Myanmar vor der Parlamentswahl

Von der Militärdiktatur zur Demokratie?

Ein Händler sitzt an einer Straße der burmesischen Metropole Yangon. Ein neue, große Autos fahren vorbei, eine Frau mit Kopftuch führt zwei Kinder an der Hand.
Straßenszene in der burmesischen Metropole Yangon, dem früheren Rangun © Deutschlandradio / Maximilian Kuball
Von Maximilian Kuball |
Fast 50 Jahre lang herrschte in Myanmar eine Militärdiktatur. Seit 2010 erlebt das Land einen rapiden Wandel: Die Wirtschaft wurde liberalisiert, politische Gefangene kamen frei. Nun steht die erste Parlamentswahl seit der Öffnung des Landes an.
Hoch im Norden von Myanmar, kurz vor der Grenze zu China, ist der Ort, an dem alles begann: Hier, wo sich die Flüsse N'Mai und Mali vereinen, entsteht die Lebensader Myanmars: Der Irrawaddy. Über 1600 Kilometer durchfließt er das Land von Nord nach Süd. Nach dem Verständnis der Burmesen ist dieser idyllische Ort der Ursprung ihrer Nation.
Und auch das jüngste Kapitel in der Geschichte der Burmesen nahm hier seinen Anfang: Mit einem Baustopp. Nur wenige Kilometer flussabwärts sollte einer der weltgrößten Staudämme entstehen, finanziert und geplant von einem chinesischen Konsortium. Durch den Damm wäre das ganze Tal für immer im Stausee versunken. Für Khum Naw Kham eine schreckliche Vorstellung:
"Die meisten in unserem Dorf sind Bauern. Wenn das alles hier geflutet wird, haben wir Bauern kein Land mehr. Wir sind sehr besorgt!"
Khum Naw Kham ist 62 Jahre alt, sein ganzes Leben hat er hier am Ursprung des Irrawaddy verbracht. Wie jeden Tag sitzt er in einem der kleinen Restaurants am Hochufer und schaut auf den Fluss. Einige wenige Touristen besuchen den für Burmesen mythischen Ort, beten in dem prächtigen Tempel mit dem goldenen Dach und lassen sich in bunten Langbooten über die drei Flussarme fahren. Nur das Knattern der Außenbordmotoren durchbricht hin und wieder die stille und friedliche Szenerie.
"Unsere Umwelt ist uns sehr wichtig. Diese unberührte Landschaft haben wir von unseren Vorfahren geerbt. Wir sollten nicht diejenigen sein, die sie zerstört. Wir sind auf den Fluss und die Natur angewiesen, daher sollten wir sie achten."
Khum Naw Kham genießt die warme Mittagssonne und das Zwitschern der Vögel. Dass er das noch kann, liegt am Wandel in seinem Land: Kurz nach seiner Wahl stoppte Präsident Thein Sein, ein früherer General, im September 2011 das umstrittene Staudamm-Projekt – ein Meilenstein in der Transformation Myanmars: Zum ersten Mal hatte die Regierung auf den Willen des Volkes gehört. Solange er regiere, werde das Projekt nicht fortgesetzt, so Thein Sein damals. Khum Naw Kham hofft, dass das auch so bleibt:
"Es gibt Gerüchte, dass das Staudamm-Projekt endgültig gestoppt werden soll. Das wäre sehr gut für uns, dann können wir in unserem Dorf bleiben und so leben wie zuvor."
Darüber zu entscheiden ist Sache der Politik. Khun Naw Kham hofft, dass auch die nächste Regierung den Bau nicht fortsetzen wird. Der Ausgang der Wahl könnte für ihn und die anderen Dorfbewohner also von existentieller Bedeutung sein.

Porträtfoto des burmesischen Bauern Khum Naw Kham
Der burmesische Bauer Khum Naw Kham© Deutschlandradio / Maximilian Kuball
Doch das gilt natürlich für alle der gut 50 Millionen Burmesen. Ist dem Reform-Prozess zu trauen? Sind die Generäle wirklich bereit, Macht an das Volk abzugeben? Fragen, die man sich auch gut 1000 Kilometer weiter südlich stellt, in der Metropole Yangon, dem früheren Rangun.
Hier wird schon im Straßenbild sichtbar, dass zumindest die wirtschaftlichen Reformen der letzten Jahre irreversibel sind. Wo noch vor zwei Jahren wenige, klapprige Autos unterwegs waren, stehen jetzt neueste japanische Fabrikate im Dauerstau. Mitten in der Stadt wird Land hektarweise freigeräumt, um neue Wohnsiedlungen hochzuziehen, vor allem für Reiche – und für die Angestellten ausländischer Konzerne. Und von denen kommen immer mehr.
Aus Sicht von Investoren ist Myanmar auf einem guten Weg
Das erste deutsche Dax-Unternehmen vor Ort ist Henkel, vertreten von Jens Knoke:
"Myanmar, ein Land, das sich seit 2011 öffnet, was eigentlich relativ jungfräulich ist, was die internationale Markenwelt angeht, ist natürlich definitiv eine Option. Und die Frage, die wir uns gestellt haben, war: Macht der Markt Sinn, ist er interessant? Ist er!"
Seit zwei Jahren ist Henkel nun mit seinen Waschmitteln auf dem Markt. Und das in einem Land, in dem mangels Strom noch weitgehend per Hand gewaschen wird. Selbst in Yangon haben nur 15 Prozent der Haushalte eine Waschmaschine. Knoke ist überzeugt, dass sich das schnell ändern wird. Der allgemeine Wandel ist so rasend schnell, dass die Regierung mit der Neufassung der Wirtschafts-Gesetze kaum hinterherkommt:
"Jede Woche kommen neue Gesetze raus. Den Job, den die Jungs da haben, den möchte ich nicht machen. Der Druck ist da so hoch und die Erwartungshaltung ist so gigantisch hoch, ein Land von Schwarz auf Weiß zu drehen innerhalb ganz kurzer Zeit. Die machen eine ganze Menge Fehler, aber meine persönliche Meinung: Die machen einen ziemlich guten Job!"
Zumindest aus Sicht der internationalen Investoren ist Myanmar also auf einem guten Weg. Doch das ist natürlich nur die eine Seite der Medaille. Die andere ist, wie die Bevölkerung diesen Wandel verkraftet:
"Dies ist eine unglückliche Übergangszeit, viele Leute sind immer noch unglücklich: Die Lebensqualität ist immer noch sehr gering, das Einkommen auch, die Verfassung ist nicht perfekt, Korruption grassiert weiterhin. Und das wird auch noch eine ganze Weile so bleiben",
sagt Dr. Min Zaw Oo. Nach 21 Jahren im politischen Exil kam er nach Myanmar zurück, um die reformerischen Kräfte in der Regierung zu unterstützen. Nun arbeitet er für das regierungsnahe Myanmar Peace Center und versucht, die tiefen Gräben zwischen den verschiedenen Gruppen der Gesellschaft zu überbrücken:
"Es gibt Konflikte zwischen Bürgern, Unternehmen und der Regierung wegen illegalem Landraub; wir haben protestierende Arbeiter, protestierende Studenten; wir haben religiöse Konflikte zwischen Buddhisten und Muslimen: Es gibt alle möglichen Konflikte."
Gerade die religiösen Spannungen haben international viel Beachtung erfahren: Etwa das Schicksal der muslimischen Rohingya-Minderheit im Westen des Landes. Als Bürger zweiter Klasse ohne Papiere sind sie täglicher Diskriminierung und Gewalt ausgesetzt. Oder die pogromartigen Ausschreitungen in mehreren Städten mit insgesamt Hunderten Toten – angestachelt von radikalen buddhistischen Mönchen.
Eine besonders radikale Gruppe nennt sich "Vereinigung zum Schutz von Rasse und Religion", besser bekannt unter ihrem Akronym Ma Ba Tha. Die Mönche haben ihr Hauptquartier auf dem Gelände einer buddhistischen Klosterschule am Rand von Yangon. Am frühen Morgen ruft die Schulglocke Hunderte junger Mönche zum Unterricht. Drinnen verbreitet Aung Myaing, Mitglied im zentralen Leitungs-Komitee von Ma Ba Tha, seine Thesen:
"Die Bengalen sind aus Bangladesch zu uns gekommen, um sich hier niederzulassen. Sie begehen schwere Verbrechen, zum Beispiel vergewaltigen sie unsere Frauen. Und sie versuchen, so viele burmesische Frauen wie möglich zu heiraten. Also müssen wir sie vor diesen schweren Verbrechen schützen."
Um diese vermeintliche Islamisierung Myanmars zu stoppen, haben die radikalen Mönche von Ma Ba Tha ein Paket von vier sogenannten "Rasse- und Religionsgesetzen" ins Parlament eingebracht. Ohne, dass die Muslime explizit genannt werden, ist doch klar auf wen sie abzielen: So schreibt eine Maßnahme Frauen vor, höchstens alle drei Jahre ein Kind zu bekommen – andernfalls droht ihnen Zwangsverhütung. Die weiteren Gesetze verbieten Polygamie, erschweren Konvertierungen und verhindern Hochzeiten zwischen Angehörigen verschiedener Religionen:
"Es gibt viele Fälle, in denen buddhistische Frauen nach der Hochzeit gezwungen wurden, die Religion ihrer Männer anzunehmen. Das Gesetz soll diese buddhistischen Frauen schützen und erzwungene Konvertierungen verhindern",
sagt Aung Myaing von den besorgten Buddhisten der Gruppe Ma Ba Tha. Mittlerweile sind alle vier Gesetze verabschiedet und von Präsident Thein Sein in Kraft gesetzt worden. Entsprechend eingeschüchtert sind die burmesischen Muslime.
Eine schiitische Moschee mitten im Trubel von Yangon. Imam Bakr Mohammedi wählt seine Worte vorsichtig, um kein weiteres Öl ins Feuer zu gießen. Er betont, dass vor allem die Muslime auf dem Land große Angst hätten. Allerdings gehe die Gewalt nur von einer kleinen Minderheit der Buddhisten aus. Bakr Mohammedi appelliert daher an die Regierung, sich für mehr Toleranz einzusetzen:
"Die Regierung ist dafür verantwortlich, dass der Zusammenhalt zwischen Muslimen und Buddhisten wieder aufgebaut wird. Schließlich haben beide Gemeinschaften über Jahrhunderte friedlich nebeneinander gelebt. Es ist also Aufgabe der Regierung, das Thema anzusprechen."
Politisch hat sich bisher nicht viel verändert

Verfolgte muslimische Minderheit: Rohingyas in Myanmar
Die muslimischen Ethnie der Rohingyas wird in Myanmar verfolgt.© Deutschlandradio / Udo Schmidt
Ob die sich für solche Appelle der Muslime interessiert? Denn trotz der großen Euphorie im Westen über die vermeintliche Demokratisierung Myanmars: Bisher hat sich politisch gar nicht so viel verändert: Regierung und Verwaltung sind weiter fest in den Händen ehemaliger Offiziere. Die Parlamentswahl am Sonntag ist also der erste große Test, ob die Generäle es ernst meinen mit der Demokratie. Min Zaw Oo vom Myanmar Peace Center glaubt daran:
"Wenn es größere Wahl-Fälschungen geben sollte, würde das all die Anstrengungen der letzten fünf Jahre zunichtemachen. Um das Vermächtnis der aktuellen Regierung zu sichern, muss die Wahl also frei und fair sein – unter den Bedingungen der geltenden Verfassung."
Die Verfassung ist es allerdings auch, die dem Militär weiterhin eine Beteiligung an der Macht sichert – egal wie die Wahl ausgeht. Ein Viertel der Sitze im Parlament ist automatisch für das Militär reserviert, die Bevölkerung stimmt allein über die restlichen 75 Prozent der Sitze ab. Ein Machtwechsel gelingt also nur, wenn deutlich mehr als die Hälfte der Bevölkerung gegen das Militär stimmt. Außerdem enthält die Verfassung eine Klausel, die es Oppositionsführerin Aung San Suu Kyi verbietet, Präsidentin ihres Landes zu werden – weil ihre beiden Söhne britische Staatsbürger sind. Ihre Partei, die Nationale Liga für Demokratie - kurz NLD - müsste also im Fall eines Wahlsiegs einen Ersatzkandidaten zum Präsidenten küren. Aber selbst eine Mehrheit für die NLD hält Min Zaw Oo nicht für selbstverständlich:
"Unsere Wahlforschung hat ergeben, dass die NLD in den großen Städten wie Yangon und Mandalay mit mehrheitlich burmesischer Bevölkerung wahrscheinlich gewinnt. Aber in den Gebieten der ethnischen Minderheiten sieht es anders aus: Dort werden die Parteien der ethnischen Minderheiten immer stärker."
Daher rechnet Min Zaw Oo damit, dass die NLD Koalitionspartner brauchen wird, um eine Regierung gegen das Militär zu bilden. Den politischen Parteien der ethnischen Minderheiten könnte also die Rolle der Königsmacher zufallen. Doch nicht nur als Mehrheitsbeschaffer sind die ethnischen Minderheiten entscheidend. Noch wichtiger für die Zukunft des Landes ist die Frage, ob sie sich mit der Regierung auf ein Ende der jahrzehntelangen Bürgerkriege einigen können:
"Wir verlangen unsere Rechte! Rechte, die die Regierung uns vorenthält: Und zwar Gleichheit, Autonomie und echten Föderalismus",
fasst Oberst Hkun Nawng die Forderungen der Minderheiten zusammen. Sie machen etwa 30 Prozent der Bevölkerung Myanmars aus. Und in fast jeder der zahlreichen Ethnien gibt es auch eine Gruppe bewaffneter Rebellen, die militärisch für eine größere Selbstverwaltung kämpfen. Hkun Nawng selbst ist Angehöriger der Kachin ganz im Norden des Landes und arbeitet für die Kachin Independence Organization oder kurz KIO. Zu seinen Aufgaben gehören die Verhandlungen mit der Regierung über einen landesweiten und dauerhaften Waffenstillstand. Die Verhandlungen empfindet er aber als unfair:
"Eine der Voraussetzungen des Abkommens ist, dass alle Rebellengruppen zu legalen Organisationen werden sollen: Wir sollten also alle unsere Waffen abliefern, um so etwas wie eine politische Partei zu werden. Das Abkommen sagt aber nichts darüber, was nach der Unterzeichnung passiert. Wie wird der politische Dialog ablaufen? Nichts davon. Ohne Garantien werden wir das nicht unterschreiben."
Und tatsächlich: Als vor einigen Wochen ein "landesweites Waffenstillstands-Abkommen" unterzeichnet wurde, war die KIO nicht dabei, nur acht der 15 Rebellengruppen am Verhandlungstisch unterschrieben. Trotzdem gilt der Abschluss des Abkommens kurz vor der Wahl als großer Erfolg für Präsident Thein Sein, der das Thema von Anfang an ganz oben auf seine Agenda gesetzt hatte. Im Gebiet der Kachin-Minderheit ist dennoch erstmal kein dauerhafter Frieden in Sicht.
Die Sonne geht über dem burmesischen Fluss Irrawaddy in Myanmar. Ein Boot fährt auf dem Wasser.
Sonnenuntergang am burmesischen Fluss Irrawaddy© Deutschlandradio / Maximilian Kuball
Dazu trägt auch die ungelöste Staudamm-Frage bei, die nach der Wahl unweigerlich zurück auf die Tagesordnung kommen wird: Dürfen die Chinesen das Projekt fortsetzen und den Irrawaddy aufstauen? Das beschäftigt auch den früheren Bauern Khum Naw Kham. Auf seinem Platz hoch über dem Zusammenfluss des Irrawaddy kratzt er sich nachdenklich am Kopf. Natürlich hofft er darauf, dass seine Heimat erhalten bleibt. Doch so oder so: Vor allem will er, dass die Unsicherheit endlich ein Ende hat:
"Die Regierung hat versprochen, uns beim Umzug in ein neues Dorf großzügig zu unterstützen. Aber nun wurde das Projekt auf Eis gelegt – und damit auch unsere Unterstützung. Jetzt sind wir sehr unsicher. Was passieren wird – wir wissen es nicht."
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