen und humanen Lebensstil. Diese Abwägung trifft nicht nur die Politik. Millionen Menschen, die auch in den vergangenen Jahren Fußballstadien und Weihnachtsmärkte besucht, Flugzeuge und Eisenbahnen benutzt haben und ihren Mitmenschen offen, hilfsbereit und freundlich gegenüber getreten sind, haben diese Abwägung jeden Tag für sich getroffen. Sie – wir - alle waren vorbereitet darauf, dass die Bewährungsprobe für dieses Miteinander möglicherweise erst noch bevorsteht.