Muttersuche und Mutterfindung
Allein zurückgelassen: In seinem Roman "Rabenliebe" macht Peter Wawerzinek seine eigene Geschichte erneut zum Gegenstand seiner Prosa. Seine Mutter ließ ihn damals in der DDR zurück, als sie in den Westen ging.
Das Fehlen von "Mutterfühlen" und die Ahnung, dass es ein "Mutterversteck" geben muss, in dem sich die abwesende Mutter aufhält, sind Vermutungen des Jungen, der im Zentrum von Peter Wawerzineks Roman "Rabenliebe" steht.
Der Autor, der 1990 mit "Nix" debütierte und sich durch "Das Kind das ich war" (1994) und "Mein Babylon" (1995) einen Namen als Autor der Szene des Prenzlauer Berg machte, erzählt in seinem autobiografischen Comeback "Rabenliebe" von dem "Mutterpaket", das er zu tragen hat. Seine Mutter ließ den Jungen in der DDR zurück, als sie in den Westen ging. Peter Wawerzinek, der eigentlich Peter Runkel heißt, wuchs in den 1950er/60er Jahren in verschiedenen Kinderheimen und bei Adoptiveltern im Norden der DDR auf. Die Erfahrung, dass ihn die Mutter allein zurückgelassen hat, prägten den Heranwachsenden nachhaltig.
Der "Mutterverlust" ist das Trauma von Wawerzineks Kindheit, von dem er in dem sich in zwei Teile gliedernden Roman erzählt. Der erste handelt von der "Muttersuche", der zweite von der "Mutterfindung". Peter Wawerzinek ist, um ein Wort seiner ebenfalls mutterlos aufgewachsenen Kollegin Helga M. Novak aufzugreifen, "beschadet". An Merkmalen fallen einem befreundeten Psychologen auf: die Sucht, ständig im Mittelpunkt zu stehen, der Hang, Gefühle durch Alkohol zu betäuben, Streitlust, eine Manie zur Verschwendung, Mangel an Liebesfähigkeit. Es gibt in Wawerzineks Buch unzählige "Mutterkonstruktionen", die von dem Bemühen begleitet sind, sich zu "entheimen".
Der diesjährige Bachmann-Preisträger, der auch auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2010 zu finden ist, beschreibt, wie die nie zum Erliegen kommende "Muttersehnsucht" zu einer "Mutterexpedition" führt, mit deren Vorbereitungen Wawerzinek im Alter von vierzehn Jahren beginnt. Er ist fast fünfzig, als er die Telefonnummer seiner Mutter herausfindet und es braucht weitere drei Jahre, bis er in der Lage ist, sie aufzusuchen. Das "Mutterwissen" ist kein "Ruhekissen".
Dazwischen liegen jene Jahre, die er in Kinderheimen verbringt: "Der Staat ist mein Kummerflügel. Das Heim ist meine Achselhöhle. Ich komme ohne Vater und Mutter aus." Das Heim bleibt die annehmbare Alternative, bis er im Alter von zehn Jahren – nach zwei gescheiterten Versuchen – adoptiert wird. Im Ehebett der Adoptiveltern ist sein Platz zwischen ihnen. Dort, wo ein Spalt wie ein Abgrund klafft, darf er schlafen. Die "Adoptivmutter" versteht sich aufs "Therapiespielen", aber sie ist unfähig, ihm "Mutterersatz" zu werden. Er wird zum Objekt ihrer erzieherischen Versuche und muss entbehren, was er am dringlichsten benötigt hätte: "Mutterliebe".
Wärme ist in diesem Roman ein Sehnsuchtswort, das eine Verbindung mit der abwesenden Mutter eingeht. Es herrscht klirrende Kälte angesichts des Schnees, der auf den Worten liegt, die Wawerzinek findet, um über seinen notwendigen Aufbruch zur Mutter schreiben zu können. Er muss sich ihr nähern, um Abstand zu gewinnen. Seine "Mutterfahrt" wird zu einer Expedition ins ewige Eis, bei der er vom Raben, seinem "Lebensvogel" begleitet wird. Der aber symbolisiert eigentlich den Tod.
Peter Wawerzinek, ein großartiger Erzähler, hat sich mit diesem beeindruckenden Roman über eine/seine "Rabenmutter" eindrucksvoll zurückgemeldet. Es ist ein Glück für die Literatur, dass er wieder da ist. Vielleicht ist es ihm ein Trost, dass ihn nicht die Eine, aber viele vermisst haben!
Besprochen von Michael Opitz
Peter Wawerzinek: Rabenliebe
Roman. Galiani Berlin, Berlin 2010
432 Seiten, 22,95 Euro
Der Autor, der 1990 mit "Nix" debütierte und sich durch "Das Kind das ich war" (1994) und "Mein Babylon" (1995) einen Namen als Autor der Szene des Prenzlauer Berg machte, erzählt in seinem autobiografischen Comeback "Rabenliebe" von dem "Mutterpaket", das er zu tragen hat. Seine Mutter ließ den Jungen in der DDR zurück, als sie in den Westen ging. Peter Wawerzinek, der eigentlich Peter Runkel heißt, wuchs in den 1950er/60er Jahren in verschiedenen Kinderheimen und bei Adoptiveltern im Norden der DDR auf. Die Erfahrung, dass ihn die Mutter allein zurückgelassen hat, prägten den Heranwachsenden nachhaltig.
Der "Mutterverlust" ist das Trauma von Wawerzineks Kindheit, von dem er in dem sich in zwei Teile gliedernden Roman erzählt. Der erste handelt von der "Muttersuche", der zweite von der "Mutterfindung". Peter Wawerzinek ist, um ein Wort seiner ebenfalls mutterlos aufgewachsenen Kollegin Helga M. Novak aufzugreifen, "beschadet". An Merkmalen fallen einem befreundeten Psychologen auf: die Sucht, ständig im Mittelpunkt zu stehen, der Hang, Gefühle durch Alkohol zu betäuben, Streitlust, eine Manie zur Verschwendung, Mangel an Liebesfähigkeit. Es gibt in Wawerzineks Buch unzählige "Mutterkonstruktionen", die von dem Bemühen begleitet sind, sich zu "entheimen".
Der diesjährige Bachmann-Preisträger, der auch auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2010 zu finden ist, beschreibt, wie die nie zum Erliegen kommende "Muttersehnsucht" zu einer "Mutterexpedition" führt, mit deren Vorbereitungen Wawerzinek im Alter von vierzehn Jahren beginnt. Er ist fast fünfzig, als er die Telefonnummer seiner Mutter herausfindet und es braucht weitere drei Jahre, bis er in der Lage ist, sie aufzusuchen. Das "Mutterwissen" ist kein "Ruhekissen".
Dazwischen liegen jene Jahre, die er in Kinderheimen verbringt: "Der Staat ist mein Kummerflügel. Das Heim ist meine Achselhöhle. Ich komme ohne Vater und Mutter aus." Das Heim bleibt die annehmbare Alternative, bis er im Alter von zehn Jahren – nach zwei gescheiterten Versuchen – adoptiert wird. Im Ehebett der Adoptiveltern ist sein Platz zwischen ihnen. Dort, wo ein Spalt wie ein Abgrund klafft, darf er schlafen. Die "Adoptivmutter" versteht sich aufs "Therapiespielen", aber sie ist unfähig, ihm "Mutterersatz" zu werden. Er wird zum Objekt ihrer erzieherischen Versuche und muss entbehren, was er am dringlichsten benötigt hätte: "Mutterliebe".
Wärme ist in diesem Roman ein Sehnsuchtswort, das eine Verbindung mit der abwesenden Mutter eingeht. Es herrscht klirrende Kälte angesichts des Schnees, der auf den Worten liegt, die Wawerzinek findet, um über seinen notwendigen Aufbruch zur Mutter schreiben zu können. Er muss sich ihr nähern, um Abstand zu gewinnen. Seine "Mutterfahrt" wird zu einer Expedition ins ewige Eis, bei der er vom Raben, seinem "Lebensvogel" begleitet wird. Der aber symbolisiert eigentlich den Tod.
Peter Wawerzinek, ein großartiger Erzähler, hat sich mit diesem beeindruckenden Roman über eine/seine "Rabenmutter" eindrucksvoll zurückgemeldet. Es ist ein Glück für die Literatur, dass er wieder da ist. Vielleicht ist es ihm ein Trost, dass ihn nicht die Eine, aber viele vermisst haben!
Besprochen von Michael Opitz
Peter Wawerzinek: Rabenliebe
Roman. Galiani Berlin, Berlin 2010
432 Seiten, 22,95 Euro