Muttersprache als Zeichen des Widerstandes

Belarussisch im Aufwind

Die erste belarussische Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch im Portrait
Bekam den Literaturnobelpreis 2015 und sprach bei der Preisverleihung ein paar Worte in ihrer Muttersprache: Die Belarussin Swetlana Alexijewitsch © Inga Lizengevic
Von Inga Lizengevic |
Als Swetlana Alexijewitsch den ersten Literaturnobelpreis für eine Weißrussin in Stockholm entgegen nahm, sprach sie auch ein paar Worte in ihrer Muttersprache: Belarussisch. Das war ein deutliches Zeichen an ihr Land.
Ich stehe mitten in der Menschenmenge in Terminal B des Minsker Flughafens. Alle sind hier, um Swetlana Alexijewitsch vom Flugzeug abzuholen. Einen offiziellen Empfang gibt es nicht für die erste Literaturnobelpreisträgerin des Landes. Die Menschen haben sich privat per Facebook zu Fahrgemeinschaften zusammengefunden.
Sie wollen die 68-Jährige bei ihrer Rückkehr aus Stockholm ehren. Viele haben weiß-rot-weiße Blumen in den Händen. Überall wird Belarussisch gesprochen. Beides, die Sprache und die Farben, sind Zeichen des zivilen Widerstands gegen die Diktatur, Bekenntnisse zu den Werten der Demokratie.
"Dass hier niemand Offizieller da ist, ist ganz klar – wir sind für uns und die Machthabenden sind für sich. Aber wir sind zusammen, und es gibt viele von uns – und man sollte nicht verzweifeln."
Sagt Swetlana Alexijewitsch, an die Fan-Gruppe gerichtet.
Wer sind diese "wir", die sich heute am Flughafen versammelt haben? Menschen unterschiedlichen Alters, alle gebildet. Sie wundern sich über die Gleichgültigkeit des offiziellen Minsk gegenüber der Preisträgerin und ergreifen selbst die Initiative. Und sie sprechen (fast alle) Belarussisch. Mit einigen komme ich ins Gespräch. Sie sind Teilnehmer eines Sprachkurses für die belarussische Sprache.
Die Teilnnehmer eines Sprachkurses für Belarussisch
Das Interesse an Belarussisch-Sprachkursen ist groß.© Deutschlandradio/Inga Lizengevic
"Wir sind zu dritt gekommen. Das ist mein Mann, und das ist unsere jüngere Freundin. Obwohl wir zu unterschiedlichen Altersgruppen gehören, sind wir zusammen hier. Wir gehen zusammen zu den Belarussisch-Kursen, zu Gleb Labadzenka, Mova Nanova. Da haben wir uns angefreundet."
"Gleb hat gesagt, wer zum Flughafen fährt, besteht die Zwischenprüfung. Ich spreche nur das Trasjanka, die Mischsprache, und würde die Prüfung wohl normalerweise nicht schaffen. Also dachte ich, so kriege ich die Prüfung doch gebacken."
"Die Kurse machen richtig Spaß! Man wird ja zu nichts gezwungen, man hört zu. Dann machen wir ein paar Grammatikübungen mit Alessia, und Gleb bringt uns die Vokabeln zu bestimmen Themen bei. Aber alles ohne Druck. Mit Leichtigkeit. Da gibt es auch Menschen in unserem Alter. Sie werden staunen - aber auch so viele Studenten. Und das wundert mich regelrecht. Alle haben ja viel zu tun – aber sie finden die Zeit um dahin zu kommen."

Besuch im Sprachkurs

Ich habe schon viel von diesen Sprachkursen gehört. Ich will den Unterricht besuchen, und mir selbst ein Bild davon machen.
Es ist Montag Abend. Ich befinde mich in dem weiß gestrichenen Ausstellungsraum einer Galerie. Sie trägt passenderweise den Namen eines nur in der belarussischen Sprache vorkommenden Buchstabens: Ў. Der Raum platzt aus allen Nähten. Gleb Labadzenka ist der ehrenamtliche Leiter des Kurses. Heute hat er den Astronomen Herrn Malyshchyts als Gast eingeladen. Das Thema: die Sterne.
"In meinem Vortrag möchte ich gerne über die astronomischen Begriffe in der belarussischen Sprache sprechen. Das Problem ist, dass die Astronomie in unserer Muttersprache leider gänzlich fehlt. Als ich angefangen habe, nach der Terminologie zu suchen, habe ich festgestellt, dass zum Teil gar keine astronomischen Begriffe existieren, oder keine einheitlichen."
Vor dem Astronomen stehen Reihen mit Klappstühlen. Alle Sitze sind belegt. Wer keinen Platz hat, steht. Im Nebenraum drängen sich weitere Menschen, insgesamt sind es um die 200. Großer Andrang für einen Sprachkurs. Aber schließlich es geht um etwas: Die Schüler wollen ihre Muttersprache lernen.
Gleb Labadzenka:
"Die Belarussen belügen sich selbst. Bei Umfragen wird oft die Frage gestellt, welche Sprache die Muttersprache ist. Dabei kommen fantastische Zahlen raus. 80 Prozent der Leute kreuzen Belarussisch als Muttersprache an. Gehen Sie Mal auf die Straße: Wo sind diese 80 Prozent? Verstecken die sich alle? Oder trauen sich nur die anderen 20 Prozent, auf die Straße? Daraus ist unser Konzept entstanden: genug mit den Lügen. Ihr beherrscht diese Sprache nicht!"

Belarussisch: hoch im Kurs

Alle Anwesenden haben in der Schule Belarussisch gelernt – genau wie ich. Wenn man die Worte hört, versteht man sie. Nur beim Sprechen wollen sie einem nicht einfallen. Es ist auch nicht unbedingt nötig, denn man spricht Russisch, die Sprache des großen Nachbarn.
Doch seit kurzem ist die eigene Sprache hier hoch im Kurs – zumindest bei denen, die mitreden wollen. Vor allem unter höher Gebildeten und in der unabhängigen Kulturszene, die sich im Verborgenen entwickelt hat. Ich frage den Künstler und Schriftsteller Artur Klinaŭ nach diesem Phänomen. Klinaŭ verfasst seine Bücher auf Belarussisch, und ist einer der bekanntesten Vertreter der unabhängigen Kulturszene.
"Sehr lange Zeit - sagen wir die letzten paar Jahrhunderte – galt die belarussische Sprache in Belarus als Zeichen von etwas Dörflichem, das war nicht die Sprache der Stadt. Wer in die Stadt kam, versuchte so schnell wie möglich, Russisch zu sprechen. Man hat dadurch seinen sozialen Status erhöht. Man wurde zu einem Städter.
Aber das, was heute mit der Sprache vor sich geht, das ist wirklich eine Revolution, eine sprachliche Revolution, weil sich in den letzten zehn Jahren der Status der Sprache vor unseren Augen radikal verändert hat. Wer heute belarussisch spricht, wird nicht mehr als Dorftrottel wahrgenommen, sondern als zugehöriger einer gebildeten Schicht. Die Sprache wird zur Sprache der Gebildeten und der Intellektuellen. Es ist eine absolut neue Existenz und Wahrnehmung der Sprache."
Das war schon ein Mal so, Anfang der 90er Jahre. Am Ende der Sowjet-Ära haben die Intellektuellen des Landes erkannt, dass die nationale Identität der Schlüssel zur Unabhängigkeit ist, zum europäischen Weg und zur Abkapselung vom großen Nachbarn. Belarussisch stand hoch im Kurs. Aber vielleicht lief alles zu schnell, um von der breiten Masse verstanden zu werden. Das hat auch Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch damals beobachtet.
"Als ich damals durchs Land gereist bin, habe ich die Menschen gefragt, für wen sie stimmen werden. Sie sagten – für Russland, also für Lukaschenka. Und als ich mich kürzlich in einem Dorf mit einem älteren Menschen unterhalten habe, habe ich gefragt, warum er kein Interesse an der belarussischen Sprache hat. Er sagte, werde ich mir etwa für die belarussische Sprache Wurst kaufen können?
Er ist ein Mensch, ein gewöhnlicher Mensch, ein Spießbürger in unserem Land. Im Baltikum oder in Polen ist es nicht so. Aber hier bei uns gilt: Hauptsache überleben. Das wichtigste ist, einen Sack Kartoffeln zu haben."

Die Nobelpreisträgerin schreibt auf Russisch

Swetlana Alexijewitsch selbst spricht Russisch. Und auch ihr Werk ist in Russisch verfasst. Ihr Thema ist die Geschichte des "roten Menschen" – des "Sowjetmenschen". Sie selbst sieht sich als ein Teil dieser Ära, doch bei der Preisverleihung für den Nobelpreis in Stockholm fand sie auch einige Worte in belarussischer Sprache für ihre belarussischen Leser. In den einschlägigen Kreisen wurde das mit großer Freude wahrgenommen.
"In Belarus gibt es sehr viele Russen. Nach dem Krieg gab es wenige Männer, und viele sind aus Russland her gezogen. Und alles war ja auf Russisch. Deswegen muss man sich im Klaren darüber sein, dass das Volk Russisch spricht, auch diejenigen, die sich als Belarussen bezeichnen.
Das ist wirklich ein großes Problem. In den 90-ern, als die Soros-Stiftung belarussische Lehrbücher ins Land brachte, da gab es auch belarussische Bücher für Kleinkinder – damals gab es eine Wiederbelebung der Sprache. Und jetzt haben wir 20 Jahre verloren. Das ist ein ganz großes Problem."
Auch wenn Swetlana Alexijewitsch selbst Russisch spricht – so wie Präsident Lukaschenka, gehört sie doch zu den bekanntesten Regimegegnern. Und dafür wird sie regelmäßig bestraft. Weder werden die Bücher der Literaturnobelpreisträgerin im Land veröffentlicht, noch darf sie ihre Leser treffen. Die gelten gemeinhin als "Aufmüpfige" in Belarus. Oft zu finden in der Kulturszene. Aber die ist im Zehn-Millionen-Einwohner-Land eher klein und schmort im eigenen Brei. Über Zuwachs durch die Sprachkurse freut sich Sprachlehrer Gleb Labadzenka sichtlich.
"Wir waren sehr überrascht, das viele neue Menschen kamen. Im belarussischen Umfeld kennt jeder jeden. Die kulturellen Veranstaltungen finden immer im gleichen engen Zirkel statt. Leider. Und als wir gesehen haben, dass wir von den 300 Leuten die zu uns kamen, vielleicht zehn bis 15 kannten, da war das für uns eine große Freude.
Die eine Hälfte sind Studenten – die andere Hälfte sind Erwachsene. Das sind Menschen, die noch in der Sowjetunion aufgewachsen sind. So um die 50 und älter. Und sie sagen, für sie sei es nicht zu spät, sich der Sprache zu nähern. Früher gab es diese Möglichkeit nicht. Es ist ja bekannt, wie die Russifizierung zur Sowjetzeit ablief und sie dauert ja auch an."

Die Kulturszene setzt sich für die Muttersprache ein

Die Kulturszene in Belarus sieht ihre Aufgabe in der Umsetzung der nationalen Idee. Das bedeutet, dass sie das Land auf lange Sicht vom heimischen Diktator und aus der Umklammerung des übermächtigen Nachbarn lösen will. Die Aktivitäten sind dabei auf die im eigenen Land so wenig geliebte und geachtete Muttersprache gerichtet.
In der Sprache sieht man den Schlüssel zur nationalen Identität. Beginnen die Menschen, belarussisch zu sprechen und ihre eigene Kultur zu lieben, werden sie die Kraft aufbringen, die russische Vorherrschaft zu beenden. Soweit die Theorie. In der Praxis gibt es inzwischen in elf Städten kostenlose Belarussisch-Kurse von "Mova Nanova" und von anderen Anbietern. Für allgemein Interessierte, speziell für Informatiker und sogar für Kinder. Das Interesse wächst.
"Der belarussische Faktor ist erst kürzlich entstanden. Wegen der Krim. Als die Belarussen verstanden haben, wie es gehen kann. Besonders die neue Generation hat alles genau verfolgt. Das ist der Grund, warum Belarussisch gerade so im Trend ist und auch die Ethnostickereien, die Wyschywankas, zu tragen in Mode gekommen ist. Das ist der Wunsch nach einer nationalen Identität, die es bisher nicht gibt."

Das Beispiel Ukraine beunruhigt

Erzählt Swetlana Alexijewitsch über die traditionellen Stickereien, deren Geschichte bis ins Mittelalter zurück reicht. Hin- und her gerissen zwischen Hoffen und Bangen – das ist der Zustand der intellektuellen Elite im Land angesichts der Ereignisse in der Ukraine. Dabei ist die Ukraine durchaus ein Vorbild für Belarus - doch den Belarussen fehlt der Glaube an die eigene Kraft, so Historiker Uladzimir Arloŭ:
"Es ist klar, dass die Politik der Russifizierung, die uns das Regime von Lukaschenka vorsetzt, ein schrecklicher, ungemein hoher Preis für die russischen Vergünstigungen ist. Für das billige Öl und Gas. Russland ist nicht daran interessiert, dass unser Staat vollwertig ist, ein hohes kulturelles Niveau hat, ein starkes Nationalbewusstsein mit einer eigenen Sprache.
Es gibt so einen Spruch, dass die Sprache die Grenzen eines Landes viel besser schütze, als eine Armee. In Belarus haben wir eine andere Situation. Die Sprache schützt die Grenzen unseres Staates nicht – aufgrund der Politik unserer heutigen Regierung."
Bei den Sprachkursen in Minsk ist Politik Tabu. Es geht nur um gesellschaftliche Themen, nie um politische. So schützt man die Existenz der Kurse vor möglichen Repressalien, sagt Leiter Labadzenka.
"Das Format der Kurse ist sehr einfach. Das einzige, was man tun muss: Anwesend sein - ein Mal pro Woche. Der Unterricht ist kostenlos. Die Hörer bekommen alle Informationen. Sie bekommen Papiere mit Vokabeln und Grammatik. Später kann man alles auf der Internetseite nachlesen. Bei uns herrscht eine freundliche Atmosphäre und man muss sich auch nicht melden, wenn man das nicht will. Wir haben fast immer Musiker zu Besuch. Nach zwei Stunden Unterricht ist das eine willkommene Abwechslung am Montagabend."
Der weißrussische Musiker Lavon Volski
Der Musiker Lavon Volski singt ausschließlich in seiner Muttersprache Belarus.© Deutschlandradio / Inga Lizengevic
Heute Abend ist Rockstar Lavon Volski für die musikalische Einlage zuständig. Er ist einer der bekanntesten Künstler des Landes und Vorreiter für die belarussische Sprache. Alle seine Texte sind auf belarussisch verfasst, und auch privat kommt kein Wort Russisch über seine Lippen.
Lavon Volski singt von den zwei Hälften der Seele der Bewohner von Minsk. Über die Unmöglichkeit, das Minsk der Träume – gemütlich und belarussischsprachig - mit dem Minsk des heutigen Belarus zu vereinen.
Seit der Annexion der Krim hat die belarussischsprachige Parallelgesellschaft, die der Regierung kritisch gegenübersteht, eine größere Anziehungskraft bekommen. Die belarussischen Sprachkurse tragen dazu bei. Ihre Zahl steigt.

Das Regime hat reagiert

Und so wächst auch die Anhängerschaft der kulturellen Opposition. Dem Regime ist diese neue Entwicklung nicht entgangen, und man bekommt den Eindruck, als würde die Staatsführung versuchen, sich den Trend einzuverleiben. So ist immer öfter auch bei offiziellen Anlässen das sonst gemiedene Belarussisch zu hören. Sogar vom Staatschef. Auch Schriftsteller Klinaŭ beobachtet diese Entwicklung.
"In den ersten Jahren der Präsidentschaft von Lukaschenka wurde Belarussisch zu einem absoluten Synonym der Opposition. Belarussisch wurde zur Attitude der Opposition, etwas was ihm feindlich ist. Also hat er viele Jahre versucht, den Belarussismus zu bekämpfen. Die Sprache, die für ihn gefährlich ist.
Nun fängt die Situation an, sich zu verändern. Die Belarussische Sprache ist für die Regierung nicht mehr nur ein Attribut der Gefahr und der Feindlichkeit. Sie verstehen, dass sie sich dieses Attribut einverleiben könnten. Oder es auf ihre Seite ziehen. In einer gewissen Situation könnte das diese Regierung stärken."
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