Muttis Memmen

Von Erik von Grawert-May |
Noch ehe Christian Wulff letztes Jahr ins Präsidialamt einzog, hielt er eine begeisternde Rede über die Männer des 20. Juli. Es klang so, als wolle er ihren Widerstand nicht nur ehren, wie jedes Jahr, sondern ihn auch als politisches Vermächtnis verstehen.
Kein Ereignis der deutschen Politik in der jüngsten Vergangenheit wäre geeigneter gewesen, dieses Vermächtnis in die Tat umzusetzen, als die Entscheidung zum militärischen Einsatz in Libyen. Die Widerständler des 20. Juli 1944 richteten sich gegen einen Diktator, der sogar sein eigenes Volk der Vernichtung preisgab. Nun, im Jahr 2011, gegen einen Tyrannen aufzustehen, der dabei ist, seinen Landsleuten das gleiche Schicksal zu bereiten: Wäre es nicht eine logische Folgerung für die Politik der Bundesregierung gewesen?

So verdienstvoll es ist, den Widerstand gegen Hitler jedes Jahr erneut offiziell in Erinnerung zu rufen, so enttäuschend ist die Umsetzung ins Praktische. Die Festansprachen drohen zu Sonntagsreden zu verkommen. Angenommen, der Bundespräsident hätte Anfang des Jahres zum Libyenkonflikt öffentlich Stellung bezogen – und zwar gegen die Entscheidung, sich aus dem Konflikt militärisch herauszuhalten -, was wäre gewesen? Angenommen, er wäre in diesem Punkt für europäische Geschlossenheit eingetreten und hätte darüber hinaus die "responsibility to protect" angemahnt, inzwischen in aller Munde, das heißt die Verantwortung der Welt für die durch ihre eigene Regierung in tödliche Bedrängnis geratenen Libyer – hätte er die Koalition gefährdet?

Man weiß es nicht. Man weiß nur seit den Interviews, die der Präsident zur Bilanz seines ersten Amtsjahres gegeben hat, dass er die Enthaltung der Bundesregierung im UN-Sicherheitsrat nicht guthieß. Auf Fragen eines Journalisten, warum er bei so wichtigen Entscheidungen seine Stimme nicht erhebe, reagierte er eher achselzuckend: Der Präsident dürfe sich nicht ins politische Tagesgeschäft einmischen. Trotzdem: Er wird wissen, dass die Enthaltung im Libyenkonflikt weit übers Tagesgeschäft hinausragt.

Was ist mit dem Präsidenten geschehen? Wahrscheinlich ließ sich Christian Wulff nach seinen ersten Auftritten den Schneid abkaufen. Vielleicht erwog er im Stillen, zur Libyenfrage das Wort zu ergreifen und ließ es dann doch, da es womöglich einen offenen Konflikt mit der Regierung heraufbeschworen hätte. Wulff ist kein Einzelfall. Auch Thomas de Maizière soll die Politik der Enthaltung nicht gutgeheißen, aus Loyalität zur Bundeskanzlerin jedoch geschwiegen haben. Was wäre es für ein Start als neuer Verteidigungsminister gewesen, wenn er kühn seine abweichende Meinung in die Debatte geworfen hätte! Wir wären heute alle nicht so beschämt, einem Tyrannen keinen Widerstand geleistet zu haben.

Auf die Kanzlerin kommt es an. Präsident wie Verteidigungsminister sind ihre Zöglinge. Ist es so, dass sie ihr, die alle die "Mutti" nennen, nicht am Zeug flicken wollen, auch wenn sie eine unverzeihlich falsche Entscheidung fällt? Hängen sie gar an ihren Rockschößen? Dann wären sie nur Mamis Memmen.

Wir brauchen keine Memmen, wir brauchen Männer vom Schlage des 20. Juli, wenn wir gegen Tyrannen wie den Libyer zu Felde ziehen wollen. Gerne auch Frauen, aber nur, wenn sie die Statur jener einflussreichen Amerikanerinnen besitzen, die den anfangs zögernden Barack Obama dazu brachten, sich letztlich doch in Libyen zu engagieren.

Gelegenheiten bei uns, sich von den Rockschößen der Kanzlerin zu lösen, gibt es immer wieder. Kaum vernehmbar – aber immerhin – kritisierte der Bundespräsident die Geheimnistuerei der Regierung beim Rüstungsexport nach Saudi-Arabien. Der Verteidigungsminister hat unterdessen offen f ü r den Export votiert: Die strategische Logik dominiere in diesem Fall die der Menschenrechte. Doch damit setzt er nur die Politik der Enthaltung fort und verschärft die politische Schieflage. Eine Emanzipation von Mami sähe anders aus.

Erik von Grawert-May, Publizist und Unternehmer

Erik von Grawert-May, Publizist und Unternehmensethiker. Geboren in der Lausitz, lebt in Berlin. Letzte Veröffentlichung: "Die Hi-Society" (2010). Weitere Informationen über ihn im Internet.